Die Königin von Scheba und der Kämmerer

Apostelgeschichte 8,26-39; 1. Könige 10,1-13

Diese beiden Erzählungen, die in so verschiedenen Teilen des Wortes enthalten sind, stellen in ähnlicher Weise Wahrheiten in den Vordergrund, die heutzutage noch ebenso wichtig und kostbar sind wie zu den Zeiten der Könige und der Apostel.

Sowohl bei der Königin von Scheba wie auch beim Kämmerer findet sich derselbe moralische Herzenszustand. Beiden genügen die besten Dinge, die ihnen reichlich zur Verfügung stehen, nicht mehr. Beide sind also zubereitet, um die Ruhe und die Fülle Christi aufzunehmen, die der einen Seele in Herrlichkeit, der andern aber in Gnade offenbart werden.

Der Königin von Scheba wurden alle königlichen Ehren zuteil. Alle Wonnen der Menschenkinder standen ihr zur Verfügung, und sie besass auch die Gesundheit und die Fähigkeit, um sie zu geniessen. Die Welt war zu ihrer Verfügung; aber die Welt hatte ihr Herz unbefriedigt gelassen. Sie war erfüllt von ungestillten Bedürfnissen, und der königliche Prunk sagte ihr nichts.

In ihrem Unbefriedigtsein unternahm sie eine lange und gefährliche Reise von den Enden der Erde bis nach Jerusalem. Denn sie hatte von der Weisheit des Königs gehört, der dort herrschte; der «Ruf Salomos wegen des Namens des HERRN» war zu ihr gedrungen.

Als sie in der königlichen Stadt anlangte, fand sie weit mehr als sie erwartet hatte. «Sie geriet ausser sich»; ihre Augen sahen Dinge, die sie ganz gefangen nahmen und sie mit einer unaussprechlichen und verherrlichten Freude erfüllten. Christus war da! Denn in jenen Tagen war Salomo ein Vorbild von Christus und ein Widerstrahl von seinem Glanz. Die Königin trat also in der Stadt des grossen Königs sozusagen in die Gemeinschaft mit Christus in seiner Herrlichkeit ein. Die Welt hatte in ihrem Herzen eine schmerzliche Leere zurückgelassen, nun aber machte es Christus zum Überfliessen voll. Er bekam für sie einen grösseren Wert als Gold und Silber und alle Reichtümer. Denn bei Ihm fand sie die Antwort auf all ihre Fragen. Ihre Seele wurde gestillt und ihre Augen haben Blicke tun dürfen in eine Herrlichkeit, die der Herrlichkeit Gottes entspricht. Sie brachte als Opfer ihrer Dankbarkeit Gold, Gewürze und Edelsteine dar, – alle Reichtümer ihres Königreiches. –

Der Kämmerer war ein mächtiger Mann am Hof der Kandaze, der Königin der Äthiopier. Auch er hatte schon längst, wenn ich so sagen darf, die Nichtigkeit der Dinge in der Welt erkannt. Sie genügten ihm nicht mehr. Er kommt uns vor wie einer, der für sich selbst die Götzen seines Landes den «Maulwürfen und Fledermäusen hingeworfen» hat, um sich zum Namen des Gottes Israels zu bekennen. Um diesem Glauben zu gehorchen, war er nach Jerusalem hinaufgefahren, wo der Gott Israels angebetet wurde.

Er war als Anbeter gekommen, aber er sah sich in seinen Erwartungen getäuscht. Es zeigte sich gegenüber der Erfahrung der Königin von Scheba ein auffallender Gegensatz. Während diese auf das Verlangen ihrer Seele in Jerusalem eine volle Antwort fand, zog der Kämmerer wieder mit einem hungrigen und dürstenden Herzen von dort weg.

Weshalb? Was war wohl die Ursache, dass diese beiden Reisen nicht zum selben Resultat führten? – Weil in den Tagen des Kämmerers Christus im Gottesdienst der Juden nicht gefunden werden konnte, wie es zur Zeit der Königin von Scheba der Fall war. Jerusalem war nicht mehr der Ort, wo man den König der Herrlichkeit in seiner Schönheit schauen konnte, wo alles von Ihm sprach und wo Spuren seiner Gegenwart und seiner Grösse gesehen wurden. Diese Stadt glich nicht mehr dem Berg der Verklärung. Er fand unter den Juden nur eine äussere Religiosität, nur Formen und Zeremonien eines fleischlichen Gottesdienstes, die Ordnung eines irdischen Heiligtums, aber nicht die Gegenwart des Christus Gottes. Dieser ungeheure Unterschied macht es verständlich, dass der Kämmerer diese Stadt traurig und enttäuscht verliess, in der die Königin von Scheba einst mit einer solch überströmenden Freude erfüllt worden war.

Das Herz des Kämmerers sollte aber an der gleichen Quelle gestillt und mit Christus erfüllt werden, nur mit dem Unterschied, dass der Herr es durch den Propheten Jesaja und nicht durch Salomo tat.

Philippus, der Diener und Zeuge des Herrn, wurde durch den Engel angewiesen, auf die öde Strasse hinab zu gehen, auf der der Kämmerer gerade zurückreiste. Er fand ihn nur mit einem Gegenstand beschäftigt und so darin versunken, dass ihn nicht einmal diese eigenartige Begegnung in der Einöde davon abzulenken vermochte. Eine neue Zuneigung hatte sich seiner Seele bemächtigt, die alles andere verdrängte. Er las mit grosser innerer Anteilnahme im Propheten Jesaja, und der Geist Gottes war in seinem Herzen wirksam. In einigen Augenblicken sollte Christus sich ihm offenbaren und seine verlangende Seele mit Freude erfüllen. Reiche Wasserquellen schickten sich an aufzubrechen, um das durstige Land zu bewässern.

«Philippus aber tat seinen Mund auf, und anfangend von dieser Schrift verkündigte er ihm das Evangelium von Jesus.» Bald darauf zog der Kämmerer «mit Freuden» seines Weges, wie die Königin von Scheba. Das Gold und die Edelsteine hatten einst für jene Seele vor der Weisheit Salomos ihren Glanz verloren, und sie tauschte die Schätze ihres Reiches gerne gegen die geistlichen Reichtümer ein. So kann sich auch der Kämmerer von Philippus trennen. Seine Seele ist von der Freude des Herrn erfüllt, und er besitzt den Christus Gottes, den die Königin nur im Vorbild kannte. –

Diese schönen Illustrationen von wichtigen und einander verwandten Wahrheiten lassen uns auch gewisse Unterschiede erkennen. Die Welt in ihrem ganzen königlichen Glanz hatte das Herz der Herrscherin, die über alles verfügen konnte, leer gelassen. Dem mächtigen Äthiopier war es so gegangen mit der Religiosität in Jerusalem, der Stadt der feierlichen Gottesdienste; sie vermochte das Herz dieses Gottsuchers nicht zu befriedigen. Das eine wie das andere, der Prunk der Welt wie auch die Religion der Welt, enttäuschen. Das Herz ohne Jesus ist leer und elend.

Noch ein anderer Unterschied: Die Königin von Scheba lernte Christus in seiner Herrlichkeit kennen, der Kämmerer aber erkannte Christus in der Gnade und in seiner Erniedrigung. Salomo ist ein Bild vom König in seiner Schönheit, Jesaja hingegen, in dem der Kämmerer las, zeigt das Lamm, dessen Blut vergossen wird, und jede dieser Offenbarungen entspricht so völlig dem Trachten eines erweckten Herzens. An dem Tag der Gnade und des Heils neigt sich Christus zu dem armen Sünder und gibt ihm Gewissheit und Ruhe. Später wird Er das Verlangen der Nationen und der ganzen Schöpfung Gottes stillen durch die Einführung seines Königreichs und die Entfaltung seiner Herrlichkeit. Aber es ist immer Christus, ob es sich nun um das auf dem Altar geopferte Lamm Gottes oder um den König der Ehre auf seinem Thron handelt. Seinem Volk bleibt nichts mehr zu wünschen übrig, es hat in Ihm die Antwort auf alle seine Fragen gefunden. Der Sünder hat beim Lamm Gottes Befriedigung und Ruhe erlangt, und die Schöpfung wird sich in dem erfreuen, von dem geschrieben steht: «Majestät und Pracht sind vor seinem Angesicht, Stärke und Freude in seiner Wohnstätte» (1. Chr 16,27). Alle Kreatur wird an der Herrlichkeit jenes Tages teilnehmen. Die Tochter Zion, die Nationen mit ihren Königen, die Tiere des Waldes und die Herden auf den Bergen, die Gewässer und die Wälder, die Hügel und die Täler, das ganze Universum wird an dieser alles umfassenden Freude, an dieser tiefen Befriedigung und Ruhe der Schöpfung Gottes teilhaben.

Lasst uns noch einen letzten Unterschied beachten: Am Tag seiner Herrlichkeit wird man den König aufsuchen – die Königin des Südens steigt zum Berg Zion hinauf, um Ihm ihre Huldigung darzubringen. Am Tag der Gnade ist es der Heiland, der sucht. Philippus, sein Diener und Zeuge sucht den Äthiopier und findet ihn.

Welche Harmonie, welche Genauigkeit, welche Schönheit in den Unterschieden all dieser Einzelheiten! Wie vollkommen sind doch die Wege dessen, mit dem wir es zu tun haben!