Das Buch der Klagelieder beschreibt die geistliche Erfahrung des Propheten beim Betrachten der schrecklichen Leiden und der Zerstörung, die – entsprechend seinen Weissagungen – über sein geliebtes Volk, über den Tempel, über die Stadt und über das Land gekommen sind. Seine Schmerzensausbrüche bringen nicht nur die persönlichen Gefühle seines von Mitleid erfüllten Herzens zum Ausdruck, sondern auch jene, die aus seiner Einsmachung mit der Nation als solcher, sowohl mit Ephraim als auch mit Juda, hervorkamen.
Das Buch hat, wie die Bücher der Psalmen, sein eigenes Gepräge; es ist durch göttliche Eingebung in Abschnitte eingeteilt. Jedes der fünf Kapitel ist ein selbständiges Gedicht oder Klagelied.
Die Strophen oder Verse jedes Kapitels haben eine besondere Anordnung, die jedoch nur aus dem Urtext und nicht aus den Übersetzungen zu erkennen ist: Die Anfangsbuchstaben der verschiedenen Verse folgen der Ordnung des hebräischen Alphabets.
In den fünf Kapiteln zeigen sich einige auffallende Abweichungen vom allgemeinen Schema:
- Die ersten zwei Kapitel enthalten je 22 Verse, deren Anfänge im Urtext mit der Reihenfolge der 22 hebräischen Buchstaben übereinstimmen; jeder Vers hat drei Teile.
- Im dritten Kapitel jedoch haben von den 66 Versen je drei aufeinanderfolgende, also die Verse 1-3, 4-6 usw., denselben Anfangsbuchstaben, aber jede Gruppe steht in der Reihe des ganzen hebräischen Alphabets.
- Im 4. Kapitel hat jeder der 22 Verse wieder einen besonderen Anfangsbuchstaben, gemäss dem Alphabet, aber die Verse haben dort nur zwei, nicht drei Teile wie in den ersten zwei Kapiteln.
- Kapitel 5 hat auch wieder 22 Verse, aber die strenge alphabetische Anordnung ist hier durchbrochen.
Es gibt in diesem Buch noch eine oder zwei Abweichungen vom Schema, auf die wir aber in dieser kurzen Skizze nicht eintreten können.
Die Klagelieder waren zweifellos für den priesterlichen oder sogar für den Gemeindegebrauch der Juden bestimmt, und die alphabetische Reihenfolge war beim öffentlichen Vortragen der Klagegesänge eine Gedächtnisstütze. Diese Anordnung mag also eine besondere geistliche Bedeutung haben und zum wahren Verständnis der göttlichen Absicht in dem Buch behilflich sein. In der kommenden «Zeit der Drangsal für Jakob» wird der gläubige Überrest in seinen Schmerzen und Leiden, durch die er zu gehen haben wird, darin seinen tiefsten Ausdruck finden. Durch diese fünf Klagegesänge werden die Sünden, die Ursache der Trübsal des Volkes Gottes, mit grösster Aufrichtigkeit bekannt. Der Geist Christi, der später über die schuldige Stadt Jerusalem weint, bringt schon hier in grosser Vielfalt die Schmerzen und Leiden derer zum Ausdruck, die Gott liebt und nicht für immer verwirft, auch wenn Er sie züchtigen muss.
Jeder der fünf Klagegesänge hat ein besonderes Thema, auch wenn der Inhalt eines jeden nicht mit einigen wenigen Worten beschrieben werden kann.
- Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Elend der Tochter Zion unter der Wut des Feindes. Die volkreiche Stadt Jerusalem sitzt öde und einsam da. Weil sie schwer gesündigt hat, brachte der HERR sie am Tag seines grossen Zornes in Trübsal.
- Im zweiten Kapitel ist der HERR zum Feind seines Volkes geworden; es weint und ist voller Schmerzen. Der HERR hat seinen Altar verworfen und sein Heiligtum verschmäht. Wegen ihrer Sünden ist sein Zorn gegen das Volk entbrannt. Der HERR hat erlaubt, dass die Nationen sie bedrücken, sie zerstreuen und über ihr Elend spotten. Sie rufen den HERRN an, ihren jammervollen Zustand wahrzunehmen und gnädig auf sie herabzuschauen.
- Im dritten Kapitel sind Vertrauen und Hoffnung auf die Erbarmungen des HERRN mit bitteren Klagen vermischt. Der Prophet gibt als der Mann, der Elend gesehen hat, seinen eigenen Gefühlen Ausdruck; er ist die Verkörperung des Überrests und spricht in dessen Namen. Er fleht zu dem HERRN, Er möge auf die Feinde Zions blicken und sie für die grausame Bedrückung seines Volkes richten.
- Das vierte Kapitel fasst die Feinde des Volkes zusammen, enthält aber auch ein Bekenntnis der Sünden, besonders der Priester und Propheten. Der Becher des Gerichts wird zu den stolzen Edomitern kommen wegen ihren Gottlosigkeiten, während die Strafe Zions zu ihrem Ende gelangt; der HERR wird sie nie mehr in die Gefangenschaft führen.
- Das fünfte Kapitel ist ein ergreifendes Gebet zu dem HERRN: Er möge die Leiden des Berges Zions betrachten, der verwüstet liegt, so dass Füchse auf ihm umherstreifen. Der HERR wird um Gunst und Befreiung angerufen: «Bring uns zu dir zurück, dass wir umkehren; erneuere unsere Tage wie vor alters!»