Der Rahmen der Psalmen
Freude und Leid, Lachen und Weinen, Hoffnung und Verzweiflung, Angst und Sicherheit, Lob und Gebet, Buße und Vergebung, Anbetung und Bewunderung – alle diese menschlichen Empfindungen widerspiegeln sich in den Psalmen. Das ganze menschliche Leben ist hier vorhanden. Nun, es ist klar und kann nicht stark genug betont werden, dass unser Heil in keiner Weise von Gefühlen abhängt, sondern einzig und allein auf dem Glauben an Gott und an sein Wort basiert (Joh 3,16; Röm 10,8-10). Dennoch sieht und anerkennt Gott, der uns als Geschöpfe mit menschlichen Gefühlen geschaffen hat, diese Empfindungen und hat uns zu unserer Unterweisung und Ermunterung das Buch der Psalmen gegeben. Deshalb ist das Volk Gottes auch zu allen Zeiten von diesem Buch besonders angezogen worden.
Mit Recht ist gesagt worden, dass wir in den fünf Büchern Mose Bilder von Christus haben, in den Propheten die Voraussagen auf Christus, in den Evangelien die Taten von Christus, in der Apostelgeschichte die Früchte von Christus, in den Briefen seine Fülle, aber in den Psalmen seine Empfindungen. Die Psalmen stehen nicht nur in der Mitte unserer Bibel, sie sind – bildlich gesprochen – auch der Mittelpunkt. Dieses Buch könnte man das Herzstück der Bibel nennen. In diesem kurzen Artikel kann nur ein allgemeiner Überblick gegeben werden. Dennoch hoffen wir, dass jeder Leser ermuntert wird, diesen Teil der Heiligen Schrift weiter zu erforschen (Apg 17,11).
Der Stil der Psalmen
Das hebräische Wort, von dem unser deutsches Wort «Psalm» abgeleitet worden ist, bedeutet eigentlich «Lobpreis». Wir müssen uns daran erinnern, dass die Psalmen Gedichte sind (und zwar solche, die gesungen werden sollten) und keine lehrmässigen Abhandlungen oder Predigten. Das Wesentliche der hebräischen Poesie liegt in der Wiederholung von Gedanken, so dass ähnliche Gedanken oft mehrfach auf unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt werden. Manche Psalmen sind so aufgebaut, dass die Anfangsbuchstaben der Verse den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und ihrer Reihenfolge entsprechen (z.B. die Psalmen 25; 34; 37; 119).
Das Studium der Psalmen
Jeder Psalm sollte unter den folgenden drei Gesichtspunkten betrachtet werden:
1. Die Umstände, die seiner Niederschrift zugrunde lagen
Diese Umstände werden oft in den Überschriften zu den Psalmen angegeben. Somit bilden diese Überschriften einen Teil der inspirierten Worte der Schrift. Sie werfen ein helles Licht auf die Empfindungen, die in dem jeweiligen Psalm zum Ausdruck kommen (z.B. Psalm 34 und 51). Da, wo es möglich ist, sollten wir die entsprechenden Parallelstellen in den geschichtlichen Büchern nachschlagen, um den Hintergrund besser zu erkennen. Ein klares Verständnis des Hintergrundes wird uns helfen, die ausgedrückten Empfindungen zu verstehen (siehe auch Punkt 3).
2. Mögliche prophetische Deutung
Obwohl die Worte der Psalmdichter (allen voran David, aber auch Asaph, Mose, die Söhne Korahs und andere) ihren Ursprung häufig in tiefen geistlichen Erfahrungen hatten, ist es doch klar, dass sie eine weitere – über das unmittelbare Verständnis der Schreiber hinausgehende – Bedeutung haben (1. Pet 1,10.11; 2. Tim 3,16.17; Lk 24,27). So wird Davids Schrei der Verlassenheit in Psalm 22,1 zum Ausruf des Herrn am Kreuz, und dadurch erhält dieses Wort eine völlig neue Bedeutung (Mt 27,46; Mk 15,34). Die Schreiber der Evangelien sprechen mit grosser Zurückhaltung von den inneren Empfindungen des Herrn und zeigen uns nur hier und da etwas davon.
In den messianischen Psalmen, die von den Leiden Christi sprechen (z.B. die Psalmen 22; 69 u.a.) finden wir diese Empfindungen ausgedrückt. Wenn wir uns mit diesen Psalmen beschäftigen – sozusagen mit unbeschuhten Füssen – und hören, wie der Herr sein Herz vor Gott ausschüttet, dann wird die Folge sein, dass wir uns in Anbetung und Bewunderung niederbeugen. Andere Merkmale des Messias werden in anderen Psalmen vorgestellt Seine Sohnschaft (Ps 2), sein Königtum (Ps 2; 89), seine Menschheit (Ps 8), sein Vertrauen (Ps 16), sein Kommen (Ps 40), der Verrat an Ihm (Ps 41), seine ewige Existenz (Ps 102) und sein Priestertum (Ps 110). Ein weiteres prophetisches Thema, das in vielen Psalmen aufgegriffen wird, behandelt die Empfindungen des verfolgten Überrestes aus Israel in kommenden Tagen (z.B. die Psalmen 43; 74; 77; 94)
Es besteht die Gefahr, dass wir der prophetischen Auslegung der Psalmen zu viel Gewicht beimessen und dadurch die unmittelbaren Umstände vergessen, in denen viele dieser Lieder entstanden sind. Deshalb ist es gut, wenn wir beide Betrachtungsarten im Gleichgewicht halten. Dennoch sei betont, dass die prophetische Auslegung durch die Schrift gerechtfertigt wird. Kein Geringerer als der Herr Jesus selbst hat eindeutig erklärt, dass die Psalmen von Ihm reden (Lk 24,44). Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass die Apostel in den Psalmen nicht nur Hinweise auf Christus fanden, sondern auch Anwendungen auf ihre unmittelbaren Umstände und auf das gegenwärtige Handeln Gottes (Apg 1,16-20; 2,25-27.33-36; 4,24-28; Röm 11,9.10; Heb 4,7-9).
3. Praktische Anwendung auf die heutige Zeit
In den Psalmen finden wir die Empfindungen der Diener Gottes, die Ihm in einer gottlosen Welt nachfolgen wollten. Diese Welt hat ihren Charakter nicht verändert, und deshalb haben sich die Diener Gottes zu allen Zeiten mit den Empfindungen der Psalmdichter identifiziert. Als junger Christ zog ich es vor, die Evangelien und die Briefe zu lesen. Im Lauf der Zeit und im Wechsel der Lebenserfahrungen mit allem Auf und Ab sind mir die Psalmen immer bedeutsamer und kostbarer geworden. Psalm 23 mag zu einem Teil der weltlichen Literatur geworden sein, aber er ist natürlich viel mehr als das. Dieser Psalm hat in Zeiten besonderer Leiden und Not den Kindern Gottes stets besonderen Trost vermittelt.
Bei alledem sollten wir uns jedoch daran erinnern, dass die Psalmen geschrieben wurden, bevor Gott sich völlig im Herrn Jesus offenbart hat, so wie es im Neuen Testament beschrieben wird. Deshalb reichen die Psalmen nicht an die volle Offenbarung der christlichen Wahrheiten heran. Nur so ist es zu verstehen, dass der Psalmdichter zu Gott rufen und um Rache an seinen Feinden bitten konnte (z.B. in den Psalmen 5; 94; 109). In einer Zeit, wo sich der Segen Gottes in materiellem Wohlergehen und Frieden zeigte, war eine solche Bitte durchaus am Platz. Derartige Empfindungen werden dann wieder angemessen sein, wenn der bedrängte Überrest aus Israel von seinen Feinden gequält werden wird. In der christlichen Zeitepoche aber sind solche Empfindungen absolut unangebracht. Wiederholt hat der Herr Jesus jene, die Ihm nachfolgten, aufgefordert, anderen zu vergeben (Mt 5,43-48; 18,21.22; Lk 23,34).
Eines der grossen Merkmale des Christentums ist, dass wir durch Gnade in die Familie Gottes gebracht worden sind und Gott als Vater kennen (Joh 20,17; Röm 8,14.15). Nirgendwo in den Psalmen wird Gott als Vater angeredet, noch konnte Er so gekannt werden, bevor das Werk von Golgatha vollbracht war (Joh 14,6). Angesichts der heute oft anzutreffenden Überbetonung der Psalmen in der christlichen Anbetung, sei ein Wort der Warnung erlaubt: Wir wollen unseren Vater nicht zu kurz kommen lassen, sondern uns der besonderen Beziehung erfreuen, in die wir zu Ihm gebracht worden sind. Lasst uns Ihm bei jeder Gelegenheit in unserer Anbetung für diese wunderbare Beziehung danken!
Die Gliederung der Psalmen
Das Buch der Psalmen zerfällt in fünf Teile, die in den meisten Bibelübersetzungen angegeben sind. Folgende Tabelle verdeutlicht die Einteilung:
Bücher Mose | Thema der Psalmen | Unterteilung | Schlüssel- psalm |
1. Mose 2. Mose 3. Mose 4. Mose 5. Mose | Gott und Mensch Israel als Nation Das Heiligtum Die Wüste Das Wort Gottes | 1 – Psalm 1-41 2 – Psalm 42-72 3 – Psalm 73-89 4 – Psalm 90-106 5 – Psalm 107-150 | 8 68 84 90 119 |
Kennzeichnend für jedes Psalmbuch ist, dass es mit einem Lobgesang endet, und als Verstärkung beginnen die letzten fünf Psalmen (146-150) alle mit dem Aufruf: «Lobt den HERRN!» Die klare Übereinstimmung zwischen den fünf Psalmbüchern und den fünf Büchern Mose scheint offensichtlich zu sein.
Das jeweilige Thema in den Büchern Mose wird allgemein (wenn auch nicht ausschliesslich) in dem entsprechenden Psalmbuch aufgegriffen. Natürlich sollten wir uns hüten, diese Vergleiche zu weit zu treiben, und doch staunen wir über das, was Gott zustande brachte, indem ein Buch, das von verschiedenen Psalmdichtern und über Jahrhunderte hinweg geschrieben wurde, so voll innerer Harmonie ist. Möge das Lesen und Studieren der Psalmen uns weiter ermuntern und anspornen.