Die Gnade

Psalm 34,9

«Schmeckt und seht, dass der HERR gütig ist! Glückselig der Mann, der zu ihm Zuflucht nimmt!» (Ps 34,9).

Die Gnade begegnet allen Menschen auf ein und demselben Boden: Alle sind «unter der Sünde»; «alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes» (Röm 3,9.23). Die Gnade macht keinen Unterschied zwischen dem sittlichen Zustand der einzelnen und erzeigt sich nur denen, die sie nötig haben: «Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken; ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße», sagt der Herr (Lukas 5,31.32).

Diese Wahrheit kann der Mensch nicht ertragen. Er sucht immer zwischen seiner eigenen Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit in anderen Menschen einen Unterschied zu machen, um sich so vor den anderen ein gewisses Ansehen zu wahren. Die von Gott kommende Gerechtigkeit verachten und die vom Menschen kommende Gerechtigkeit verherrlichen – diese beiden Dinge gehen immer zusammen.

Anderseits denkt man oft, die Gnade veranlasse Gott, die Sünde zu übersehen. Ganz im Gegenteil. Die Gnade geht von der Voraussetzung aus, dass die Sünde vor Gott ein Gräuel ist und Er sie nicht dulden kann. Wenn der Mensch, der ungerecht und böse gewesen ist, es fertigbringen könnte, seine hinter ihm liegenden Wege gutzumachen und sich selbst so zu bessern, dass er vor Gott zu bestehen vermöchte, so bestände kein Bedürfnis nach Gnade. Die Tatsache selbst, dass Gott voller Gnade ist, lässt die Abscheulichkeit der Sünde und den hoffnungslos verdorbenen Zustand erkennen, in den der Mensch durch sie gefallen ist, und dass nur die Gnade, die reine und souveräne Gnade, seinen Bedürfnissen entsprechen kann.

Hierin besteht der Triumph der Gnade: Als der Mensch in seiner Feindschaft Jesus verwarf, hat Gott in seiner Liebe gerade aus dieser Tat das Heil hervorgehen lassen und die Sühnung der Sünden derer bewirkt, die nichts von Ihm wissen wollten, als Er in der Person seines Sohnes zu ihnen kam. Im Verbrechen der Kreuzigung, das die Sünde des Menschen zu ihrem Höchstmass brachte, erblickt der Glaube die vollständigste Offenbarung der Gnade Gottes. Wo könnte er das ganze Ausmass und die Schrecklichkeit der Sünde und die Feindschaft des Menschen gegen Gott besser erkennen? Aber gleichzeitig entdeckt er am Kreuz auch die ganze Grösse und die Fülle des Triumphs der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes gegenüber dem Menschen. Die Lanze des Soldaten, die die Seite des Leibes Jesu durchbohrte, liess nur das hervorkommen, was von Vergebung redet.

Wenn ich gegenüber der Liebe Gottes den geringsten Zweifel hege, so kenne ich die Gnade noch nicht völlig. Dann werde ich vielleicht sagen: Ich bin unglücklich, weil ich nicht bin, was ich sein möchte. Aber darum geht es ja gar nicht. Die eigentliche Frage ist diese: Ist Gottes Gnade reich genug? Entspricht sein Heil in Christus Jesus den Bedürfnissen unverbesserlicher und unwürdiger Sünder, um sie vor Gott in die Stellung von Gerechten zu bringen und ihnen einen Gott wohlgefälligen Wandel zu ermöglichen? Der Glaube hat nie das zum Gegenstand, was in unserem Herzen ist, sondern die Offenbarung Gottes in Gnade. Wenn wir auf halbem Weg stehen bleiben und nichts anderes sehen als nur das Gesetz, so wird es uns nur zeigen, dass wir von Natur unter dem Fluch und «ohne Kraft» sind. Wenn aber Gott erlaubt, dass dieses Bewusstsein so stark wird, dass wir unseren wirklichen Zustand erkennen, so wird uns gerade an diesem Punkt die Gnade begegnen. Nur in der Gegenwart Gottes können wir wirklich erfassen, wie gross, reich und vollkommen seine Gnade ist. Ausserhalb seiner Gegenwart können wir kein wahres Bewusstsein davon haben; wir haben dann keine Kraft, um sie zu ergreifen. Und wenn wir versuchen, sie getrennt von seiner Gegenwart zu erkennen, so werden wir sie nur in Ausschweifung verkehren.

Die Gnade hat weder Grenzen noch Schranken. Wer wir auch sein mögen – und wir können nicht schlechter sein als wir sind – Gott zeigt sich uns gegenüber als das, was Er ist, das heisst als Liebe. Weder unsere Freude noch unser Friede sind von dem abhängig, was wir Gott gegenüber sind, sondern von dem, was Er uns gegenüber ist, und Er ist Gnade. Die Gnade setzt die ganze Sünde und das ganze Böse voraus, das in uns ist; und sie ist die kostbare Offenbarung, dass durch Jesus all diese Sünden und all dieses Böse weggetan worden ist. Für Gott ist eine einzige Sünde schrecklicher, als tausend Sünden, ja die Sünden der ganzen Welt für uns sind. Und doch, im vollen Bewusstsein dessen, was wir sind, wissen wir auch, was Gott so gerne für uns sein wollte: die Liebe! Anderseits müssen wir uns daran erinnern, dass das Ziel und die Wirkung der Gnade notwendigerweise die ist, unsere Seelen in die Gemeinschaft mit Gott einzuführen und uns zu heiligen, indem sie uns dahin bringt, Gott zu erkennen und Ihn zu lieben. Daher sind die Erkenntnis und der Genuss der Gnade die wahre Quelle der Heiligung.

Ein Mensch mag die Sünde als eine todeswürdige Sache betrachten; er mag erkennen, dass keine Verunreinigung in die Gegenwart Gottes treten darf; sein Gewissen mag zu einer wahren Überzeugung der eigenen Sündhaftigkeit gelangt sein – aber das alles ist noch nicht ein Schmecken, «dass der Herr gütig ist!» Es ist wohl sehr gut und nötig, bis zu diesem Punkt zu gelangen, denn so wird man schmecken, dass der Herr gerecht ist; aber man darf nicht dabei stehen bleiben. Das Bewusstsein der Sündhaftigkeit ohne die Erkenntnis der Gnade würde mich zur Verzweiflung treiben; ich wüsste dann nur, dass Er mich, den Sünder, von sich stossen muss, weil Er gerecht ist.

Wir ersehen daraus, wie wichtig es ist, kennen zu lernen, was Gott uns gegenüber ist, nicht nach unseren eigenen Gedanken, sondern gemäss der Offenbarung seiner selbst: Er ist: «der Gott aller Gnade» (1. Pet 5,10). Habe ich verstanden, nicht nur, dass ich ein Sünder bin, sondern auch, dass der Herr in voller Kenntnis des ganzen Ausmasses und der Hässlichkeit meiner Sünde, bis zu mir gekommen ist, so erkenne ich von diesem Augenblick an, was Gnade ist. Durch den Glauben erfasse ich, dass Gott grösser ist als meine Sünde und nicht, dass meine Sünde grösser ist als Gott. «Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist» (Röm 5,8). Sobald ich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes ist, erkenne ich, dass Gott in Ihm zu mir gekommen ist, weil ich ein Sünder war und nicht zu Ihm gehen durfte. Das ist Gnade.

Gott blickt auf das zur Sühnung der Sünden vergossene Blut seines Sohnes und ist hinsichtlich seiner Gerechtigkeit vollkommen befriedigt; und wenn ich auch für mich selbst davon befriedigt bin, so wird Gott dadurch verherrlicht.

Aber der Herr, den ich als den erkannt habe, der für mich sein Leben hingab, ist derselbe, mit dem ich es nun alle Tage meines Lebens zu tun habe. Alle seine Wege mit mir kommen aus demselben Grundsatz der Gnade. Wünsche ich seine Liebe kennen zu lernen? Ich erkenne sie am Kreuz. Er hat sich für mich hingegeben, damit die ganze Fülle und die ganze Freude, die in Ihm sind, mir gehören Und das ist es, was ich immer besser erkennen soll. Wie ein neugeborenes Kind soll ich begierig sein nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, um dadurch zu wachsen (1. Pet 2,2). Das grosse Geheimnis des Wachstums besteht darin, auf den Herrn in der Fülle seiner Gnade zu blicken und zu schmecken, dass Er gütig ist.

Wie kostbar und stärkend ist der Gedanke, dass Jesus, gerade in dieser Stunde, mir gegenüber noch immer dieselbe Liebe empfindet und ausübt wie damals, als Er am Kreuz für mich starb! An diese Wahrheit sollten wir uns in allen Umständen unseres täglichen Lebens immer wieder erinnern.

Nimm zum Beispiel an, ich hätte einen schlechten Charakter und wisse nicht, wie ich ihn überwinden könne; – wenn ich damit vor Jesus hintrete, wie vor meinen Freund, so wird von Ihm eine Kraft ausgehen, um meinen Bedürfnissen zu entsprechen. So sollten wir es im Glauben immer machen, wenn die Versuchung an uns herantritt, und sie nicht durch eigene Anstrengungen zu überwinden suchen, denn diese sind ja immer ungenügend. Aber der natürliche Mensch in uns wird nie zugeben, dass Christus die alleinige Quelle unserer Kraft und unserer Segnung sei.

Wenn ich zum Beispiel die Gemeinschaft mit Jesus verloren habe, so wird der natürliche Mensch sagen: Ich muss das, was dazu geführt hat, in Ordnung bringen, bevor ich zu Ihm gehen kann. Aber «der Herr ist gütig», und wenn ich dies geschmeckt habe, so werde ich unverzüglich zu Ihm zurückkehren, unbedingt so, wie ich bin, und mich tief vor Ihm demütigen. Nur in Ihm finde ich das, was meine Seele und die Gemeinschaft mit Ihm wiederherstellt. Die Demütigung in seiner Gegenwart ist die einzig wahre Demütigung. Wenn wir uns in seiner Gegenwart so erkennen wie wir sind, wird Er uns nur Gnade erzeigen.

Gibt es in deinem Geist noch irgendeinen Mangel an Vertrauen, noch irgendwelche Furcht? Prüfe dich, ob dies nicht seinen Grund darin hat, dass du immer noch sagst: «Ich, ich», und du die Gnade Gottes aus dem Blickfeld verloren hast. Es ist viel besser, an das zu denken, was Gott ist, als an das zu denken, was wir sind. In dieser Weise auf sich selbst zu blicken, ist im Grund nichts anderes als Hochmut. Es mangelt uns dann immer noch am Bewusstsein, dass wir absolut nichts wert sind. Solange wir dies noch nicht erkannt haben, werden wir unsere Augen nie ganz von uns selbst weg auf Gott lenken. Dann und wann vielleicht mag die Betrachtung des Bösen in uns erneut zeigen, wie gross es ist; aber das ist nicht alles. Unser Vorrecht ist es, auf Christus zu blicken und uns dabei zu vergessen. Die wahre Demut besteht nicht so sehr darin, eine schlechte Meinung von uns zu haben, als vielmehr darin, überhaupt nicht an uns zu denken. Ich bin zu schlecht, als dass es sich lohnte, an mich zu denken. Was ich nötig habe, ist vielmehr, mich selbst zu vergessen und auf Gott zu blicken, der in der Tat allein aller meiner Gedanken würdig ist.

Müssen wir im Blick auf uns selbst gedemütigt werden? Auf diesem Weg werden wir es lernen, wir können dessen völlig überzeugt sein. Wenn wir sagen können: «Ich weiss, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt», so haben wir genug an uns gedacht. Denken wir jetzt viel mehr an den, der uns gegenüber «Gedanken des Friedens und nicht zum Unglück» hatte, lange bevor wir an uns selbst denken konnten. Betrachten wir seine Gedanken der Gnade gegen uns und bewahren wir in unserem Herzen diese Worte des Glaubens: «Wenn Gott für uns ist, wer ist gegen uns?» (Röm 8,31).