Das ist ein Brief, den wir mit Bewegung und besonderem Interesse lesen, wenn wir daran denken, dass er durch den geliebten Apostel aus dem Kerker in Rom geschrieben wurde. Dies ist zweifellos der letzte Brief, den wir von ihm besitzen, denn «die Zeit meines Abscheidens ist gekommen», sagt er (2. Tim 4,6). Er hat «seinen Lauf vollendet» (2. Tim 4,7). Auf wen sind nun seine Gedanken gerichtet? Wem gelten seine letzten Empfehlungen? Einem jungen Mann, Timotheus. Und durch Timotheus richtet sich der Apostel an jeden von uns, auch an junge Leute. Lest diesen Brief immer und immer wieder, wie wenn sich Paulus an euch richtete. Gott selbst will durch seinen Diener zu euch reden.
Die Zeiten, in denen wir leben, gleichen in vielen Punkten denen des Apostels. Da gab es vergossene Tränen (2. Tim 1,4), mit dem Zeugnis verbundene Schmach (2. Tim 1,8-12), Seelen, die sich abwandten (2. Tim 1,15; 4,10) oder von der Wahrheit abirrten (2. Tim 2,18), Begierden, vor denen man fliehen musste (2. Tim 2,22), widerstreitende Widersacher (2. Tim 2. Tim 2,25), Heuchler, die nur eine Form der Gottseligkeit hatten (2. Tim 3,5), böse Menschen und Betrüger (2. Tim 3,13; 4,14), falsche Lehrer, die den Ohren derer schmeicheln, die die gesunde Lehre nicht ertragen (2. Tim 4,3). Sind das nicht Kennzeichen der Tage, in denen wir leben? Hören wir also auf die Unterweisungen des Paulus!
Timotheus war damals noch ein junger Mann und stand in Gefahr «einen Geist der Furchtsamkeit» zu haben (2. Tim 1,7) und sich entmutigen zu lassen inmitten eines solchen Zustandes der Dinge. Wird es ihm an Entschiedenheit, Liebe und Weisheit fehlen? Von Anfang seines Briefes an scheint ihm Paulus zu sagen, wie einst der Meister seinem Jünger: «Ich aber habe für dich gebetet, damit dein Glaube nicht aufhöre» (Lk 22,32). Hier sagt Paulus: «Ich danke Gott … wie unablässig ich deiner gedenke in meinen Gebeten Nacht und Tag» (2. Tim 1,3). Welche Ermunterung für Timotheus! Der grosse Apostel betete in seinem Gefängnis für ihn. Liebe junge Freunde, wie viele Gebete sind auch schon für euch zum Thron Gottes hinaufgestiegen und werden es noch tun: Verwandte und Freunde, die Versammlung, lassen flehentliche Gebete für euch zu Gott emporsteigen. Welche Ermunterung auch für euch!
Aber das ist noch nicht alles. Man hätte denken können, dass der Apostel, nachdem er ihm den Verfall, das Elend, wovon wir geredet haben, vorgestellt hatte, ihm nun gesagt hätte: Denke daran, es ist eine Zeit der Schwachheit, eine Zeit der kleinen Dinge. Nein! Die Schwachheiten sind wohl da, aber auch die Kraft Gottes, und diese Kraft ist es, die der Apostel vor Timotheus stellt. Es gibt Tränen, aber Paulus ist von Freude erfüllt (2. Tim 1,4), da ist eine Kette, aber keine Beschämung (2. Tim 1,16), er ist von Freunden verlassen, aber niemals vom Herrn (2. Tim 4,16.17). Dreimal erscheint unter der Feder dieses mit Ketten gebundenen Greises im ersten Kapitel das Wort: «Kraft» oder «Macht»! Es ist nötig, dass wir uns unseres Elends, unserer Schwachheit bewusst sind (wir reden leichter davon, als dass wir sie in unseren Herzen empfinden), aber zweifeln wir nie an der Kraft Gottes. Junger Mann, junge Frau, wenn Entmutigung über dich kommt (manchmal ist auch ein wenig Trägheit dabei), so suche dich nicht mit der Schwachheit unseres Zeugnisses zu entschuldigen. Denn siehe, die Kraft Gottes ist immer da: «Ich bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren» (2. Tim 1,12). Wir sind wie Timotheus berufen, gute Streiter Jesu Christi zu sein (2. Tim 2,3), Arbeiter, die sich nicht zu schämen haben (2. Tim 2,15).
Die Hilfsquelle ist also da, aber der Weg des Glaubens ist ein Weg der Übungen. Und die erste Ermahnung des Paulus an Timotheus ist die, sich von allem zu trennen, was nicht gottgemäss ist: sich nicht in die Beschäftigungen des Lebens verwickeln (2. Tim 2,4), nicht Wortstreit führen (2. Tim 2,14), «befleissige dich, dich selbst Gott als bewährt darzustellen» (2. Tim 2,15), «jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit» (2. Tim 2,19), «die törichten und ungereimten Streitfragen weise ab» (2. Tim 2,23). Das ist auch die erste Ermahnung für uns. In unserem kollektiven Wandel sollen wir sein wie «ein Volk, das abgesondert wohnt» (4. Mo 23,9), und auch in unserem persönlichen Wandel sollen wir uns durch eine heilige Absonderung für Gott kennzeichnen. Je grösser die Verunreinigung um uns her ist, je mehr die Verwirrung zunimmt, desto mehr vervielfacht der Feind seine Versuchungen, desto mehr haben wir nötig, wachsam zu sein, um in der Kraft Gottes diesen Charakter der Trennung vom Bösen zu tragen. Sagen wir nicht, dass dies für unsere Vorfahren leichter gewesen sei. Die unendliche Kraft Gottes ist da, immer dieselbe. Meinst du, dass es für jene jungen Hebräer leicht gewesen sei, in Babel treu zu sein? Ich denke nicht. Aber Daniel war es zu seiner Zeit, und er würde es ohne Zweifel auch in unseren Tagen gewesen sein.
Abgesondert für den Herrn, können wir in seinen Dienst eintreten und ein solch guter Streiter, ein solch bewährter Arbeiter sein. Dazu aber müssen wir jetzt seine Gedanken, seinen Willen erkennen, und sie sind uns in seinem Wort enthüllt, das «nützlich ist zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt.» (2. Tim 3,16.17). Daher beharrt der Apostel gegenüber seinem Jünger mit Kraft darauf, wie schon in seinem ersten Brief (1. Tim 4,13.15: «Halte an mit dem Vorlesen … bedenke dies sorgfältig; lebe darin»), dass er bleibe in dem, was er gelernt hat (2. Tim 3,14), also in der Erkenntnis der Heiligen Schriften. Bleiben in dem, was wir gelernt haben. Welch ein Programm! Diesen Vers: «Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast», habe ich kürzlich im Zimmer eines jungen Freundes, der studiert, gelesen. Das ist ein bescheidener und abhängiger Platz. Lasst uns nach «den Pfaden der Vorzeit» fragen und darauf wandeln (Jer 6,16)! Lasst uns auch nicht auf einem anderen Feld auflesen (Ruth 2,8), weil wir ja schon Kraft und Reichtum besitzen (Ruth 2,1). Wir wären in Gefahr, in unserem Kleid wilde Koloquinten herbeizubringen (2. Kön 4,39), verlockend anzuschauen, aber todbringend.
Wir wollen uns also inmitten der sich mehrenden Trümmer und der zunehmenden Schwachheit nicht in Trägheit und Oberflächlichkeit der Entmutigung hingeben. Die göttlichen Hilfsquellen sind ja da, immer dieselben, immer unendlich. Sein Arm ist nicht kürzer geworden. Das Wort und das Gebet sind immer noch die beiden Stützen, die uns für die ganze Zeit unseres Laufes hier auf der Erde gegeben sind. Trennen wir uns von allem, was Ihn verunehrt und lasst uns mit Herzensentschluss bei dem Herrn verharren (Apg 11,23).