Wir finden in der Schrift verschiedene Zeitepochen der Kindheit oder des Anfangs, die wir «Morgen» nennen könnten.
Die Schöpfung war ein solcher Morgen. Sie war der Tag der Geburt der Werke Gottes, der Morgen oder der Anfang der Zeit. Und weil in jenen Augenblicken die Grundfesten der Erde gelegt und der Eckstein eingesenkt wurde, «jubelten die Morgensterne miteinander und jauchzten alle Söhne Gottes» (Hiob 38,6.7).
Der Auszug aus Ägypten, der in 2. Mose beschrieben wird, war ein anderer Morgen. Das war der Anfang Israels als Nation, sozusagen ihre erste Kindheit. «Als Israel jung war, da liebte ich es, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen» (Hos 11,1), sagt der HERR durch den Propheten. Das war ein neuer Anfang für das Jahr, wie wenn es eben erst geboren wäre. Der Monat des Auszugs wurde «der Anfang der Monate … der erste von den Monaten des Jahres» (2. Mo 12,1.2). Das Lied Moses und der Versammlung der Kinder Israels auf dem jenseitigen Ufer des Roten Meeres war eine Feier des aus dem Tod hervorgekommenen Lebens, des Morgens der Auferstehung (2. Mose 15).
Bei der Geburt des Herrn sehen wir einen neuen Morgen aufgehen. Dieses Ereignis strahlte über der Welt wie ein Sonnenaufgang. Eine lange und traurige Nacht war vorausgegangen. Israel war fremden Nationen unterworfen und in den Staub gebeugt. Es gab keine Zeichen und Wunder mehr. Vier Jahrhunderte waren verflossen, seitdem sich die Stimme des letzten Propheten hatte hören lassen. Die Urim und Tummim oder das Ephod des Priesters vermittelten keine Aussprüche oder Antworten Gottes mehr. Die Herrlichkeit des HERRN hatte den Tempel verlassen. Die Stadt des Friedens unterschied sich in nichts mehr von den anderen Städten, diese Stadt, die die bevorzugte Wohnung Gottes auf der Erde gewesen war. Ausnahmsweise nur erschien noch hin und wieder ein Engel, um die Wasser des Teiches Bethesda zu bewegen.
Aber die Geburt des Herrn Jesus, vergleichbar dem Licht des Morgens, weckte die Schöpfung und verkündigte, dass die lange und dunkle Nacht nun endlich dem strahlenden Glanz eines neuen Morgens Platz gemacht habe. Der Himmel freute sich, so wie die Söhne Gottes einst bei der Schöpfung gejauchzt hatten. Die Engel, früher so wohlvertraute Erscheinungen in Israel, zeigten sich wieder. Die Gnade, die bei der Kindheit der Welt, in den Tagen der Patriarchen gewirkt hatte, entfaltete sich von neuem. Die Abraham und David gegebenen Verheissungen, die die Wiedergeburt des Volkes und des Reiches voraussagten, wurden angeführt und in Erinnerung gerufen.
Alle diese Dinge traten bei Anlass dieses grossen Ereignisses in Erscheinung, in dieser frischen Morgenstunde, die nun im Verlauf der Wege Gottes angebrochen war. Und das in Bethlehem geborene Kind wurde vom Seher Gottes als «der Aufgang aus der Höhe», als Sonnenaufgang, als der Morgen eines neuen Tages begrüsst (siehe Lukas 1 und 2).
Mit der Auferstehung des Herrn tagte ein anderer dieser Morgen. Er erschien nach der dunkelsten der Nächte, die diese Schöpfung je eingehüllt haben. Welch ein Licht! Er war das Unterpfand, der Vorläufer des ewigen Tages. Die Schatten des Todes hatten sich in diesen strahlenden Morgen verwandelt.
Der bevorstehende Anbruch des tausendjährigen Reiches ist ein neuer Morgen der Zukunft. Es wird ein heller Tag nach einer dunkeln Nacht sein, der Tag Christi nach der Nacht der Sünde und des Todes, die Welt des Christus nach der Welt des Menschen. David, der «Liebliche in Gesängen Israels», hat, als er durch den Geist das kommende Reich betrachtete, es so ausgedrückt: «Ein Herrscher unter den Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottesfurcht; und er wird sein wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne Wolken: Von ihrem Glanz nach dem Regen sprosst das Grün aus der Erde» (2. Sam 23,3.4).
Die Erscheinung des neuen Himmels und der neuen Erde wird sodann wiederum ein Morgen sein. Sie ist die zweite Geburt der Schöpfung. «Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde», sagt der Prophet; «denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr» (Off 21,1). Die Gerechtigkeit wird darin wohnen (2. Pet 3,13), und in jenem Schauplatz wird Gott «alles in allem» sein (1. Kor 15,28).
Wie wohltuend für die Seele, diese verschiedenen Morgen zu betrachten, die sich nacheinander erheben! Sie entsprechen den aufeinanderfolgenden Zeitaltern, von denen die Schrift redet.
Aber ach! Die Sache hat noch eine andere Seite. Der Mensch hat diese Morgen Gottes immer wieder in Schatten des Todes verwandelt. Die Erde, einst so schön und so voller Segnungen aus den Händen Gottes hervorgegangen, wurde durch die Sünde des Menschen bald eine mit Dornen und Disteln bewachsene Wüste. Das Erdreich, das in der Morgenstunde der Schöpfung Zeuge der Befriedigung Gottes gewesen war, als Er seine Werke betrachtete, kam unter den Fluch!
Israel, das am Ufer des Roten Meeres den Gesang des Triumphes und der Auferstehung angestimmt hatte, geriet wegen seiner Untreue in die Gefangenschaft Babylons; das Land der Herrlichkeit wurde verwüstet und öde gelassen, unter den Füssen seiner unbeschnittenen Bedrücker zertreten!
Die Sonne, die am Morgen Bethlehems über der Welt aufgegangen war, um ihr Licht und für Israel der Anbruch eines neuen Tages zu sein, sank in die Nacht Golgathas, denn der sündige Mensch hatte sie verworfen.
Derselbe kostbare Heiland und Erretter, der als der Lebende aus den Toten durch seine Auferstehung ein zweites Mal als Sonne über der Welt und über Israel aufgegangen war, um Licht und Leben für die Ewigkeit mit sich zu bringen, sieht nun die dunkeln Schatten des Abends der Christenheit wachsen, die bald in die finstere Nacht der apokalyptischen Gerichte übergehen werden.
Das Reich, das wie das Licht eines Morgens ohne Wolken hervortreten wird, endet mit dem grossen Abfall Gogs und Magogs, mit dem Gericht des Todes und des Hades und aller derer, die nicht im Buch des Lebens geschrieben sind, nachdem Himmel und Erde vor dem Angesicht dessen, der auf dem grossen weissen Thron sitzt, entflohen sein werden.
Aber Gott wird den Morgen der neuen Himmel und der neuen Erde in seiner ersten Frische und Schönheit auf immerdar aufrecht halten. In der Geschichte dieser neuen Schöpfung wird es keinen Abendschatten des Verderbens und der Auflehnung des Menschen geben, keine Nacht des Gerichts. Jener «Tag Gottes» wird als «Tag der Ewigkeit» immerdar bestehen bleiben und seine Sonne wird nie untergehen!
Welche Schau zieht da an unseren Blicken vorüber! Der selige Gott, der die Grundfesten seiner Werke erstellt hat und wieder erstellen wird, der jedes Mal einen neuen Morgen hervorkommen liess, wenn der Mensch den vorangegangenen Morgen in einen Schatten des Todes verwandelt hatte – dieser Gott kann nicht im Finsteren wohnen. Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Darum, obwohl der Mensch sich Ihm nicht anschliessen konnte, um das Licht aufrecht zu halten, sondern im Gegenteil den ganzen Schauplatz immer wieder in die Finsternis stürzte, wird Er selbst für seine eigene Herrlichkeit besorgt sein und seine eigene Freude sichern. Er, der am Anfang aus dem Schoss der Finsternis zum Morgengrauen der ersten Schöpfung Licht leuchten hiess, wird den Morgen der zweiten Schöpfung in seiner ewigen Schönheit bewahren.