Die Sanftmut und Milde des Christus

2. Korinther 10,1

Das Alte Testament gibt uns eine Reihe bemerkenswerter Beispiele, die die schöne Tugend der Sanftmut illustrieren. So wird uns Mose als «sehr sanftmütig, mehr als alle Menschen, die auf dem Erdboden waren», vorgestellt (4. Mo 12,3). Und doch sehen wir in der ganzen Schrift keinen Menschen so oft in Zorn ausbrechen, wie ihn: Jedes Mal, wenn die Rechte Gottes es erforderten, kam ein heiliger Zorn über ihn; handelte es sich dagegen um einen Angriff auf seine eigene Person, so wusste er zu schweigen und sich in den Hintergrund zu stellen.

David war in seinem Geschlecht der «Liebliche in Gesängen Israels». In wie vielen Begebenheiten in seinem Leben leuchten die Milde und die Sanftmut hervor, bisweilen unterstrichen durch die entgegengesetzte Haltung der Söhne der Zeruja, die «zu hart» für ihn waren! (2. Sam 3,39; 16,9.10 usw.).

Indessen hatten diese beiden Männer Gottes auch ihre Schattenseiten. Mose tötete einen Ägypter; später schlug er zweimal den Felsen, zu dem er hätte reden sollen. David musste auf seiner Strafexpedition gegen Nabal aufgehalten werden … Das unfehlbare Beispiel für uns ist einzig das, das Jesus uns hinterlassen hat, «der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet» (1. Pet 2,23).

In einer solchen Milde weiss der Gläubige zu schweigen und kann inmitten widriger Umstände ein Tauber und ein Stummer sein (Ps 38,13-16). Zwar ist in einem solchen Fall das Herz nicht stumm; doch übergibt sich der Geprüfte «dem, der gerecht richtet». «Denn auf dich, HERR, harre ich; du wirst antworten, Herr, mein Gott» (Ps 38,16). Er offenbart eine völlige Unterwerfung: «Ich bin verstummt, ich öffne meinen Mund nicht; denn du hast es getan» (Ps 39,10). So stand das Lamm Gottes vor seinen Richtern und vor seinen Peinigern.

Die Milde weiss auch zu reden. «Eine milde Antwort wendet den Grimm ab» (Spr 15,1). Als man Jesus schalt, indem man Ihn bezichtigte, die Dämonen durch den Obersten der Dämonen ausgetrieben zu haben, wie antwortete Er dann? Sehr gelassen, indem Er die Torheit einer solchen Behauptung bewies. Als die Juden Steine aufhoben, um Ihn zu steinigen, sagte Er ihnen: «Viele gute Werke habe ich euch von meinem Vater gezeigt; für welches Werk unter diesen steinigt ihr mich?» Und dann beschäftigte Er sich mit ihnen und lud sie ein, an Ihn zu glauben (Joh 10,31.32). Jenen Fragestellern, die wissen wollten, ob Er dem Kaiser die Steuer gebe oder nicht, antwortete Er: «Was versucht ihr mich?» Als der Verräter Judas sich mit der Schar der Häscher Jesu näherte, sagte der Herr: «Freund, wozu bist du gekommen?» Und als einer der Diener des Hohenpriesters Ihm ins Angesicht schlug, sprach Er: «Warum schlägst du mich?» Sein Ziel war immer, den Betreffenden zur Selbstprüfung zu bringen. Haben wir hier nicht jene Milde der Weisheit, die von Jakobus empfohlen wird und die auf das Reden und auf die Haltung jedes Kindes Gottes ihren Stempel aufdrücken sollte? (Jak 3,17).

Die Sanftmut weiss die zurechtzubringen, die von einem Fehltritt übereilt worden sind (Gal 6,1). Als Johannes der Täufer in einem Anflug der Entmutigung zwei seiner Jünger Christus, der ihm doch als der vom Himmel Gekommene bezeichnet worden war, fragen liess: «Bist du der Kommende», antwortete der Herr mit einem bewunderungswürdigen Feingefühl, indem Er ihm einen zarten aber ernsten Verweis gab (Mt 11,2-6). In der gleichen Zartheit suchte Er einem Pharisäer eine Lektion zu erteilen, und auch da waren seine Worte nicht verletzend. Er schickte seinem Vorwurf eine vertrauliche Bemerkung voran: «Simon, ich habe dir etwas zu sagen» (Lk 7,40). Als sich Petrus gegenüber den Einnehmern der Doppeldrachmen voreilig festgelegt hatte, begann Jesus seine Korrektur damit, dass Er ihn fragte: «Was meinst du, Simon?» (Mt 17,24-27).

Nie pochte der Herr auf seine Rechte; nie widerstand Er dem Ihm zugefügten Bösen. Er verwirklichte seine eigene Belehrung in Matthäus 5,39, wie auch jene Ermahnung in 2. Timotheus 2,24.25: «Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streiten, sondern gegen alle milde sein … duldsam, der in Sanftmut die Widersacher zurechtweist.» Jesus erwies sich so als der Diener, der durch die Propheten mit den Worten angekündigt wurde: «Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen gefunden hat … er wird nicht streiten, noch schreien … einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen» (Mt 12,18-20; Jes 42,1-4). Als zwei seiner Jünger auf ein Dorf der Samariter Feuer vom Himmel herabfallen lassen wollten, wandte er sich um und tadelte sie. Und als im Garten Gethsemane ein anderer Jünger in seinem Eifer den Knecht des Hohenpriesters schlug, erhielt er den Befehl, sein Schwert in die Scheide zu stecken, mit den Worten: «Meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte … ?» Und sogleich, in jenem feierlichen Augenblick, heilte Er das abgehauene Ohr.

Gewisse Personen sind sanftmütig veranlagt. Sie passen sich folgsam dem Willen anderer an und vermeiden es, Anstoss zu erregen. Aber in dem vollkommenen «Speisopfer» fehlte «das Salz» nie, während «der Honig» gerade dort keinen Platz hatte. Die Sanftmut und Milde des Christus waren mit der grössten Charakterfestigkeit verbunden; sie kannte keinen Kompromiss. Ein gerechter Zorn bemächtigte sich des Herrn, als Er sah, wie die Führer das Volk irreleiteten oder wie die Rechte Gottes mit Füssen getreten wurden. Er trieb die Taubenverkäufer aus dem Tempel hinaus und warf die Tische der Wechsler um. Aber, wie um zu unterstreichen, dass eine solche Handlungsweise nicht seine Gewohnheit war, heilte Er in diesem gleichen Tempel kurz nachher die Blinden und die Lahmen und rechtfertigte die kleinen Kinder (Mt 21,12-16).

So wie die Sanftmut für «den Knecht des Herrn» ein Erfordernis ist, so ist sie es auch für den Aufseher. Der Mensch Gottes wird aufgefordert, ihr nachzustreben (1. Tim 3,3; 6,11). Sie ist ein Bestandteil der Frucht des Geistes (Gal 5,22) und des Kleides, das die Auserwählten Gottes anzuziehen haben (Kol 3,12). Das Kleid ist das, was wir im Zeugnis eines Gläubigen äusserlich wahrnehmen. Unsere Sanftmut sollte von allen Menschen gesehen werden. Wir können sie übrigens nicht mehr lange ausüben, denn «der Herr ist nahe» (Phil 4,5). Bis dahin wollen wir von dem lernen, der «sanftmütig und von Herzen demütig» ist. Ja, «lernt von mir», ruft unser geliebter Herr uns zu (Mt 11,29).