Einer der Titel unseres Herrn und Heilands, den wir im Alten Testament finden, lautet: «Spross des HERRN.» So nennt Ihn der Prophet Jesaja, wenn er sagt: «An jenem Tag wird der Spross des HERRN zur Zierde und zur Herrlichkeit sein, und die Frucht der Erde zum Stolz und zum Schmuck für die Entronnenen Israels» (Jes 4,2). Die vollständige Erfüllung dieser Worte steht noch aus, denn erst im Tausendjährigen Reich wird diese Weissagung ganze Wirklichkeit. Einige Kapitel später spricht Jesaja noch einmal von Ihm als dem Spross: «Es wird geschehen an jenem Tag: Der Wurzelspross Isais, der dasteht als Banner der Völker, nach ihm werden die Nationen fragen; und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein» (Jes 11,10). Auch diese Aussage nimmt in ihrer ganzen Tragweite Bezug auf das Reich des Sohnes des Menschen, wenn Er in Macht und Herrlichkeit über diese Erde regieren wird. Dann wird Er «das Ersehnte aller Nationen» sein (Hag 2,7). In Ihm wird nicht nur sein Volk Israel, sondern in Ihm werden auch alle Nationen zur Ruhe kommen.
Ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich
Der Herr Jesus ist der Wurzelspross Isais. Er ist also sowohl Wurzel, d.h. Ursprung, als auch der Spross, d.h. der Nachkomme Isais. Damit ist das ewige und unbegreifliche Geheimnis seiner Person angedeutet. Er ist Gott und Mensch in einer Person. Paulus drückt das mit den Worten aus: «Die Israeliten …, aus denen, dem Fleisch nach, der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit. Amen» (Röm 9,4.5). Er ist der wahre Sohn Davids, der einmal auf dessen Thron sitzen wird. Er ist aber gleichzeitig auch der ewige Gott und damit der Ursprung Davids.
Wenn auch die volle Erfüllung dieser Prophezeiungen Jesajas erst im Tausendjährigen Reich geschieht, so brauchen wir doch nicht bis zu diesem Augenblick zu warten, um Ihn als den Wurzelspross zu sehen. Eine andere – den meisten von uns sicher gut bekannte – Weissagung sagt nämlich: «Er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen, und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich» (Jes 53,2). Dieser Vers nimmt Bezug auf die Zeit, da der Herr Jesus als Mensch auf dieser Erde zur Ehre Gottes lebte. Er kam als die wahre «Frucht der Erde», um als Mensch seinen Gott zu ehren, zu verherrlichen und für Ihn Frucht zu bringen.
Als Gott das erste Menschenpaar geschaffen hatte, lautete sein Auftrag: «Seid fruchtbar» (1. Mo 1,28). Doch selbst unter den günstigsten Umständen im Garten Eden waren die ersten Menschen nicht in der Lage, Frucht für Gott zu bringen. Adam und Eva fielen in Sünde, und Gott musste sie aus dem Paradies vertreiben. Seither hat Gott vergeblich nach wirklicher Frucht Ausschau gehalten. Er sah auf diese Erde herab und suchte Menschen, die in allem nach seinem Willen fragten, doch vergeblich. Der Psalmdichter sagt: «Der HERR hat vom Himmel herniedergeschaut auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob ein Verständiger da sei, einer, der Gott suche. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer» (Psalm 14,2.3).
Doch dann kam der Eine, der Sohn Gottes, als Mensch vom Himmel, und in Ihm fand Gott die Frucht, die Er suchte. Er kam nicht in ein Paradies, sondern in eine Wüste. Der Evangelist Markus berichtet uns davon: «Es geschah in jenen Tagen: Jesus von Nazareth in Galiläa kam und wurde von Johannes im Jordan getauft.» Der Name Nazareth wird vom hebräischen «Nezer» abgeleitet, was «junges Reis oder Spross» heisst. Von dort aus kam Er in die Wüste, denn Johannes predigte in der Wüste und taufte im Jordan. Und was lesen wir unmittelbar danach? «Sogleich, als er aus dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen und den Geist wie eine Taube auf ihn herniederfahren. Und eine Stimme erging aus den Himmeln: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden» (Mk 1,9-11). Das war der Wurzelspross aus dürrem Erdreich. In schwierigsten Umständen wurde Er erprobt, und das Auge des Vaters fand nichts als Wohlgefallen an Ihm.
Die Erde, auf der unser Herr ungefähr 33 Jahre lebte, glich einem dürren Erdreich. Durch das Verhalten der Menschen war sie einer Wüste gleich geworden. Wie konnte man dort Frucht erwarten? Und doch hat der Herr Jesus diese Frucht für seinen Gott gebracht. Petrus drückt das im Haus des Kornelius mit den Worten aus: «Jesus, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohl tuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm» (Apg 10,38). Zu jeder Zeit ruhte das Auge Gottes mit Wohlgefallen auf Ihm.
Keine Gestalt und keine Pracht
Doch die Weissagung Jesajas geht weiter. Unmittelbar nach der Ankündigung des Wurzelsprosses lesen wir: «Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten» (Jesaja 53,2). Der Prophet spricht hier vom Leben des Herrn Jesus auf dieser Erde. Er war Der, den Gott mit Heiligem Geist und Kraft gesalbt hatte, Er war Der, den Gott auserwählt hatte und der in seinen Augen so kostbar war, aber Er war gleichzeitig auch Der, den die Menschen nicht haben wollten. Als Er vor 2000 Jahren auf diese Erde kam, da hatte Er weder Gestalt noch Pracht. Er kam nicht in Macht und Herrlichkeit, sondern in Demut und Niedrigkeit. Er kam, um den Willen Gottes zu tun und sein Werk zu vollbringen. Die Menschen sahen in Ihm nicht mehr als «den Sohn des Zimmermanns». Verächtlich sprachen sie von Ihm als dem Nazarener. Petrus fasst seine Erinnerung daran mit den Worten zusammen: «Von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt, kostbar» (1. Pet 2,4). Das sind die gewaltigen Gegensätze, die sich vor uns auftun, wenn wir an den «Spross des Herrn» denken.
Vier verschiedene Seiten
In den vier Evangelien wird uns das Leben und Sterben des Herrn Jesus in vierfacher Weise vorgestellt. In jedem Evangelium sehen wir Ihn als den «Wurzelspross aus dürrem Erdreich», als Den, der Frucht für Gott brachte.
- Das Matthäus-Evangelium zeigt uns den Herrn Jesus als den König Israels, der zu seinem Volk kam. Dazu passt die Weissagung Jeremias: «Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da ich David einen gerechten Spross erwecken werde; und er wird als König regieren und verständig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land» (Jer 23,5). Als Er zum ersten Mal auf diese Erde kam, wollte das Volk seinen König nicht. Voller Spott schrieben sie eine Überschrift, die sie über seinem Haupt auf das Kreuz setzten: «Dieser ist Jesus, der König der Juden» (Mt 27,37).
- Im Markus-Evangelium finden wir den Herrn Jesus als den wahren Knecht und Propheten Gottes, der nicht gekommen war, um bedient zu werden, sondern um zu dienen (Mk 10,45). Dazu lesen wir im Propheten Sacharja das Gotteswort: «Höre doch, Josua, du Hoherpriester, du und deine Gefährten, die vor dir sitzen – denn Männer des Wunders sind sie; denn siehe, ich will meinen Knecht, Spross genannt, kommen lassen» (Sach 3,8). Der Dienst dieses Knechtes wurde abgelehnt. Man wollte Ihn nicht und ruhte nicht eher, bis man Ihn an ein Kreuz genagelt hatte.
- Lukas stellt uns den Herrn Jesus als den vollkommenen Menschen vor, der die Gnade und das Erbarmen Gottes offenbar machte. Auch dazu finden wir ein Wort Gottes im Propheten Sacharja: «So spricht der HERR der Heerscharen und sagt: Siehe, ein Mann, sein Name ist Spross; und er wird von seiner Stelle aufsprossen und den Tempel des HERRN bauen» (Sach 6,12). Der Herr Jesus war und ist der «Sohn des Menschen», ewiger Gott und doch gleichzeitig wirklicher Mensch, der in allem den Willen seines Gottes getan hat und deshalb auch einmal über alle Werke der Hände Gottes herrschen wird.
- Johannes schliesslich spricht vom Herrn Jesus als dem ewigen Sohn Gottes, der kam, um die Herrlichkeit Gottes zu zeigen. Dabei können wir sowohl an die zu Anfang zitierte Stelle aus Jesaja 4,2 denken, wo vom Spross des Herrn die Rede ist, als auch an die Worte aus Kapitel 60,21: «Dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, sie, ein Spross meiner Pflanzungen, ein Werk meiner Hände, zu meiner Verherrlichung.» Es war das Ziel alles Handelns des Herrn auf dieser Erde, seinen Gott zu verherrlichen.
Zu seinen Jüngern sagte der Herr Jesus einmal: «Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt» (Joh 15,8). Wenn das schon für uns gilt, wie viel mehr für Ihn selbst. Er war es, der wirklich viel Frucht gebracht hat. In seinem Leben gab es nichts, was nicht Frucht für den Vater und deshalb zu seiner Verherrlichung war. Wie viel Grund haben wir, sein vollkommenes Leben vor Augen zu haben und im Anschauen seiner Person in sein Bild verwandelt zu werden!