Die Güte und Strenge Gottes

Römer 9; Römer 10; Römer 11

In den Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefes gibt uns der Apostel Paulus einen Überblick über die Wege Gottes, sowohl mit Israel, seinem irdischen Bundesvolk, als auch mit uns Menschen aus den Nationen. Er beleuchtet das Verhältnis, in dem, den Gedanken Gottes gemäss, diese Wege zueinander stehen. Als bekehrter Israelit und gleichzeitig als berufener Apostel Jesu Christi für uns, die Nationen, war er wie kein zweiter befähigt, uns diesen Überblick zu geben. Am Schluss seiner Betrachtung preist er die Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes und ruft aus: «Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege!»

Halten wir hier, in gedrängter Form, einige Gedanken dieser wichtigen Kapitel fest:

Grosse Traurigkeit und unaufhörlicher Schmerz erfüllten das Herz des Apostels angesichts des Zustandes der Verhärtung des früher so reich bevorzugten Volkes Israels.

Gott hatte Abraham die Verheissung einer zahlreichen Nachkommenschaft gegeben. Doch nicht die Kinder des Fleisches sind Kinder Gottes, sondern nur die Kinder der Verheissung werden als Nachkommen gerechnet. Der Mensch muss sich bewusst sein, dass er in der Hand Gottes dem Ton gleicht, über den der Töpfer Macht hat, daraus zu bilden, was irgend er will. Gott hat sich das Recht vorbehalten zu begnadigen, wen Er will und zu verhärten, wen Er will. Gott ist niemals ungerecht, auch nicht in seinen Wegen der Auswahl, wenngleich Ihn der Mensch deswegen zu tadeln wagt!

Gott wahrt sich das Recht, sich ein Volk zu berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen. Er erhält Israel auch in der jetzigen Zeit einen Überrest nach Wahl der Gnade, gemäss seiner Auswahl. Dieselbe Gnade Gottes wird auch am Ende der Tage, in der Zeit der grossen Drangsal, dem Volk Israel einen Überrest übrig lassen.

Die Ursachen des Versagens Israels werden in Kapitel 9,30-33 und 10,1-3 aufgedeckt. Israel strebte wohl einem Gesetz der Gerechtigkeit nach. Es geschah aber nicht «aus Glauben», sondern als aus Werken. Sie trachteten danach, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sie haben sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen. Trotz ihrem Festhalten an den Heiligen Schriften war selbst bei den Pharisäern und Schriftgelehrten, als der Herr hier auf der Erde war, Unglaube vorhanden (siehe Johannes 5,39 und 46-47). Auch taten sie alle ihre Werke, um sich vor den Menschen sehen zu lassen (Mt 23,5). «Wie könnt ihr glauben», musste der Herr ihnen sagen, «die ihr Ehre voneinander nehmt und die Ehre, die von Gott allein ist, nicht sucht?» (Joh 5,44). Der Unglaube, die Selbstgerechtigkeit und die Ehrsucht gereichen noch heute vielen Menschen in der Christenheit zum Verhängnis.

Der Apostel setzt in Kapitel 10,5-13, die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist, der Gerechtigkeit aus Glauben gegenüber. Die Gerechtigkeit aus dem Gesetz kennzeichnet er durch das Wort: «Der Mensch, der diese Dinge tut, wird durch sie leben», ein Zitat aus 3. Mose 18,5, die Gerechtigkeit aus Glauben aber durch drei Verse aus 5. Mose 30,12-14. Dort sagt Mose: Das Gebot ist nicht im Himmel und ist auch nicht jenseits des Meeres. Der Apostel, geleitet durch den Geist, spricht von Christus statt vom Gebot: «Sage nicht in deinem Herzen: ‹Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?›, das ist, um Christus herabzuführen; oder: ‹Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?›, das ist, um Christus aus den Toten heraufzuführen.» Das Herabkommen des Christus vom Himmel, seine Menschwerdung, sein Tod und seine Auferstehung waren zur Erlösung des Menschen notwendig. Der Überrest aus den Juden wird am Ende erkennen, dass dies alles stattgefunden und Gott ihnen dadurch das Heil in greifbare Nähe gebracht hat: «Das Wort ist dir nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen.» Das ursprüngliche Wort in 5. Mose und das Zitat in Römer 10 zusammengenommen zeigen uns, dass «das Gebot» und «Christus» ein und dasselbe sind. Der Überrest wird sich mit seinem ganzen Herzen und mit seiner ganzen Seele dem Gebot, das heisst dem Wort Gottes, glaubend zuwenden und wird auf diesem Weg seinem Messias begegnen, dem vollen Heil, das Er ihm erwirkt hat.

Der Apostel betont aber auch, dass in Bezug auf das Heil, der Unterschied zwischen dem Juden und dem Griechen, das heisst dem Menschen aus den Nationen, aufgehoben ist. Derselbe Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen! «denn», sagt er, «jeder, der irgend den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden.»

In den Versen 10-13 ist die Heilsbotschaft in wunderbar klarer Form ausgedrückt:

  • Das Bekenntnis des Mundes, dass Jesus der Herr ist,
  • der Glaube des Herzens an den für uns nicht nur gestorbenen, sondern auch auferstandenen Herrn,
  • die Anrufung seines Namens zur Errettung,

kennzeichnen jede wahre Bekehrung.

Gott hat sein grosses Heil gewirkt und lässt es auch verkündigen. Er hat Prediger der guten Botschaft berufen und ausgesandt. Der Glaube, sagt der Apostel, ist aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort. Die treue, anhaltende Verkündigung des Wortes «in gelegener und ungelegener Zeit» ist von höchster Bedeutung. Derselbe Apostel ruft in seinem zweiten Brief an Timotheus, Kapitel 4, Verse 1-2, mit Ernst dazu auf. Hier kann er hinzufügen: «Ihr Schall ist ausgegangen zu der ganzen Erde und ihre Sprache zu den Grenzen des Erdkreises.»

Israel hat sich, mit wenigen Ausnahmen, der Verkündigung gegenüber ablehnend und feindlich verhalten; es hat dem Evangelium nicht gehorcht. Menschen aus den Nationen aber, die Gott nicht suchten, fanden Ihn. Er wurde solchen offenbar, die nicht nach Ihm fragten.

Aber der Apostel selbst war ein lebendiger Beweis davon, dass Gott sein Volk trotzdem nicht verstossen hat. Wie in der dunkeln Zeit des Elias besteht immer noch ein Überrest nach Wahl der Gnade. Die Rechte Gottes werden auch in diesem Zeitabschnitt gewahrt. Inmitten der allgemeinen Ablehnung erwählt sich die Gnade Gottes welche sie will; die übrigen werden verstockt (Röm 11,17)

Die Berufung von Menschen aus den Nationen als Folge der zeitweisen Beiseitesetzung Israels ist ein weiterer Grund für uns, die Weisheit Gottes zu bewundern: Der Fall (oder Fehltritt) Israels ist der Reichtum der Welt und sein Verlust (oder Niederlage) der Reichtum der Nationen. Aber Gott vergisst Israel nicht. Die Segnungen, deren die Nationen durch das Evangelium teilhaftig werden, sollten einige aus diesem Volk zur Eifersucht reizen, das heisst sie anspornen, sich durch die Annahme des Evangeliums ebenfalls danach auszustrecken. Paulus, der Apostel der Nationen, war dessen eingedenk und bemühte sich, wenn irgend möglich, einige aus ihnen zu erretten.

Israel als Nation ist zwar gestrauchelt; es wird aber wieder aufgerichtet werden. Seine Annahme wird auch für die Welt grossen Segen bedeuten. «Was wird sie anders sein», sagt der Apostel «als Leben aus den Toten». Das tausendjährige Reich wird in erster Linie für Israel, aber auch für alle Völker der Erde eine Zeit reichen göttlichen Segens sein.

Das Gleichnis vom Ölbaum bildet den Abschluss der Ausführungen des Apostels über das Verhältnis zwischen den Wegen Gottes mit Israel und seinen Wegen im Christentum. Gott hat Abraham zum universellen Träger seines Segens und seiner Verheissungen auserkoren: «Ich will dich zu einer grossen Nation machen und dich segnen, und ich will deinen Namen gross machen; und du sollst ein Segen sein! Und ich will die segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde! (1. Mo 12,2.3). Gott hiess ihn seine Augen nach Norden und nach Süden und nach Osten und nach Westen aufheben und verhiess ihm das ganze Land, das er sah, zum Eigentum. Gott setzte ihm keine Grenzen, wie Er es später für das Volk Israel tat. Dies dürfte der Grund sein, weshalb der Apostel von Abraham sagt, Gott habe ihm oder seiner Nachkommenschaft die Verheissung gegeben, dass er der Welt Erbe sein sollte (Röm 4,13). In Galater 3,16 lesen wir: «Abraham aber waren die Verheissungen zugesagt und seinem Nachkommen. Er sagt nicht: ‹und den Nachkommen›, als von vielen, sondern als von einem: ‹und deinem Nachkommen›, welcher Christus ist.» Christus ist der wahre Nachkomme Abrahams. Durch den Glauben an Ihn werden nun Menschen aus den Nationen in die Segnungen und Verheissungen eingeführt, die Gott Abraham gab. Diese Segnungen und Verheissungen, oder auch Abraham selbst als ihr Träger, sind der Ölbaum. Die Verheissung soll der ganzen Nachkommenschaft fest sein, «nicht allein der vom Gesetz, sondern auch der vom Glauben Abrahams, der unser aller Vater ist» (Röm 4,16). Sie wird gemäss der Gnade Gottes dem Glauben gegeben. So schreibt der Apostel den Galatern: «Erkennt also: Die aus Glauben sind, diese sind Abrahams Söhne. Die Schrift aber, voraussehend, dass Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen würde, verkündigte dem Abraham die gute Botschaft zuvor: ‹In dir werden gesegnet werden alle Nationen.› Also werden die, die aus Glauben sind, mit dem gläubigen Abraham gesegnet» (Gal 3,7-9). Die Nachkommen Abrahams, dem Fleisch nach, sind die natürlichen Zweige des Ölbaums. Ihnen waren in erster Linie die Segnungen und Verheissungen des Erzvaters zugedacht. Einige dieser natürlichen Zweige sind nun aber wegen des Unglaubens ausgebrochen worden.

Nun wird in der Christenheit der Glaube an den Herrn Jesus verkündigt. In ihr wohnt und wirkt immer noch der Heilige Geist. Sie ist der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaums teilhaftig geworden. Unter Hinweis auf die ernsten Regierungswege Gottes mit Israel wird sie nun gewarnt, nicht hochmütig zu sein, sondern sich zu fürchten und «an der Güte Gottes» zu bleiben, da auch sie sonst ausgeschnitten werden wird. Diese göttliche Androhung muss sich leider erfüllen, denn die Christenheit, als verantwortliche Körperschaft, ist nicht an der Güte Gottes geblieben, sondern hat sich völlig verdorben.

Die Verheissungen und der Segen Gottes gehörten «naturgemäss» den Nachkommen Abrahams, dem Fleisch nach. Wir, Menschen aus den Nationen, empfangen sie als eine besondere Gnade. Wir sind «gegen die Natur» in den edlen Ölbaum eingepfropft worden. Wir sollen uns dessen bewusst sein und demütig bleiben. Mit diesen Darlegungen enthüllt uns der Apostel ein Geheimnis, das uns vertraut werden soll, damit wir nicht uns selbst für klug halten. Israel, in der Gestalt des Überrestes, wird am Ende der Drangsalszeit ganz naturgemäss wieder in seine frühere Segensstellung eingeführt, die natürlichen Zweige in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden. So wird «ganz Israel», also nicht, wie es heute geschieht, einige aus Israel, sondern Israel als Volk errettet werden. «Aus Zion wird der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde» (Röm 11,25-27). Sie werden dann aber erkennen müssen, dass sie, die einst im Unglauben standen und darin eingeschlossen waren, nur aufgrund der wunderbaren, vergebenden Gnade Gottes wiederhergestellt und gesegnet werden konnten.

Am Ende seines Überblickes über die Wege Gottes kann der Apostel nur bewundern und anbeten, und wir mit ihm.

Die Gnade Gottes hat auch uns, die Gläubigen aus den Nationen, auserwählt und uns die höchsten Segnungen und die kostbarsten Verheissungen geschenkt. Möge ihre Betrachtung in uns eine demütige Gesinnung vor unserem Gott hervorbringen und einen Wandel bewirken, der zu seiner Verherrlichung ist!