Dieser Psalm ist das Lied einer Seele, die ihr Vertrauen auf den Herrn setzt. Man glaubt, dass ihn David am Ende seiner Tage verfasst hat. Nur wer selber ein Hirte war, konnte einen solchen Psalm schreiben. Und David hat seine Hirtentage nie vergessen.
Jesus, unser Herr, ist der Hirte, von dem hier die Rede ist. Er hat ja verschiedene Ämter. Er ist König, Priester, Prophet, Sachwalter usw. Er ist es aber auch, der sein geliebtes Volk weidet.
Der Hirtendienst war von jeher verachtet, sowohl bei den Juden als auch bei den Ägyptern: «Alle Schafhirten sind den Ägyptern ein Gräuel» (1. Mo 46,34). Isai z.B. hatte acht Söhne, aber das Weiden seines Kleinviehes hat er dem Jüngsten überlassen. (Vergleiche auch 1. Sam 17,28).
Welche Herablassung also, dass der Herr Jesus diesen verachteten Hirtendienst übernommen hat! Und mit welcher Hingebung und treuer Fürsorge übt Er ihn aus! Diese Verse sind ein beredtes Zeugnis davon.
Wenn sich David in seine eigene Hirtenzeit zurückversetzte, musste er sich sagen: Wie sorgenfrei waren doch meine Schafe, als ich sie weidete! – Und jetzt, so oft er sich selbst als das Schaf seines himmlischen Hirten betrachtete, konnte er frohlockend ausrufen: Wie sorgenfrei bin ich, dass ich einen solchen Hirten habe!
Der Psalmist nimmt in diesen Versen 12mal auf den Herrn und 17mal auf sich selbst Bezug. Wie glücklich sind wir, wenn wir diesen Psalm auf uns persönlich anwenden, im Bewusstsein, dass es sich hier um meinen Hirten und um mich handelt Die sechs Verse dieses Psalms sind sechs Stufen, die zum Höhepunkt des Schlussverses führen: «Ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar.» Die Schafe gelangen erst zur Ruhe, wenn sie für immer im Haus des Herrn wohnen.
Vom ersten bis zum letzten Vers ist es ein Hirtenpsalm. Es geht immer um den Herrn und sein Schaf.
«Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln»
Diese Aussage wird in den nachfolgenden Versen erweitert und begründet. Der Schreiber vergleicht sich mit einem schwachen, dummen und wehrlosen Schaf. Und jeder von uns muss von sich selbst bekennen: Auch ich bin schwach, töricht und wehrlos. Aber David sagt: der Herr ist mein Hirte. Es ist, wie wenn er zum Ausdruck brächte, was ein Schaf denken und reden könnte. Das Schaf empfindet: Ich fühle mich so schwach und töricht. Aber dann schaut es auf zum Hirten und ruft aus: Ich habe einen Hirten; ich brauche nicht zu zittern. Er hat alle Kraft und alle Weisheit!
Das ist der Unterton des Psalms. David freut sich, dass er in der Fürsorge des Herrn steht. Er ist überzeugt:
«Mir wird nichts mangeln»
Ist der HERR nicht der «Ich bin, der ich bin»? Es wird mir nichts Gutes mangeln, wenn ich einen solchen Hirten habe.
Bin auch ich mir bewusst, dass ich eines seiner Schafe und der Gegenstand seiner Fürsorge bin? Gleiche ich diesem Psalmisten, dem nichts fehlt, und der weiss, dass auch hinsichtlich der Ewigkeit für ihn gesorgt ist?
Ach! – sagst du – mir fehlen so viele Dinge. Ich bin so voller Unruhe und komme mir vor, ich sei mitten im Sturm!
Da muss ich dich aber fragen: Folgst du dem Herrn unmittelbar nach und hältst du dich in seiner Nähe auf? Ein Schaf, das seinem Hirten entläuft, kann die Segnungen, die in diesem Psalm beschrieben sind, nicht geniessen.
«Er lagert mich auf grünen Auen»
Der gute Hirte sagt: «Wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.» Die Weide kommt nicht zu dir, du musst zur Weide gehen. Wenn ein Schaf warten wollte, bis die Weide zu ihm kommt, würde es verhungern.
Der einzige Weideplatz für den Erretteten ist das Wort Gottes. Du magst einen ganzen Schrank voll Bücher haben – wenn du dich nicht vom Wort Gottes nährst, bleibst du leer.
Wie die Braut im Hohenlied sollten auch wir fragen: «Wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag?» So hat Maria sich bei Ihm gelagert, und sie fand zu den Füssen Jesu grosse Freude. Auch du kannst dort Erquickung finden und Nahrung, die deiner Seele Kraft gibt.
Man begegnet oft halbverhungerten Christen mit unglücklichen Gesichtern. Sie schätzen die Versammlungen nicht mehr. Sie hören auf, sich zu «lagern». So war auch die arme Martha zu sehr beschäftigt, um sich niederzusetzen, und sie büßte dadurch grossen Segen ein.
Um sich zu nähren, muss das Schaf nicht nur fressen, sondern auch wiederkäuen. So sollten auch wir nicht nur lesen und hören, sondern auch nachsinnen und anbeten. Ein junger Mann liest vielleicht jeden Morgen seine vier Kapitel aus der Bibel. Aber das nützt ihm wenig, wenn er nicht darüber nachsinnt. Er hätte bedeutend mehr Gewinn davon, wenn er über das Gelesene nachdächte.
Da wird ein allzu geschäftiger Bruder krank. Es mag sein, dass Gott ihn in diese Umstände führt, weil er selten Zeit fand, sich auf den grünen Auen zu lagern. Viele lernen auf ihrem Krankenlager mehr, als in den manchen Jahren, da sie gesund und tatkräftig waren.
Du fragst: Wie kann ich mich auf grünen Auen lagern, wenn es mir die Umstände einfach nicht erlauben? – Zwei Männer wurden ins Gefängnis geworfen. Ihr Rücken war blutig geschlagen, und jetzt wurden ihre Füsse noch in den Stock gepresst. Sie waren eingeschlossen in eine dunkle, muffige und unreine Zelle, konnten weder richtig sitzen, noch liegen … Aber um Mitternacht fingen sie an zu singen und zu loben. Trotz der ungünstigen Umstände liessen sie sich von ihrem Hirten auf den grünen Auen lagern (Apg 16,22-25).
«Er führt mich zu stillen Wassern»
Es könnte auch übersetzt werden: «zu stillen Brunnen». Der gute Hirte treibt mich nicht, Er führt mich dahin. Er wünscht, dass ich seine Gegenwart geniesse und zur Einsicht komme: Ausser Ihm gibt es nichts, das meinen Durst löschen kann. Was die Menschen haben, sind geborstene Zisternen, die kein Wasser halten. Immer, wenn sie daraus trinken wollen, machen sie die Entdeckung, dass nichts darin ist. Wie ganz anders ist es mit der «Quelle lebendigen Wassers». In Jesaja 12,3 lesen wir: «Mit Wonne werdet ihr Wasser schöpfen aus den Quellen der Rettung.» Wahre Wonne findest du nur, wenn du aus diesen Quellen der Rettung trinkst, die du im Wort Gottes findest.
«Er erquickt meine Seele»
Er ist es, der mir Nahrung und Trank darreicht, wenn ich mich ins Wort Gottes vertiefe und darüber nachsinne. Meine Seele ist dann erquickt, ähnlich, wie mein Körper durch gesunden Schlaf erfrischt wird. Viele Gläubige gehen durch grosse Seelenübungen. Elia, einer der grössten Heiligen, von dem das Alte Testament berichtet, war einmal sehr niedergeschlagen (1. Kön 19,4-8). Er setzte sich unter einen Ginsterstrauch und betete: «Es ist genug; nimm nun, HERR, meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter.» Das war kein gutes Gebet. Davon, dass Gott ihn einst im Sturmwind zum Himmel fahren lassen würde, hatte er keine Ahnung. Aber wie kam er aus diesem Zustand der Niedergeschlagenheit heraus? Der HERR erquickte ihn. Er gab ihm durch einen Engel Speise und Trank: einen Kuchen, auf heissen Steinen gebacken, und einen Krug Wasser. Zweimal wurde er aufgefordert, diese Erquickung zu sich zu nehmen: «Stehe auf, iss!»
«Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit»
Da mag jemand sein, der bekennen muss: Ich empfinde keine Glückseligkeit und fühle mich elend. Ich bin wohl nicht auf dem rechten Pfad. – Hast du die Gewohnheit, den Herrn über die Wege, die du gehen sollst, zu befragen? «Erkenne ihn auf allen deinen Wegen» (Spr 3,6). Wenn du dieses tust, wird Er dich in Pfaden der Gerechtigkeit leiten, auf denen du in seinem Frieden vorangehen kannst. Die Wege in dieser Welt führen an Abgründen vorbei, und wenn die Schafe nicht dem guten Hirten folgen, können sie hinabstürzen.
«Um seines Namens willen»
Er leitet mich zur Verherrlichung seines Namens. Er wird verunehrt, wenn Ihm die Schafe nicht folgen. Nur wenn sie in Pfaden der Gerechtigkeit vorangehen, können sie für Ihn ein Zeugnis sein. Alle seine Führungen haben seine eigene Verherrlichung zum Ziel.
«Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens …»
Der 3. Vers sagt uns, dass der Hirte die Schafe in Pfaden der Gerechtigkeit führt. Diese Pfade mögen den Christen wohl in die Tiefen führen und gefährlich werden, aber wenn ich mit Ihm hindurchgehe, so wird Er auch bei mir sein. Solche Wege sollen uns zur Bewahrung, zur Läuterung oder zur Vertiefung des Glaubenslebens dienen.
Statt «im Tal des Todesschattens» kann auch übersetzt werden: «durch Finsternis». Es gab mehrere finstere Täler in Palästina: das Tal der Räuber, das Tal der Raubvögel, das Tal des Kummers usw. Wie wird es dem Einzelnen beim Gang durch ein finsteres Tal ergehen, wenn tödliche Gefahr droht? David sagt:
«Ich fürchte nichts Übles, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich»
Was bedeuten der Stecken und der Stab? Mein Vater hat für uns Kinder oft den Stecken gebraucht. Aber jener Stecken hat uns nie getröstet. Der Stecken hier hat mit Züchtigung nichts zu tun. Der Hirte brauchte diesen knorrigen Stock, um das Schaf zu verteidigen. Der Stab hingegen dient dazu, das Schaf zu leiten. So können also auch wir ausrufen: «Dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich!» Der Herr ist unser sicherer Führer bis zum himmlischen Ziel und vermag uns vor allem Übel und allen Feinden zu bewahren, mögen sich am Horizont noch so dunkle Wolken zusammenballen. Ich muss mich nur nahe beim Hirten aufhalten und daran denken, dass alle Kraft bei Ihm ist.
Ein Missionar, der viele Jahre unter den Kannibalen auf den Neuen Hebriden lebte, sah eines Tages dreihundert dieser gefährlichen Wilden mit Äxten auf ihn zukommen. Was tat er? Er hob seine Hände betend zum Herrn empor – und seine Feinde rannten in wilder Flucht davon! Der Hirte hat ihn mit seinem Stecken verteidigt.
Wenn wir sehen könnten, wie die Schafe sich bei Gefahr um ihren Hirten scharen, würden wir diesen Vers besser verstehen. Denk an diese Worte, wenn du durch ein dunkles Tal gehen musst. Wie schwer es auch sein mag, der Herr ist bei dir.
«Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde»
Im Osten gibt es viele Ottern und Schlangen. Der Hirte sammelt die Schafe um sich her und sichert den Weideplatz.
Auch wir sind von zahllosen Feinden und Gefahren umringt. Aber der Herr hat einen reichen Tisch vor uns bereitet, an dem wir uns angesichts unserer Feinde erfreuen können.
Als Stephanus inmitten seiner Feinde stand, rief er strahlenden Angesichts: «Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen!» Der Herr war ihm ganz nahe und hat ihm, selbst als er den Märtyrertod erlitt, «einen Tisch bereitet.»
«Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fliesst über»
Am Ende des Tages lässt der Hirte jedes Schaf an sich vorübergehen. Ist eines erschöpft, so ergreift er sein Horn mit Öl und salbt den Kopf des Tieres. Dann nimmt er ein Becken mit klarem Wasser und lässt das ermattete Schaf trinken. Auch ich bin so oft erschöpft und müde, will David sagen. Aber du gibst mir immer wieder die nötige Erfrischung und Ermunterung.
Mancher von uns ist am Ende des Tages, am Ende seines Lebens angelangt. Gerade um solche betagte Geschwister gibt sich der gute Hirte besondere Mühe. Wie sanft geht Er mit ihnen um!
«Nur Güte und Huld werden nur folgen alle Tage meines Lebens»
Es steht hier nicht: alle Jahre meines Lebens. Der Herr denkt an alle Tage. Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens.
Der Tag ist vorüber. Die Schafe sind wohlbehalten im Hof angekommen. Rückblickend dachte David nun über die Güte des Hirten nach. Und wenn man ihn jetzt gefragt hätte: David, wie steht es mit deiner Zukunft? So hätte er geantwortet: Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens!
Da ist vielleicht ein alter Bruder. Deine Frau ist heimgegangen, und du fühlst dich einsam. – Oder du, Schwester, bist schon manche Jahre leidend. – Willst du etwas wissen über deine Zukunft? Du brauchst dazu keinen Propheten. Hier steht es schwarz auf weiss: «Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens.» Güte und Huld, diese zwei treuen Gefährten begleiten den Gläubigen durch die ganze Pilgerschaft hindurch.
«Und ich werde wohnen im Haus des Herrn auf immerdar»
Das ist der Ausklang dieses Psalms. Die Wege in dieser Wüste, auf denen wir die Fürsorge unseres treuen Hirten und das vollkommene Mitgefühl des Sohnes des Menschen so reichlich erfahren durften, kommen zu ihrem Ende. Und wenn alle Gläubigen im Hof sind, werden sie auch dieses Lied der Erde nicht mehr singen.
Wenn ich durch den Tod gehen muss, so weiss ich, was das für mich bedeutet. Für mich ist er nicht der König der Schrecken. Der gute Hirte wird mich heimrufen. Welch ein Wechsel! Fast beneiden wir jene, die heimgehen können.
Aber die eigentliche Erwartung der Gläubigen ist das Kommen des Herrn. Er sagt: «Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen … Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten … Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet!» (Joh 14,2.3). Welche Zukunft!
Ich empfehle euch allen: Sinnt viel über diesen Psalm nach! Millionen von Menschen hat er Freude und Mut gebracht. Seine treuen Verheissungen waren für unzählige Geprüfte und Niedergebeugte ein weiches Kissen, auf dem ihr müdes Haupt Ruhe fand.