Das Volk Israel versprach zu gehorchen; aber es war Gesetzesgehorsam (2. Mose 24). Daraufhin wurde Opferblut vergossen, das Mose sowohl an den Altar als auch auf das Volk sprengte. Dieses Blut redete nicht von Sühnung. Es war vielmehr die feierliche Bestätigung, dass Gott jeden Ungehorsam gegenüber den Forderungen des Gesetzes bestrafen würde.
Die Israeliten waren durch die Berufung des HERRN, des Gottes ihrer Väter, als Nation auserwählt worden. Unwissend über Gott und über sich selbst wagten sie es, sich auf dem Boden des Gesetzes vor Gott hinzustellen. Als Folge davon wurden sie durch die Verordnung der Beschneidung und anderer Vorschriften, also durch äussere Heiligung im Fleisch, von den Nationen abgesondert, um dem Gesetz zu gehorchen. Nun standen sie unter einer feierlichen und schrecklichen Todesdrohung, wovon das gesprengte Blut ein Bild war. Der Tod würde jeden Übertreter treffen.
Die Stellung des Christen ist eine ganz andere. Der Apostel Petrus stellt sie in seinem ersten Brief, Kapitel 1,2, der Stellung der Israeliten gegenüber: Als Kinder sind wir auserwählt «nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi».
Vom ersten Augenblick unserer Bekehrung an sind wir also durch die Kraft des Geistes für Gott geheiligt oder abgesondert. Diese lebendige Absonderung für Gott, hier «Heiligung des Geistes» genannt, ist der wirkliche, grundlegende Sinn dieses Ausdrucks.
Gewiss, es gibt auch eine praktische Heiligung, und in anderen Teilen der Schrift wird grosses Gewicht darauf gelegt. Aber wenn man den Gedanken der praktischen Heiligung in diesen Vers des Petrus-Briefes einführt, dann zerstört man das Evangelium der Gnade, unter welchem Vorwand und in welcher Absicht man es auch tun mag.
Um gut zu verstehen, was in 1. Petrus 1,2 unter Heiligung oder Geheiligtsein des Geistes zu verstehen ist, wollen wir uns einen Menschen vorstellen, der dem Wort Gottes bis dahin völlig gleichgültig gegenüberstand. Er hört es heute zum ersten Mal und nimmt Jesus in aller Einfachheit als die Gabe der Liebe Gottes in sein Herz auf. Er geniesst vielleicht nicht sogleich den Frieden mit Gott. Aber, wie dem auch sei, er ist zur Umkehr gekommen und wünscht aufrichtig, das Evangelium besser kennenzulernen. Hat der Geist Gottes in solcher Weise in diesem Menschen gewirkt, so ist er von allem, was er vorher war, für Gott abgesondert. Das ist es, was Petrus «Heiligung des Geistes» nennt; denn nun ist dieser Mensch «zum Gehorsam» geheiligt, das ist der erste Wunsch in seiner Seele, nachdem Gott in ihr gewirkt hat. Er mag noch so unwissend sein, so ist er in seinem Herzen doch entschlossen, dem Herrn zu gehorchen. Sein Wunsch ist auf Gott gerichtet. Er denkt nicht nur in gesetzlicher Weise daran, dem schrecklichen Gericht zu entrinnen, von dem er weiss, dass es das gerechte Teil derer ist, die Gott verwerfen. Die Wahrheit hat durch Gnade sein Gewissen berührt, und die Barmherzigkeit Gottes, so unvollkommen er sie erkennt, genügt, um sein Herz zum Gehorsam zu neigen.
Somit ist er also nun durch den Geist zum Gehorsam und zur Besprengung des Blutes Jesu Christi geheiligt. Er will gehorchen, weil er jetzt durch den Glauben an den Namen Jesu eine neue Natur besitzt und teilhaben will an der Gnade, in der Gott die Besprengung des Blutes Christi auf den Schuldigen vollzieht. Er will gehorchen wie Jesus, aber er steht nicht unter dem Druck einer auferlegten Verpflichtung wie ein Jude. Auch steht er nicht unter einer Blutbesprengung, die den Gesetzesübertreter mit dem Tod bedroht, sondern unter der Besprengung des Blutes Jesu Christi zur Vergebung seiner Sünden. Der Christ findet Gefallen am Gehorchen, und es ist ihm schon vergeben durch den Glauben an Jesus und durch sein Blut.
Das ist die Heiligung, von der Petrus redet: sie besteht von Anfang an, sobald im Menschen ein wirkliches inneres Werk beginnt, sogar bevor die Seele die Vergebung und den Frieden wirklich geniesst. Ausserdem wirkt dann aber auch die Kraft des Heiligen Geistes im Herzen und im Gewissen, um uns nach und nach durch die Wahrheit praktisch für den Herrn abzusondern. Das ist dann praktische Heiligung, die fortschreitend und daher relativ ist.
Es gibt also zwei ganz verschiedene Begriffe der Heiligung:
- Die eine ist absolut, gemäss dieser wird ein Mensch ein für alle Mal von der Welt für Gott abgesondert, damit er Ihm angehöre.
- Die andere ist relativ, weil sie praktisch ist und sich in der Laufbahn jedes Christen im Mass unterscheidet. Der Stein, den ich aus dem Steinbruch heraussprengen lasse, gehört mir, aber er muss noch behauen werden.
Auch in 1. Korinther 6,11 wird von Heiligung gesprochen: «Und solches sind einige von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden in dem Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.» Heiligung hat hier dem Wesen nach denselben Sinn wie in 1. Petrus 1,2 und hat ihren Platz vor der Rechtfertigung. «Gewaschen» steht im Zusammenhang mit dem Wasser des Wortes, angewandt auf den Menschen durch die Kraft des Geistes und bezieht sich mehr auf das Böse. «Geheiligt» hat mehr Bezug auf das Gute, das das Herz anzieht. «Gerechtfertigt» bezieht sich nicht auf den Augenblick, wo der Verlorene zu seinem Vater zurückkehrt, sondern auf das, was der Vater tut, wenn Er ihn mit dem besten Kleid bekleidet: Nun ist er nach 1. Korinther 6,11 nicht nur abgewaschen und geheiligt, sondern auch gerechtfertigt. Der Apostel sieht also in diesem Vers die Anwendung des ganzen Ergebnisses des Werkes Christi vor sich. Diese Anwendung findet nicht immer unmittelbar im Augenblick der Bekehrung statt. Sie könnte und sollte in einem Sinn sehr rasch darauf folgen, aber meist ist es gar nicht so, und vielleicht verstreicht immer eine mehr oder weniger lange Zeit, bevor die Seele im Frieden und glücklich ist. Christus hat immer etwas in der Seele zu tun zwischen dem Augenblick seiner Berührung, die die Krankheit aufhebt und dem Wort, das mit ebenso viel Autorität wie Liebe sagt: «Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; geh hin in Frieden» (Lk 8,43-48). Die Zwischenzeit, die zwischen der Rückkehr der Seele zu Gott und dem Augenblick verstreicht, wo sie den Frieden hat, ist, wie vielen von uns zum eigenen Leid bekannt ist, nicht immer so kurz.
Es scheint mir wichtig, an diese Dinge zu erinnern und die Stellung des Christen der des Juden gegenüberzustellen, weil dies von grosser praktischer und lehrhafter Bedeutung ist. Die Neigung einiger, darauf zu bestehen, dass das ganze Werk in der Seele in einem Augenblick geschehe, ist eine Reaktion auf den volkstümlichen Unglauben, der der irrigen Meinung ist, man könne sich den Frieden nur durch lange, unermüdliche Arbeit erwerben, deren Ausgang ungewiss sei. Aber hüten wir uns davor, in einen Irrtum zu verfallen, selbst wenn es der kleinste wäre, um einen grösseren zu verhüten; und es ist sicherlich ein Irrtum, wenn man meint, alle Wege Gottes gegenüber der Seele seien in einem einzigen Akt vereinigt.