Kehren wir uns nicht jedes Mal mit Abscheu von dem ersten Brudermörder ab, wenn wir diese rohen Worte lesen, die er in schamloser Weise Gott ins Angesicht zu schleudern wagte? Welch eine Bosheit und welch ein Hass offenbaren sich in diesen Worten, welche Gleichgültigkeit und Verhärtung! Wir fragen uns, wie es doch möglich gewesen sei, auf die ernste, aber freundliche Frage Gottes: «Wo ist dein Bruder Abel?» eine solche Antwort zu geben. Oh, Kain, wie bist du doch tief, fürchterlich tief gesunken! Spricht bei dir das Gewissen nicht mehr? Ist gar kein Fünkchen Gefühl in dir übrig geblieben? Kain geht von Gott weg, und die Welt ist für ihn ein Land der Unrast geworden. Aber er sucht gleichwohl Sicherheit und Ruhe darin zu finden und will dennoch nach all dem jagen, was sein Auge begehrt. Er sucht aus dem Leben zu machen, was noch daraus zu machen ist, wenn schon die Erde das Blut des gerechten Abel getrunken hat. Ist er denn seines Bruders Hüter?
Oh, Kain! Wie bist du doch hart und gefühllos! Wir schaudern beim Gedanken an deine Worte. Ja, Kain, das tun wir, und wir wenden uns radikal von dir ab. Nichts wollen wir mit dir und einem solchen Geist zu tun haben. Nichts, aber auch gar nichts!
So meinen wir es und so sagen wir es. Und, nachdem wir eine Weile bei der in 1. Mose 4 erzählten Begebenheit stillgestanden sind, gehen wir wieder mit würdigen Schritten und frommen Mienen unseren Weg durch die Mitte der Tausende, die uns umgeben. Sie gehen an uns und wir an ihnen vorbei, als ob die Frage uns nichts anginge: Wo ist dein Bruder?
Da stellt sich zunächst die Frage: Wer ist eigentlich mein Bruder?
Du wirst antworten: Mein frommer Mitpilger, mit dem ich von Herzen meine Psalmen und geistlichen Lieder singe. Sicher, wir kennen unsere Brüder in Christus und schätzen die Gemeinschaft mit ihnen als einen köstlichen Segen von oben.
Aber die Frage: Wer ist mein Bruder? hat noch eine weitere Bedeutung. Entstammen wir nicht alle demselben Elternpaar? Hat nicht Gott uns Menschen alle erschaffen? Mein, dein Bruder wohnt in der vornehmen Villa und in der Hütte der Armen. Wir finden ihn im reichen Viertel der Kapitalisten wie auch in den muffigen Spelunken der Elendsviertel. Wir begegnen ihm überall, auf unseren Strassen und Wegen, in den Krankenhäusern, in den Gefängniszellen und in den Lagern der Flüchtlinge.
Wo ist dein Bruder?
Siehst du dich nach ihm um, oder sagst du: Ich weiss es nicht? Oder gehst du noch weiter und sagst – wenn auch nicht mit rohen Worten, so doch mit deinem Verhalten: Bin ich meines Bruders Hüter? Bodelschwingh, der Gründer der bekannten Anstalten in Bielefeld, nannte den Bettler auf dem Weg: Mein Bruder von der Strasse.
Wie gehen wir an den Hilfsbedürftigen vorbei, wie begegnen wir dem Hausierer an unserer Tür?
Wie gross ist doch unsere Verantwortung! Christus hat uns nicht erlöst und in die Mitte der Millionen Geschöpfe gestellt, damit wir, zufrieden mit der Gewissheit, in den Himmel zu kommen, aus dem Leben hier auf der Erde noch machen, was daraus zu machen ist, in aller Christlichkeit, Ehre und Tugend natürlich, aber doch ohne nach den vielen Verlorenen zu fragen, die uns umgeben.
Wo ist dein Bruder? Hier, und dort und überall. Und wir, was müssen wir tun?