«Die Türen waren verschlossen» (Joh 20,26). In diesem einfachen Satz ist mehr enthalten, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Er spricht davon, wie der Auferstandene am Tag der Auferstehung im fest verschlossenen Obersaal plötzlich in der Mitte der Jünger stand. Soweit ist es also der Bericht eines Wunders. Aber dieser Satz ist auch eine Andeutung auf eine grosse geistliche Wahrheit. Die anderen Evangelisten berichten nur, dass die Jünger im Obersaal versammelt waren, Johannes aber fügt die bedeutsame Bemerkung bei, dass «die Türen da, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren.» Derselbe göttliche Herr, der trotz des versiegelten Grabsteines aus der Gruft hervorkam, trat trotz der verschlossenen Türen in den Obersaal, denn kein materielles, irdisches Hindernis konnte die vollkommene Freiheit seines herrlichen Auferstehungslebens hindern; und sein Gruss brachte ihnen eine bisher ungekannte Freude.
Aber finden nicht auch alle seine gesegnetsten Besuche bei den Seelen in wahrem, tiefem Sinn nur dann statt, wenn die Türen geschlossen sind? Wir haben nötig, die Türen für unseren allerheiligsten Umgang mit Ihm zu schliessen. Er braucht geschlossene Türen für seine tröstlichen Botschaften, die Er uns überbringen will. Der «Ton eines sanften Säuselns» kann nur dann deutlich vernommen werden, wenn die laute Stimme der Welt ausgeschlossen ist und wir am verborgenen Ort seiner Herrlichkeit stehen (1. Kön 19,9-18). Legt der Herr nicht gerade durch diesen Bericht, womit Er eine Regel für den Umgang mit Ihm aufstellt, die Betonung auf Abgeschlossenheit und Zurückgezogenheit? «geh in deine Kammer, und nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater … der im Verborgenen sieht» (Mt 6,6). Hier sagt der Herr nicht nur, dass man nicht beten soll, um von den Menschen gesehen zu werden, sondern auch, dass beim Beten in der Seele keine Hast, keine Zerstreuung sein soll. Zum Beten muss ein stiller Ort und eine stille Zeit vorhanden sein, und vor allem ist dazu ein stilles Herz nötig.
Zweifellos kann es auch da sehr kostbare Augenblicke des Gebets geben, wo keine verborgene Kammer mit geschlossener Türe und auch keine äussere Ruhe vorhanden ist. Nehemia konnte sogar dann sein Herz im Gebet zu Gott emporheben und sogleich eine Antwort empfangen, als er als Mundschenk vor dem König stand und eine Unterhaltung mit ihm führen musste. Der fleissigste der Menschen, inmitten seiner Arbeit, die ihn ganz in Anspruch nimmt – die hart arbeitende Mutter mitten in ihrer lärmenden Kinderschar –, der Reisende im Gerüttel der Eisenbahn –, alle können ihre Blicke und Bitten emporrichten und emporsenden zum Thron der Gnade und den Trost einer unverzüglichen Antwort empfangen, die sie ruhiger, weiser und tapferer macht, als sie es zuvor waren. Wie stärkend solche Gebete sein können, die unterwegs getan werden, weiss nur, wer sie schon praktiziert hat.
Aber wenn wir die volle Freude des Umgangs mit Gott erleben möchten, müssen wir Ihm abseits vom Tageslärm einen bestimmten Platz einräumen, und dafür eine ruhige Zeit reservieren, auch wenn sie vom Morgenschlummer und von der Abendruhe gekürzt werden müsste oder von der Zeit, die wir für unwichtige Dinge verwenden.
Schliesse die Tür deiner Kammer hinter dir zu, sagte der Herr Jesus, als Er die Prahlerei der Pharisäer beim Beten verurteilte. Aber dieses Gebot des Herrn will uns noch mehr sagen. Es bedeutet vor allem: Schliesse die Tür deines Herzens, denn sie könnte für alle Ablenkungen und alle Unruhe der Erde offen stehen, selbst wenn die Zimmertüre geschlossen ist. Mancher Christ weiss aus eigener trauriger Erfahrung, dass dem so ist. Er wird nie so sehr von weltlichen Sorgen und wertlosen Gedanken bedrängt, als wenn er seine Knie im verborgenen Gebet beugt. Nicht nur die Sorgen, sondern auch die zahllosen Nichtigkeiten des Lebens kommen in Scharen daher, wenn wir allein mit Gott sein möchten. Schliesse daher deine Herzenstüre und halte die Welt draussen. Ein vom Wind bewegter See kann den Himmel nicht widerspiegeln. Wir haben nötig, alle weltlichen Dinge, die auf die Seele eindringen wollen, zurückzudrängen, wie einst Abraham zu seinen Knechten am Fuss des Berges Morija sagte: «Bleibt ihr hier mit dem Esel; ich aber und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten» (1. Mo 22,5).
Schliesse die Tür deines Herzens und halte den Unglauben draussen. Erlaube den geheimen Zweifeln nicht, dass deine Gebete wirkungslos werden. Gott antwortet nur dem vollkommenen Vertrauen.
Schliesse die Tür deines Herzens vor dem Formalismus. Mechanische Hingabe, bei der das Herz unbeteiligt ist, nützt niemandem etwas. Nur zu beten, um das Gewissen zu befriedigen, oder weil die vorgesetzte Zeit zum Gebet gekommen ist und wir diese Pflicht erledigen müssen, ist nicht nur ein Versuch, Gott zu täuschen, sondern auch ein grosser Selbstbetrug.
Schliesse deine Herzenstür vor der Unbußfertigkeit, denn das Herz könnte gerade die Sünde festhalten wollen, gegen die die Lippen beten. Nur das arglose und aufrichtige Gebet zählt vor Gott. «Wenn ich es in meinem Herzen auf Frevel abgesehen hätte, so hätte der Herr nicht gehört» (Ps 66,18).
Schliesse die Tür deines Herzens vor dem Eigenwillen. Gott zu bitten, unsere zuvor gefassten Beschlüsse oder unsere eigenen Wünsche gutzuheissen, wäre nicht ein Beten zu Gott, sondern ein Diktieren. Der Unterton jedes Gebets muss sein: «Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe» (Lk 22,42). Es mag scheinen, als ob dies die Basis des Gebets schmälerte und ihm die Kostbarkeit einer praktischen Hilfe im Leben nehmen müsste. Aber leiden wir wirklich Schaden, wenn uns Gott nur das gibt, was seiner Liebe und Weisheit entspricht? Können wir eine grössere Segnung als diese wünschen oder empfangen?
Wenn die Herzenstür gegen alle diese Ablenkungen und Störungen fest verschlossen ist, so wird die Gebetsgemeinschaft mit dem Herrn zu einer unserer innigsten Freuden werden. Dann werden wir immer wieder die Erfahrung des Auferstehungstages machen: «Da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und stand in der Mitte und sprach: Friede euch!» (Joh 20,26).