Hingebung

Wir leben in einer Zeit geistlicher Armut und Schwachheit, und uns, die wir «eine kleine Kraft» haben, steht es wohl an, unsere Augen niederzuschlagen. Jemand hat gesagt: «Wenn ich in mich hineinschaue, sehe ich Elend, blicke ich um mich herum, sehe ich Verwirrung, blicke ich aber empor, schaue ich nur Licht und Schönheit.» Es ist daher nichts anderes als unnützer Zeitverlust, auf die Seite zu blicken, aus der nur Enttäuschung und Entmutigung über uns kommen.

Da wird aber jemand sagen: Das ist wohl eine schöne Theorie, aber haben wir denn keine Verantwortung gegenüber den Dingen um uns her? Haben wir nicht die Pflicht, uns damit zu beschäftigen?

Gewiss, wir haben Aufgaben, aber wir werden ihnen besser gerecht, wenn wir «auf das sinnen, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist» (Kol 3,2), das heisst, wenn wir uns mit Christus beschäftigen, da, wo Er ist. Das ist das einzige Mittel für uns, um in den Besitz dessen zu gelangen, was uns durch nichts verfinstert oder geraubt werden kann. Hat unser Herz dies gefunden, werden die Aufgaben und die Pflichten in Übereinstimmung mit den Gedanken und den Absichten Christi erfüllt, was für den Treuen von erster Wichtigkeit ist.

Der Mensch, der Christus als den vor Augen hat, dem er gefallen und dessen Interessen er allein berücksichtigen soll, dieser Mensch ist es, der am besten in der Abhängigkeit Christi, entsprechend seiner Absicht und seinen Gedanken handeln wird. Wer dies aber nach seinen eigenen Gedanken und seinem eigenen Urteil tun will, der muss zuvor in der Nähe und in der Vertrautheit mit dem Herrn lernen, was Christi Gedanken und Wünsche sind, um dann entschieden durch die Schwierigkeiten und durch die Gefahren hindurchzugehen mit dem Ziel, seinen Willen auszuführen. Damit es mir daran liegt, den Wunsch einer Person auszuführen, ist es nötig, dass diese Person selbst zuvor der Gegenstand meiner Zuneigungen ist. Ich werde mir nicht die Mühe nehmen, die Wünsche einer Person kennenzulernen, die ich nicht besonders schätze, dagegen werde ich sie gern für jemanden ausführen, den ich wertschätze und liebe, besonders wenn es sich um den handelt, der in meinem Herzen jeden anderen Gegenstand ersetzt und übertrifft. Das ist es, was die Hingebung ausmacht. Das Herz und die Gedanken des Menschen, der wirklich hingegeben ist, sind vom Gegenstand seiner Zuneigungen so völlig in Anspruch genommen, dass jedes selbstsüchtige Interesse in ihm erlischt.

Maria Magdalene

Betrachte zum Beispiel Maria Magdalene in Johannes 20. Um was anders beunruhigt sie sich als um Christus allein? Um nichts. Früh am Morgen, als es noch dunkel war, geht sie an den einzigen Ort auf der Erde, der jetzt noch von Interesse ist für sie – zum Grab Jesu. Und wie untröstlich zeigt sie sich gegenüber Petrus und Johannes, weil sie Ihn nicht gefunden hat. «Sie haben den Herrn aus der Gruft genommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben», sagt sie. Welch ein Gegensatz zwischen der Handlungsweise der beiden Jünger und ihrem Verhalten! Beiden genügt es, sich von der Genauigkeit ihres Berichtes zu überzeugen, und dann kehren sie in den Kreis ihrer Interessen auf der Erde zurück: «Da gingen die Jünger wieder heim.» Maria handelt nicht so, sie geht nicht heim! Ohne Ihn hat sie kein Zuhause, nichts. Sie ist von Herzen treu, wenn auch sehr unwissend und zwar in solchen Dingen, in denen sie es nicht hätte sein dürfen, dabei aber ist sie voller Hingebung. Beachte, wie sie sich an die leere Gruft klammert! Ist sie hier nicht wie jene Ruth, die gesagt hat: «Wo du stirbst, will ich sterben, und dort will ich begraben werden»? Noch mehr als das: Sie ist untröstlich ohne Ihn und weint bitterlich, so gebrechlich und schwach sie auch ist, so ist ihre Liebe doch so gross, dass sie meint, sie könne Ihn wegtragen, wenn sie nur wüsste, wo Er wäre. Er, Er allein! Das ist die Summe aller ihrer Gedanken, sie denkt weder an Schwierigkeiten noch an die Hindernisse. Die Vorsicht rechnet immer, die Hingebung rechnet nie! Noch mehr, und das ist es, was wahre Hingebung in auffallender Weise kennzeichnet: Sobald sie Ihn findet und sieht, ist die Liebe, in der Maria ohne Ihn untröstlich war, bereit, das zu tun, was Er wünscht, ja sogar auf seine Gegenwart zu verzichten (Verse 16-18). Das ist ein schönes Beispiel, das uns die beiden typischen Wesenszüge eines sich hingebenden Herzens zeigt: Erstens hat es einen Gegenstand, den es über alles stellt, und zweitens sind ihm das Begehren, die Wünsche dieser Person ebenso wichtig.

Johannes der Täufer

Betrachten wir noch ein anderes Beispiel: Ist nicht auch Johannes der Täufer ein Mensch, der seinem Gegenstand völlig hingegeben ist (Joh 1)? «Dieser kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeugte.» Was war er denn in sich selbst? Nicht das, was heute viele sein möchten: etwas Grosses um Christi willen. Johannes der Täufer wusste: ich bin nichts. Was ist schon die Stimme eines Rufenden in der Wüste? Jerusalem und ganz Judäa und die ganze Umgebung des Jordan war zu ihm hinausgegangen, aber er selbst hatte einen Anziehungspunkt gefunden, der ihn von allem anderen löste und aus ihm inmitten der Menge einen einsamen Fremdling machte. Seine Seele betrachtete diesen teuren Heiland mit einer solchen Wonne und Befriedigung, dass er sagte, hinblickend auf Jesus, der da wandelte: «Siehe, das Lamm Gottes!»

Aber so bewunderungswürdig dies alles an seinem Platz auch ist, so war es nicht hier, wo sich die Hingebung Johannes des Täufers auf die auffallendste Weise zeigte. Anlässlich einer Streitfrage, die unter seinen Jüngern mit einem Juden über die Reinigung entstand (Joh 3,25-36), beschrieb er noch deutlicher, was sein Herz beherrschte. Er war nur eine Stimme, aber er war auch der Freund des Bräutigams. Die Stimme des Bräutigams wollte er hören, diese Stimme war es, die sein Herz hoch erfreute. Der gesegnete Bräutigam war nicht nur über allem, sondern der Vater hat Ihm, den Er liebt, auch alles übergeben. Vor Ihm verschwindet die eigene Person, und die «Stimme» des Rufenden verkündet laut seine Erhabenheit über alles. «Er muss wachsen, ich aber abnehmen.»

Die Königin von Scheba

Johannes erinnert mich hier an die Königin von Scheba. Beim Hören der Kunde vom Ruf Salomos, die bis in ihr Land gedrungen war, fasste sie aus eigenem Antrieb den Entschluss, zu kommen, um zu sehen, ob es sich so verhielte. So vortrefflich auch der Ruf war, der diesen Wunsch und diese Energie in ihrem Herzen geweckt hatte, so war er doch nichts im Vergleich zur Wirklichkeit, die sie nun wahrnahm: Als sie die Weisheit Salomos sah, das Haus, das er gebaut hatte, und die Speisen seines Tisches und das Sitzen seiner Knechte und das Aufwarten seiner Diener und ihre Kleidung und seine Mundschenken, und seinen Aufgang, auf dem er in das Haus des HERRN hinaufging – da geriet sie ausser sich, denn die Pracht, die sie sah, liess alles andere vor ihren Blicken erbleichen (1. Kön 10).

So tief auch der Eindruck war, den die Herrlichkeit Salomos auf die Königin aus dem Orient machte, so war doch die Herrlichkeit, die sich dem Auge des Johannes hier darbot, von einer viel höheren Ordnung. Er steht hier sozusagen, wie später die Jünger, auf dem Berg der Verklärung, und sieht niemand «als nur Jesus allein». Dieser einzigartige Anziehungspunkt seines Herzens löst ihn von allem anderen, was ihn umgibt, und in den Worten: «Er muss wachsen, ich aber abnehmen», hören wir das Echo der Worte des alten Simeon, der in seiner Freude ausrief: «Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht, nach deinem Wort, in Frieden, denn meine Augen haben dein Heil gesehen» (Lk 2,29.30).

Jesus Christus

Bis dahin haben wir die Macht betrachtet, die ein Gegenstand auf ein Herz ausübt, wenn er dieses ganz erfüllt und es ausschliesslich damit beschäftigt ist. Wir konnten dies an Beispielen wahrnehmen, die zwar bemerkenswert und auffallend sind, jedoch nur einen schwachen Begriff der Wirklichkeit geben können von dem, was Christus als Gegenstand ist. Mit welcher Kraft wird der treue Herr, der jetzt in der Herrlichkeit ist, mein Herz beschäftigen, wenn ich von dem tiefen Bewusstsein durchdrungen bin, dass Er sich hier auf der Erde so völlig für mich hingegeben hat! Lasst uns daher einen Augenblick bei seiner Hingabe stehen bleiben!

Er hat es gelitten, dass das Leichentuch des Todes, das mich umhüllte, um Ihn gelegt wurde. In seinem Tod endete der erste Band meiner Lebensgeschichte und in Ihm, der aus den Toten auferstanden und in die Herrlichkeit erhöht worden ist, begann der zweite Band. Wie übersteigen doch die Grösse und die Herrlichkeit seines Werkes alle unsere Begriffe! Er, der Glückselige, der im Schoss des Vaters ist, kam auf die Erde herab, um die Geheimnisse des göttlichen Herzens zu offenbaren. Er wurde der Befreier in der Stunde unserer äussersten Not, als wir keine Hoffnung mehr hatten, an dem schrecklichen Tag, als wir auch für uns selbst völlig unerträglich geworden waren, indem wir jeden Respekt vor uns selbst verloren hatten, weil wir das Gute nicht vollbringen konnten und die finsteren Kleider der Verzweiflung uns umhüllten. So, wie Jona in der Tiefe des Meeres, umfingen uns die Wasser bis an die Seele, die Tiefe umschloss uns, das Meergras schlang sich um unser Haupt. Wir fuhren hinab zu den Gründen der Berge, der Erde Riegel waren hinter uns auf ewig, unsere Nacht hatte begonnen, und wir waren in die Finsternis des Todes gekommen.

Das war unser Zustand, als Jesus Christus auf dem Schauplatz erschien. Er, das vollkommene, fleckenlose Lamm Gottes, in die Welt geboren, die Er erschaffen hatte, verworfen von dem Platz, der Ihm inmitten seiner Schöpfung und inmitten der Seinen (Israel) zustand, verherrlichte seinen Vater da, wo Er durch uns Menschen verunehrt und verachtet worden war. Schliesslich erduldete Er das Gericht, das auf allen lastete, Er befriedigte die Anforderungen der Gerechtigkeit Gottes, die Er offenbarte, indem Er sein Leben, das seiner persönlichen Vortrefflichkeit entsprach, zum Opfer gab, und in seinem Tod die Geschichte des Menschen, der gegen Gott gesündigt hatte, für immer abschloss. Er ist durch die Herrlichkeit des Vaters aus den Toten auferweckt worden. Als Auferstandener in der Herrlichkeit ist Er das Haupt einer neuen Schöpfung geworden, und durch den herabgesandten Heiligen Geist sind die Gläubigen jetzt als Antwort auf die Herrlichkeit seiner Person und seines Werkes da mit Ihm vereinigt, wo Er jetzt ist.

Das Kennzeichen eines hingegebenen Herzens ist dies, dass es mit den Wünschen seines Anziehungspunktes vertraut ist, und alles daransetzt, um sie zu erfüllen. Wenn Christus der Mittelpunkt meiner Zuneigungen ist, so suche ich seine Gedanken und seine Wünsche zu erkennen und werde mich – entsprechend dem Mass meiner Erkenntnis – durch kein Hindernis aufhalten lassen, um sie auszuführen.

Das ist ein wichtiger Punkt, dem wir in unserer gegenwärtigen Zeit alle Beachtung schenken sollten. Handeln nicht Tausende von Gläubigen so, als ob Christus nie einen Wunsch und nie einen Gedanken zum Ausdruck gebracht hätte, den wir beachten sollten? Macht man sie, von denen man Besseres erwarten könnte, darauf aufmerksam, so fragen sie herausfordernd, ob denn dafür ein Gebot bestehe. Dies zeigt an, um wenig zu sagen, dass das Herz weit von Christus entfernt ist und dass ein völliger Mangel an einem hingebenden Dienst und einer Vertrautheit mit Ihm besteht, die sich nicht darauf beschränken, auf ein Gebot zum Handeln zu warten, sondern eifrig seinen Gedanken suchen, und sich beeilen, seine Wünsche um jeden Preis zu erfüllen. Wir wollen damit nicht sagen, dass es im Neuen Testament keine Vorschriften gebe, aber wir möchten diesen elenden Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen des Herzens Christi aufzeigen, der das Fehlen eines Gebotes zum Anlass nimmt, um Ihm nicht zu dienen.

Die drei Helden

Ein Ereignis aus der Geschichte Davids mag für das, was ich sagen möchte, als Beispiel dienen: David war in der Höhle Adullam verworfen und verkannt, obwohl er der Überwinder Goliaths und der Befreier Israels war. Wenige Menschen nur hatten so viel Zuneigung zu ihm, dass sie ihr Geschick mit dem des David verbinden wollten, und dies in einem Augenblick, der nach menschlicher Überlegung so finster wie nur möglich war. Was konnten sie sich davon versprechen? Nichts. Aber da, wo er war, wollten auch sie sein. «Und drei von den dreissig Häuptern gingen hinab und kamen zur Erntezeit zu David in die Höhle Adullam» (2. Sam 23,13-17). David ist der, an den sie denken, zu dem sie sich hingezogen fühlen und bei dem sie sein möchten. Sie geben alles auf, ausgenommen das, was sie mit ihm verbindet. Um bald Teilhaber an seinem Triumph und seinen Ehren zu sein, wollen sie jetzt seine Schmach und seine Schande teilen. Was sie diese ertragen lässt, ist die Freude ihrer Herzen, bei ihm zu sein, und während um ihn her alles dunkel ist, wollen sie seine Gefährten sein.

Sie verbringen die Stunden ihrer Wache damit, die Wünsche seines Herzens zu erfüllen. Sie sind in der Lage, sie zu erkennen. Wären sie nicht in der Höhle bei David gewesen, hätten sie seinen Wunsch nach Wasser aus der Zisterne Bethlehems nie erkannt und sie wären nie in die Höhle Adullam gekommen, wenn David nicht den ersten Platz in ihren Zuneigungen eingenommen hätte. Beachte auch, wie sie alles daransetzen, um den Wünschen Davids zu entsprechen. Sie sind unerschrocken inmitten der Gefahren und der Schwierigkeiten des Weges, ihre Hingabe an David hilft ihnen, alle Schwierigkeiten zu überwinden, sie lassen sich in der Ausführung seiner Wünsche durch nichts aufhalten. Wir lesen: «Da brachen die drei Helden durch das Lager der Philister und schöpften Wasser aus der Zisterne in Bethlehem, die am Tor ist, und trugen und brachten es zu David.» Sie rechnen nicht und zögern nicht. Als sie den Wunsch Davids erkannten, hatten sie nur noch das Ziel, ihn zu erfüllen. Sie hätten Einwände machen und sagen können: «Wozu dieser unnütze Aufwand?» Aber sie dachten nicht daran; den Wunsch Davids zu erfüllen, war ihr einziger Gedanke.

Und wir?

Die Anwendung dieser ganzen Szene auf unsere Tage ist naheliegend, und doch, wenn man um sich her blickt und sich fragt: «Wo sieht man eine solche Hingebung?» wird man beschämt. Denn viele, wenn nicht die Mehrzahl der Gläubigen, sind nur Philanthropen, Wohltäter an den Menschen, sie kennen die Wünsche Christi nicht und suchen sie auch nicht zu erfassen. Sie befinden sich nicht da, wo sie sie erkennen könnten, sie denken an den Menschen und an sein Wohlbefinden, nicht an Christus und seine Herrlichkeit. Man erwidert: «Kannst du denn diese Interessen voneinander trennen?» Gewiss nicht. Wenn ich das suche, was Christus zukommt, dann habe ich beides am Herzen. Nach den Gedanken Gottes ist der, der sich aufrichtig und treu Christus hingibt, auch der, der am meisten gebraucht wird, um den Menschen zu helfen, und einem solchen wird es am besten gelingen.

Wahre Hingebung besteht darin, Christus als den Anziehungspunkt zu kennen, der alle anderen auslöscht und ersetzt. Wenn Er allein mein Herz befriedigt, teile ich den Kreis seiner Interessen. Wo Er ist, soll auch sein Diener sein, und wenn ich da bin, wo Er ist – das heisst nahe genug bei Ihm, um seine Gedanken und Wünsche zu erkennen – werde ich mich beeifern, sie zu erfüllen, ungeachtet der Schwierigkeiten, Gefahren und Hindernisse, so, wie die Helden Davids furchtlos durch das Lager der Philister brachen, um einen Wunsch ihres Anführers zu erfüllen.

Wer hingegeben ist, wird durch eine Liebe vorangetrieben, die ihn auf dem Weg über alles erhebt und ihm selbst durch eine in Schlachtordnung aufgestellte feindliche Truppe einen Durchgang bahnt. Gott gebe uns, den Seinen, in diesen letzten Tagen seinen geliebten Sohn, unseren Herrn und Heiland Jesus Christus, in einem solchen Mass zu erkennen und zu lieben, dass uns eine ganze Hingabe an Ihn kennzeichnet!