Dieses Buch mit seinem heidnischen Titel Esther (= «Stern» oder der Planet «Venus»), in dem der Name Gottes nicht erwähnt wird, ist eines der anregendsten Bücher der Heiligen Schrift. Mag auch die ganze Szenerie dieser Geschichte mit den darin geschilderten Umständen und Personen unseren westlichen Ideen etwas fremd erscheinen, so ist die Botschaft, die es enthält, doch eine sehr wirkliche und deutliche Herausforderung an die Leser. Auch dieses Buch ist zu unserer Belehrung geschrieben «damit wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben» (Röm 15,4).
Es ist interessant, dieses letzte historische Buch des Alten Testaments mit dem ersten, also mit dem 1. Buch Mose zu vergleichen, dessen Geschichte Josephs in gewisser Beziehung der des Mordokai gleicht. Wohl sind da gewisse Unterschiede, aber beide Berichte zeigen, wie die Vorsehung Gottes im Verborgenen alles lenkt. Mag sein Volk in Ägypten oder in Persien sein – immer ist es der Gegenstand seines Interesses und seiner Fürsorge, wie dessen Zustand auch immer sein mag. «seine Erbarmungen sind nicht zu Ende» (Klgl 3,22). In den Tagen der Esther machte der Zustand und die Stellung des jüdischen Volkes eine offene Parteinahme Gottes für das Volk unvereinbar mit seinem heiligen Charakter; aber nie vergass Er seine Verheissung an Abraham. Daher können wir die Spuren seiner gnädigen Vorsehung durch die ganze im Buch Esther berichtete Geschichte hindurch verfolgen.
Wenn wir die gnadenvollen Wege eines treuen Gottes mit seinem untreuen Volk betrachten, sehen wir darin in prophetischer Weise Segnungen vorgeschattet, die ihm in der Zukunft zuteilwerden.
Der Rahmen dieser inspirierten Erzählung ist das Persische Reich in den Tagen des Xerxes, etwa fünf Jahrhunderte vor dem christlichen Zeitalter. Dieses grosse Reich streckte sich von Indien bis nach Äthiopien aus (Est 1,1). Die Einleitung zeigt uns eine Szene von grossem Prunk und Herrscherstolz, von Leidenschaft und Kraftlosigkeit des Königs Ahasveros (oder Xerxes, wie er gewöhnlich genannt wird), von weltlichem Glanz und Genusssucht, ohne einen Gedanken an Gott. Dann folgt eine sehr dramatische Beschreibung eines Ränkespiels am persischen Hof, in dem Xerxes, Vasti, Esther, Haman und Mordokai die führenden Rollen spielen. Vasti, die herausfordernde Königin, ist für uns von geringer Bedeutung und verschwindet sehr rasch vom Schauplatz. In Verbindung mit Esther dient sie jedoch dazu, zu zeigen, wie Gott «Mächtige von Thronen hinabstossen und Niedrige erhöhen kann» (Lk 1,52).
Die Bedeutung des Buches Esther besteht erstens darin, dass Christus in ihm gefunden wird, wenn auch in einer sehr verborgenen Weise.
Die zweite Bedeutung des Buches findet sich in dem Trost, der darin besteht, dass Gott in seiner Vorsehung immer wirksam ist, selbst wenn sich sein Volk – wie wir soeben festgestellt haben – in Umständen und in einem Zustand befindet, der die öffentliche Anerkennung durch Ihn verunmöglicht.
Drittens besitzt das Buch Esther grossen Wert wegen seiner prophetischen Bedeutung. Hier wird im Kleinen die gegenwärtige Stellung und die zukünftige Bestimmung des irdischen Volkes gezeigt. Die jüdische Nation wird hier gesehen als unter die Nationen zerstreut, unter heidnischer Herrschaft stehend, von Gott noch nicht anerkannt, aber mit Eifer überwacht; und dann auch das Problem der Nationen bis zum Ende der Geschichte.
I.
Die zentrale Figur ist Mordokai, der Jude; und in der Erzählung werden von ihm die folgenden interessanten Dinge berichtet. Er wird gezeigt:
- als ein Mann aus der wahren Nachkommenschaft des auserwählten Geschlechtes
- als ein Mann, der dem König einen äusserst nützlichen Dienst erweist
- als ein Mann, der vom Feind des Volkes Gottes besonders gehasst und verachtet wird
- als ein Mann, «an dessen Ehre der König Gefallen hat»
- als ein Mann, durch den für das Volk Gottes die Befreiung kam
- als ein Mann, durch den eine schreckliche Niederlage über den Feind kam
- als ein Mann, der ganz offensichtlich einen viel Grösseren vorschattet.
Das Buch schliesst mit der Beschreibung der Grösse Mordokais, seiner Würde und Majestät: Er ist der Zweite nach dem König Ahasveros, gross in den Augen des auserwählten Volkes, wohlgefällig der Menge seiner Brüder; er sucht das Wohl seines Volkes und redet zur Wohlfahrt seines ganzen Geschlechtes; er hat sowohl die Leiden als auch die Herrlichkeit der Erhöhung gekannt. – Von wem mag er ein Vorbild sein? Wer steht vor dem Heiligen Geist, der dieses Buch eingegeben hat, als nur Christus, der Erbe aller Dinge!
Jemand hat gesagt: «Jedes Buch in der Bibel spricht von der schliesslichen Wiederherstellung Israels zur Freude der ganzen Erde und zum Segen aller Geschlechter der Menschen.» Zuerst muss aber, wie im Buch Esther, das Gericht über die Bösen ausgeführt werden, besonders über die Feinde der Juden. Die Juden im Allgemeinen müssen – wie Er – durch die Leiden der Gefangenschaft und die Feuer der Verfolgung gehen. Schliesslich aber wird der Erzfeind Gottes und seines Volkes schimpflich vernichtet, und dann wird Christus, der wahre Jude – der wahre Befreier seiner jüdischen Brüder – in seinem Königtum als der Erbe aller Dinge offenbar werden.
II.
Die nächste Persönlichkeit, die die Erzählung beherrscht, ist der finstere Haman. Er entfaltet in hohem Grad satanische Eigenschaften:
- er ist der Widersacher und Feind, der Ankläger des Volkes Gottes (Est 7,5; vgl. 1. Pet 5,8; Off 12,10)
- er ist mächtig und plant die völlige Zerstörung des Volkes
- er ist stolz, hochmütig, rachesüchtig und lügnerisch
- schliesslich wird er demaskiert, erniedrigt und ohne Gnade weggetan
Was mag dieser Haman anders sein, als ein Bild vom Erzfeind Gottes und Christi und der Seinen, der durch den Geist als der Satan, als der Teufel beschrieben wird? In Verbindung mit der ganzen Geschichte Hamans bieten die folgenden Stellen viel Stoff zum Nachsinnen: Ps 7, Ps 37,12.32.35.36; Ps 83,4.5.
III.
Selbstverständlich konzentriert sich das Interesse auch auf die Person, die diesem Buch den Namen gibt – auf Esther oder Hadassa. Sie ist eine Jüdin, also benachteiligt durch ihre Angehörigkeit zu der verachteten Rasse, eine Gefangene und eine Waise. Doch ist sie, trotz ihrer niedrigen Stellung und ihres schutzlosen Zustandes im Leben dazu bestimmt, die Königin zu werden und einen unvorstellbar mächtigen Einfluss zugunsten des verachteten und niedergetretenen Volkes auszuüben, zu dem sie gehörte.
Die Erzählung zeigt sie als eine Persönlichkeit von anziehendem, höflichem, mutigem und klugem Wesen. Sie ist schön von Gestalt und Ansehen, wie dies in Kapitel 2,7 erwähnt wird, aber ihr Charakter offenbart sich in ihrem Betragen während der Krise. Sie hat einen Glauben, der sich im Fasten, Beten und in der Erwartung der Befreiung als lebendig erweist; daher erlangt sie den erbetenen Segen, und sogar mehr als sie sich erdenken konnte. Wie manche andere, in verschiedenen Umständen, war sie berufen, die schwere Krise mit ihren Gefahren und drohenden Wolken im Glauben zu überwinden (vgl. Est 4,11).
Dann aber durfte sie erfahren, was so manche andere dankbar bezeugt haben: «Der HERR ist gütig, er ist eine Festung am Tag der Drangsal; und er kennt die, die zu ihm Zuflucht nehmen» (Nah 1,7).
Daher wird in Kapitel 6 die Bedeutung scheinbarer Kleinigkeiten gezeigt. Gott vermag die Herzen der Menschen und alle Umstände zu lenken: Eine schlaflose Nacht, eine vernachlässigte Pflicht, alles benützt Gott dazu, seine Absichten der Segnung seines Volkes und der Vernichtung der sorgfältig vorbereiteten Pläne und Komplotte des Feindes zur Ausführung zu bringen.
Die ungeduldige Erwartung eines bösen Mannes wird in eine Belohnung der Geduld eines guten Mannes umgewandelt, und dieser schnelle Wechsel, von dem hier berichtet wird, hat eine sinnbildliche Bedeutung: Auch jetzt gibt es einen verachteten Mann, an dessen Ehre der ewige König Gefallen hat; schon hat Er Ihn auf seinen Thron gesetzt und bald wird Er Ihn auch vor allen Menschen verherrlichen. Wie wird Esthers Herz sich gefreut haben, als sie sah, wie Mordokai an den Platz der Ehre gesetzt wurde. So freuen sich auch heute die Herzen aller wahren Gläubigen, die Christus Jesus lieben, darüber, dass Ihn Gott mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt hat und sich einst alle Knie vor Ihm beugen werden.
IV.
Im Anschluss an diese Ereignisse führte Mordokai die Purim-Tage ein. Das war ein Fest der Dankbarkeit und der frohen Erinnerung an eine Zeit, in der dem Volk eine wunderbare Befreiung von einer grossen Gefahr zuteilwurde. Da war kein Zweifel gewesen bezüglich des unnachgiebigen Hasses und der Bosheit eines fast allmächtigen Feindes. Aber nun war eine grosse Befreiung zustande gekommen, nicht durch ein offenes Wunder (wegen ihres Zustandes), aber doch durch die verborgene Vorsehung Gottes. Er hatte sie durch scheinbar gewöhnliche Mittel auf natürlichem Weg bewirkt.
In dankbarer Feierlichkeit erinnerten sie sich daran, dass sie durch ihren unversöhnlichen Feind der Zerstörung preisgegeben waren. Diese Tage der Purim, so sagten sie, sollten unter den Juden jedes Jahr gefeiert werden und ihr Andenken sollte auch bei ihren Nachkommen nicht aufhören.
Es war wie bei der Befreiung aus Ägypten: «Der Feind sprach: Ich will nachjagen, einholen … Du hauchtest mit deinem Odem, das Meer bedeckt sie; sie sanken unter wie Blei in die gewaltigen Wasser.» (2. Mo 15,9.10). So durfte Israel noch einmal erleben, was der einzige missionarische Prophet des Alten Testaments durch Erfahrung lernte: «Bei dem HERRN ist die Rettung» (Jona 2,10).
Das bescheidenste Kind Gottes in den schwierigsten Umständen kann grossen Mut und ein Herz voll Hoffnung schöpfen aus den Dingen, die im Buch Esther berichtet werden. Denn hier sehen wir deutlich, wie Gott die Furcht und Angst der Seinen beschwichtigen kann, indem Er durch sein gnädiges Handeln zu ihren Gunsten viel mehr tut als sie zu hoffen wagen.