«Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler. Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter» (Hld 2,1.2).
Wer ist es, der sich mit solchen Worten beschreibt: «Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler»? Ist es Christus, der Bräutigam? Viele haben in der Lilie der Täler ein Vorbild von Ihm gesucht. Doch offenbart dies nur, wie oberflächlich wir oft die Heilige Schrift lesen und nicht genügend auf den Zusammenhang achten. Nein, es ist die Braut, die dies von sich sagt, die Braut, die das dereinst wiederhergestellte Israel darstellt. Sinngemäss darf man dieses Bild aber auch auf die Versammlung, die himmlische Braut des Herrn anwenden. Aber, so mag jemand einwenden, ist es denn nicht Hochmut, wenn die Erlösten in dieser Weise von sich selbst reden?
O nein, es ist die freie Gnade Gottes in Christus Jesus, die uns in eine solche Stellung erhoben hat! Es geht hier nicht um die Frage, was wir von Natur sind – wir waren alles andere als eine Narzisse oder Lilie, auch nicht um unsere Verdienste – wir haben nichts anderes verdient, als hinausgeworfen zu werden in die äusserste Finsternis. Es handelt sich vielmehr um Gott selbst und die Grösse seiner Gnade, die für uns und in uns gewirkt hat.
Sage, ist es Anmassung, in kindlichem Glauben anzunehmen, was uns Gott in Christus Jesus, in freier, souveräner Gnade geschenkt hat? Ist nicht vielmehr das Hochmut, dem, was Er entsprechend seinem eigenen Herzen gewirkt hat, durch die eigenen Anstrengungen etwas hinzufügen zu wollen? Aber den Platz anerkennen und wertschätzen, den der Gläubige aufgrund des ein für alle Mal geschehenen Opfers des Leibes Jesu Christi (Heb 10,10) nun im Herzen seines Herrn und Erlösers einnimmt, ist keineswegs Anmassung oder Eigendünkel. Es ist vielmehr der höchste Ausdruck dankerfüllter Glückseligkeit einer in der Gemeinschaft mit ihrem Herrn geübten und erfahrenen Seele, wenn die Braut in Hohelied 7,11 ausruft: «Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen» (vgl. dazu Hld 2,16; 6,3). Ja, auch wir dürfen anbetend ausrufen: «Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler.»
Im nächsten Vers antwortet Christus: «Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter.» Diese Antwort des Bräutigams zeigt uns ohne allen Zweifel, mit wem diese Blume verglichen wird: Seine Geliebte ist es, die, inmitten der Sünder, für Ihn wie eine Lilie inmitten der Dornen ist. Gibt es einen grösseren Unterschied als den zwischen einer duftenden, weissen Lilie und struppigen Dornen? Dornen sind ein unmissverständliches Bild des Fluches Gottes als Antwort auf den Ungehorsam des ersten Menschen (1. Mo 3,17.18). Wir alle waren unter diesem Fluch. Aber Christus hat uns, die an Ihn Glaubenden, «losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist» (Gal 3,13). Und «so wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden» (Röm 5,19). Oh, anbetungswürdige Gnade, die aus armen, verdammungswürdigen Sündern, die dem Dornstrauch glichen, duftende Lilien machte!
Die Lilien wachsen auf dem Feld unter dem Sonnenschein des Himmels; sie trinken den erfrischenden Tau, der von oben herabkommt; und, indem sie so mit allem versorgt sind, erfüllen sie ihre Umgebung mit süssem Duft. Wie steht es nun mit dir und mit mir? Sind wir dort, wo uns der Herr hingestellt hat, ein Wohlgeruch seiner Gnade?
Wie wir uns soeben daran erinnerten, sind es die Kinder dieser Welt, die der himmlische Bräutigam «Dornen» nennt. Die Tatsache, dass sie hier auf der Erde die Braut umgeben, führt zu Umständen, die von den Erlösten in einem weiteren Sinne auch als «Dornen» empfunden werden.
Da sagst du vielleicht: Diese Umstände, in denen ich leben muss, sind es, die mich so sehr üben und hindern, für den Herrn ein Wohlgeruch zu sein. Aber das ist es gerade, was wir hier finden: «Eine Lilie inmitten der Dornen». Christus lässt seine Lilie inmitten scharfer Dornen. Ist dies der geeignete Platz, die passende Umgebung für solch eine zarte Blume? Gewiss, Er möchte, dass wir gerade inmitten der Umstände, in die Er uns hineingestellt hat, seinen Wohlgeruch verbreiten, seine Tugenden verkündigen. Zu diesem Zweck hat Er uns «aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht» berufen (1. Pet 2,9). Aber der glückselige Augenblick ist nahe, wo Er kommen wird, um seine Lilie der Täler zu pflücken und sie aus der Welt, diesem Schauplatz der Sünde, in dem sie von Dornen umgeben ist, heimzunehmen.
Lasst uns daher das Haupt zu Ihm emporheben, zu dem, der uns erkauft hat, dem wir nun angehören und der «unter den Lilien weidet» (Hld 2,16)! Denken wir daran, dass Er auf seine Lilie herabschaut, um sich an ihrer zarten Schönheit, die im krassen Gegensatz zu den sie umgebenden Dornen steht, zu erfreuen und zu erquicken! Es ist jetzt unser Vorrecht, «inmitten der Dornen» Ihn dadurch zu ehren, dass wir ein Wohlgeruch und eine Empfehlung für seinen Namen sind.
Doch das können wir nicht aus uns selbst. Dazu ist nötig, dass wir in Christus bleiben und Ihn – nicht die Dornen – anschauen. Dann kann Er uns inmitten übender Umstände Gelassenheit des Geistes schenken. Ein bewährter Diener des Herrn hat einmal gesagt: «Ein starker Beweis für mein Bleiben in Christus ist Gelassenheit. Ich habe mein Teil anderswo, und ich ziehe weiter. – Komme was da wolle, wir bringen Gelassenheit des Geistes in alle Umstände hinein, solange wir in Ihm bleiben. Die Seele ist nicht nur für sich selbst glücklich in Gott, sondern sie wird den Charakter dieses Platzes auch nach aussen hin zum Ausdruck bringen.»
Lasst uns auch auf der Hut sein, dass uns die Dornen, die der Herr in Matthäus 13 als Bild für die Sorgen dieses Lebens und für den Betrug des Reichtums gebraucht, nicht überwuchern; dass durch lauter Besorgtsein um die Dinge dieses Zeitlaufs und durch das Trachten nach Ansehen, Ehre, Reichtum und Vorwärtskommen in dieser Welt, die Wirkungen der Gnade Gottes in uns nicht erstickt werden; «denn nach all diesem trachten die Nationen» (Mt 6,32).
Man sagt, dass die «Ebene von Saron» – ein Küstenstreifen, der sich südlich vom Karmel bis etwa nach Joppe erstreckt – zur Frühlingszeit von Millionen Blumen übersät ist. Doch kurze Zeit darauf schiessen Gras und dorniges Gestrüpp so hoch, dass nur noch die prächtige, weisse Lilie hervorragt. Oh, möchten wir mehr dieser «Lilie inmitten der Dornen» gleichen, damit unser Zeugnis für Christus durch die uns ständig umgebenden Einflüsse dieser Welt nicht beeinträchtigt oder gar erstickt werde!
Möchten wir allezeit bedenken, dass unsere Berufung und Stellung in Christus ganz und gar himmlisch ist, und «dass selbst nicht Salomo in all seiner (irdischen) Herrlichkeit bekleidet war wie eine von diesen» Lilien des Feldes (Mt 6,29). Welch ein Kleid, welch ein glückseliges Teil besitzen wir durch die Gnade Gottes doch schon heute!
Bald wird auch jener herrliche, glückselige Tag kommen, an dem Er sich verherrlichen wird in seinen Heiligen, «um bewundert zu werden in allen denen, die geglaubt haben» (2. Thes 1,10) – jener Tag, an dem der Braut des Lammes gegeben wird, «dass sie sich kleide in feine Leinwand, glänzend und rein; denn die feine Leinwand sind die Gerechtigkeiten der Heiligen» (Off 19,8). Dann wird zum ewigen Lob Gottes und des Lammes an uns geschaut werden, was wir durch seine Gnade während der Zeit seiner Verachtung und Verwerfung hier für Ihn waren – als «Lilie inmitten der Dornen».