«Wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten … Für den Armen und für den Fremden sollst du sie lassen» (3. Mo 19,9-10).
Wachsen in der Gnade
Wenn die Geschichte Ruths in ihrem Anfang (Kapitel 1) die rettende Gnade vorbildet, so stellt uns Kapitel 2 die erhaltende Gnade dar. Die Gnade Gottes bringt uns nicht nur das Heil, sondern lehrt uns danach auch, in dieser gegenwärtigen Welt besonnen, gerecht und gottselig zu leben. In dem Mass, wie wir unter die Belehrung der Gnade kommen, machen wir geistliche Fortschritte. Dieses Wachsen in der Gnade oder dieser geistliche Fortschritt ist in diesem Kapitel so schön dargestellt.
Es ist für einen Neubekehrten wirklich gesegnet, einen guten Anfang zu machen, indem er entschieden mit der Welt bricht und bereit ist, den Weg des Glaubens in Gemeinschaft mit dem Volk Gottes zu gehen. Ein guter Anfang genügt jedoch nicht. Um auf dem Weg des Glaubens aufrechterhalten zu bleiben, müssen wir in der Gnade wachsen. Der Apostel Petrus sagt, wenn Christen sich der «Gnade und des Friedens» im Überfluss erfreuen sollen, wenn sie alle Dinge geniessen wollen, die zum Leben und zur Gottseligkeit gehören, und wenn sie «dem Verderben, das in der Welt ist durch die Begierde», entfliehen möchten, so kann dies nur durch die Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn, geschehen (2. Pet 1,24). Deshalb schliesst er seinen zweiten Brief mit der Ermahnung: «Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus» (2. Pet 3,18).
Obwohl die Korinther gut angefangen hatten, waren sie sehr träge, geistliche Fortschritte zu machen. Sie wurden durch Weltlichkeit und die Weisheit dieser Welt behindert. Die Galater fingen auch gut an, denn der Apostel sagt: «Ihr lieft gut», doch muss er fragen: «Wer hat euch aufgehalten, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht?» (Gal 5,7). Das Hindernis war Gesetzlichkeit, indem sie unter den Einfluss falscher Lehrer gekommen waren. So scheinen auch heute viele gut anzufangen und geben zur Hoffnung Anlass, entschiedene Christen zu werden. Aber leider machen sie in ihrem späteren Leben wenig Fortschritte. Sie wachsen nicht in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Sie fallen der Anziehungskraft der Welt zum Opfer und werden weltlich, oder sie kommen unter den Einfluss falscher Lehrer und werden gesetzlich.
Ähren auflesen – das Geheimnis des Wachstums
Dieser Teil der Geschichte Ruths will uns das Geheimnis des Wachsens in der Gnade enthüllen. Ruth wird uns hier offensichtlich als eine Ährenleserin vorgestellt. Im zweiten Vers sagt sie zu Noomi: «Lass mich doch aufs Feld gehen und unter den Ähren lesen.» In Vers 17 steht: «Und sie las auf dem Feld auf», und im letzten Vers: «So hielt sie sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen.»
Was ist nun die geistliche Bedeutung des Ährenlesens? Das erste Kapitel des Buches Ruth endet mit der Mitteilung: «Sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte.» Noomi und Ruth befanden sich inmitten von Überfluss. Doch wie reichlich auch die Ernte sein mag, wir können unseren Hunger nicht davon stillen, es sei denn, dass wir einsammeln. Die Schnitter und die Ährenleser müssen ihre Arbeit tun, sonst werden sie trotz allem Überfluss vor Hunger umkommen. Durch das Ährenlesen sorgte Ruth für ihre und Noomis Bedürfnisse, wobei ihr der Herr der Ernte seine reichen Vorräte zur Verfügung stellte.
Wir dürfen daher wohl sagen, dass sich der Gläubige durch geistliches Ährenlesen geistliche Segnungen aneignet, auf die Gott ihm ein Anrecht gegeben hat. In der Geschichte Israels gab Gott diesem Volk einen absoluten Anspruch auf das Land, dessen Grenzen mit grosser Genauigkeit festgesetzt waren. Dessen ungeachtet sagte Gott: «Jeden Ort, auf den eure Fusssohle treten wird, euch habe ich ihn gegeben.» Sie mussten das Land in Besitz nehmen. So konnte auch Paulus mit der grössten Zuversicht sagen, dass der Gläubige mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus gesegnet sei. Dies hindert ihn aber nicht, zu beten, dass durch den Geist ein besonderes Werk in dem inneren Menschen geschehe, damit die Heiligen völlig zu erfassen vermögen, welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe all dieser geistlichen Segnungen sei.
Es war ein wunderbarer Tag in unserem Leben, als der Herr uns zu sich rief und wir lernten, dass unsere Sünden vergeben seien und wir, durch den Heiligen Geist versiegelt, Teilhaber am Erbe der Heiligen in dem Licht geworden seien. Aber obwohl es im Passendsein für die Herrlichkeit kein Wachstum geben kann, sucht der Apostel doch ein Wachstum in der wahren Erkenntnis Gottes (Kol 1,10). Und doch, welch armselige Ährenleser sind wir gewesen! Wie wenig sind wir in die unerschöpflichen Reichtümer Christi eingedrungen!
Voraussetzungen für geistliches Ähren lesen
Wie kommt es nun, dass wir so armselige Ährenleser sind? Rührt es nicht daher, dass diese Arbeit einen Zustand voraussetzt, dem wir nicht immer entsprechen wollen? Das wird uns klar, wenn wir die Eigenschaften beachten, die Ruth zu einer so ausgezeichneten Ährenleserin machten.
Erstens war sie durch einen Geist der Demut und Unterordnung gekennzeichnet. Sie sagte zu Noomi: «Lass mich doch … gehen und … Ähren lesen», und später sagte sie zu dem Knecht: «Lass mich doch auflesen.» Sie handelte nicht unabhängig von anderen, die älter und erfahrener als sie waren. Sie verschmähte nicht Führung und Rat, sie litt nicht unter einem ungebrochenen Eigenwillen, der sie das zu tun antrieb, was in ihren Augen recht war. Petrus sagt: «Ebenso ihr Jüngeren, ordnet euch den Älteren unter. Alle aber seid gegeneinander mit Demut fest umhüllt; denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade» (1. Pet 5,5). Unterordnung und Demut sind durch den Geist Gottes miteinander verbunden. Der Hochmütige liebt es nicht, sich irgend jemand zu unterwerfen. Der Eigenwille ist das grösste Hindernis, um in der Gnade zu wachsen.
Zweitens war Ruth durch Fleiss gekennzeichnet. In Vers 7 lesen wir: «So ist sie gekommen und dageblieben vom Morgen an bis jetzt; was sie im Haus gesessen hat, ist wenig.» Ferner heisst es im 17. Vers: «Und sie las auf dem Feld auf bis zum Abend.» Besteht da bei manchen Gläubigen nicht ein grosser Mangel an Fleiss in den Belangen Gottes? Wir sind in den Dingen dieser Welt eifrig genug, aber für den Herrn haben wir leider oft nur nebenbei Zeit. Sind wir fleissig im Lesen des Wortes? Sind wir eifrig im Gebet? Wir mögen zu unserer Entschuldigung anführen, dass die Hektik und die Schwierigkeiten des Lebens uns nur wenig Zeit dazu lassen. Doch die Frage ist: Wie bringen wir die knappe Zeit, die uns bleibt, zu? in Hebräer 6,11 werden wir ermahnt, Fleiss zu beweisen, und dann wird hinzugefügt: «damit ihr nicht träge werdet, sondern Nachahmer derer, die durch Glauben und Ausharren die Verheissungen erben». Wenn wir wünschen, in den Genuss unseres Erbes einzugehen, müssen wir fleissig sein. Kein Wunder, dass wir so wenig geistliche Fortschritte machen, wenn wir Zeit finden, die Tageszeitung sowie Unterhaltungsliteratur dieser Welt zu lesen, aber keine Zeit haben, auf den reichen Feldern des Wortes Gottes Ähren aufzulesen!
Drittens hatte Ruth Ausdauer. Sie war nicht an einem Tag fleissig und am nächsten träge, sondern «sie hielt sich zu den Mägden des Boas, um aufzulesen, bis die Gerstenernte und die Weizenernte beendigt waren». Tag für Tag las sie Ähren auf, bis zum Ende der Gersten- und Weizenernte. Die Beröer werden uns nicht allein deshalb empfohlen, weil sie die Schriften untersuchten, sondern weil sie dies täglich taten (Apg 17,11). Es ist leicht, einen Tag lang fleissig zu sein, dies aber Tag für Tag zu sein, erfordert Ausharren. «Täglich» ist ein hartes Wort, das uns auf die Probe stellt. Der Herr sagte zu seinen Jüngern: «Wenn jemand mir nachkommen will, der … nehme täglich sein Kreuz auf» (Lk 9,23). Ab und zu eine grosse Anstrengung unternehmen, um ein heldenhaftes Opfer zu bringen, ist verhältnismässig leicht, aber Tag für Tag in Ruhe Christus nachfolgen, ist eine Prüfung. Nicht der Mann, der gut anfängt, gewinnt den Lauf, sondern der, der ausharrt.
Schliesslich lesen wir, dass Ruth auch «ausschlug, was sie aufgelesen hatte» (V. 17). Es genügt nicht, die Gersten- und die Weizenähren aufzulesen, sie müssen auch ausgeschlagen werden. Die Wahrheit, die wir einsammeln, sei es durch unser persönliches Forschen oder durch den Dienst anderer, muss das Thema des Gebets und des Nachdenkens werden, wenn sie unser geistliches Wachstum fördern soll. Das blosse Erwerben der Wahrheit bläht nur auf. Sie muss in Gemeinschaft mit dem Herrn genossen werden, wenn sie zur weiteren Erkenntnis des Herrn führen soll.
Um also geistliche Fortschritte zu machen, ist ein Seelenzustand nötig, der durch Unterordnung, Fleiss, Ausharren und Nachdenken gekennzeichnet ist.
Obwohl der persönliche Zustand der Seele von grösster Wichtigkeit ist, so ist dies doch nicht alles. Da ist auch die Hilfe, die wir von anderen empfangen, um das geistliche Wachstum zu fördern. Wir sehen dies deutlich in den verschiedenen Personen, die uns in diesem Kapitel begegnen. Noomi, die Mägde, die Schnitter, der Knecht, der über die Schnitter gesetzt ist, und endlich der mächtige und reiche Boas; sie alle ziehen an uns vorüber, und alle sind in Verbindung mit Ruth zu betrachten. In mancherlei Weise helfen sie ihr, Ähren aufzulesen. Sie zeigen uns die verschiedenen Mittel, die Christus in Tätigkeit setzt, um bei seinem geliebten Volk das geistliche Wachstum zu fördern.
Hilfe von aussen
a) Noomi
Noomi war schon seit langem mit Boas verwandt und war daher imstande, Ruth zu beraten und ihr Anweisungen zu geben. So gibt es auch heute solche, die schon lange mit Christus verbunden auf dem Glaubensweg sind. Und obwohl sie vielleicht, wie Noomi, versagt haben, sind sie doch durch ihre Erfahrung in der Lage, die jüngeren Gläubigen zu belehren und zu beraten. Noomi stellt kaum eine zum Lehren oder Predigen begabte Person dar, sondern eher eine ältere Gläubige, die, wie wir in Titus 2 lesen, anderen ein Vorbild sind, «Lehrerinnen des Guten» und imstande, die jungen Frauen in Liebe zu unterweisen.
Im Geist dieser Verse legt Noomi keine Schwierigkeiten oder Hindernisse auf Ruths Weg; sie sagt sogleich: «Geh hin, meine Tochter.» Sie ermuntert Ruth zu dieser gesegneten Arbeit, und als diese von ihrem Tagewerk zurückkehrt, anerkennt sie wohlwollend ihren Erfolg, denn wir lesen: «Sie sah, was sie aufgelesen hatte» (V. 18). Ferner fragte sie: «Wo hast du heute aufgelesen, und wo hast du gearbeitet?» (V. 19). Zuletzt erklärt sie Ruth ihr Verhältnis zu Boas und gibt ihr liebevollen Rat für ihr weiteres Auflesen (V. 20,22).
Wie gut wäre es, wenn ein wenig mehr von dem Geist Noomis wirksam wäre, der die älteren Gläubigen antreiben würde, sich um die jüngeren zu kümmern, sie zu ermutigen, von ihrem Wachstum Kenntnis zu nehmen, nach ihrem geistlichen Wohlergehen zu fragen, sie in der Erkenntnis von Christus zu unterweisen und ihnen Rat zu geben, wie sie einsammeln sollten.
b) Die Mägde
Auch die Mägde helfen bei dieser gesegneten Arbeit des Ährenlesens. Sie werden in den Versen 8,22 und 23 erwähnt und sind die Gefährtinnen, mit denen Ruth einsammelt. Sprechen sie nicht im Bild von der kostbaren Gemeinschaft innerhalb des Volkes Gottes, die in so reichem Mass hilft, geistliche Fortschritte zu machen?
Boas warnt Ruth: «Geh nicht, um auf einem anderen Feld aufzulesen, und geh auch nicht von hier weg, sondern halte dich hier zu meinen Mägden.» Es gibt andere Felder und andere Mägde, aber diese sind dem Boas fremd. Ob jung oder alt auf dem Weg des Glaubens, wir tun gut daran, die Warnung des Boas zu beachten. Die Welt enthält viele anziehende Felder und kann manchmal sehr angenehme Gesellschaft anbieten; aber die Felder der Welt und ihre eitle Gesellschaft sind nicht von Christus.
In den Tagen der Apostel hatte die Welt nur ein Gefängnis für sie übrig, und nachdem sie die Freiheit wieder erlangt hatten, kehrten die Jünger «zu den Ihren» zurück (Apg 4,23). Zwangsläufig haben wir es mit Menschen dieser Welt zu tun, sei es im Beruf oder sonst im Alltagsleben, aber in diesen Kreisen können wir uns nicht der kostbaren Gemeinschaft erfreuen und geistliche Fortschritte machen. Das kann nur bei «den Unseren» gefunden werden, im Kreis derer, die dem Herrn angehören.
In den ersten Tagen des Christentums zeigte sich die ungestörte Gemeinschaft des Volkes Gottes in «grosser Kraft» und «grosser Gnade» (Apg 4,33). In Hebräer 10,24.25 werden wir ermahnt: «Lasst uns aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei einigen Sitte ist, sondern einander ermuntern, und das umso mehr, je mehr ihr den Tag herannahen seht.»
Die Heiligen sind nicht die Quelle der Liebe und der guten Werke, aber die Gemeinschaft der Heiligen fördert die Liebe und die guten Werke. Der Tag des Gerichts über diese Welt naht heran. Daher tun wir gut, uns von der Gemeinschaft mit dieser Welt zu trennen und unser glückliches Teil bei den «Mägden des Boas» zu suchen, bei solchen, die unbefleckt sind und ihre Kleider weiss erhalten haben. Je näher der Tag kommt, umso enger sollten wir uns zusammenschliessen.