Der Wille Gottes

Römer 12,1-2

Die Erbarmungen Gottes

Mit dem zwölften Kapitel beginnen im Römerbrief die praktischen Ermahnungen. Sie stehen in Verbindung mit den Belehrungen der vorangegangenen elf Kapitel, worin die Erbarmungen Gottes im Erlösungswerk Christi entfaltet werden. Diese wenden sich auf jeden Menschen an, der da glaubt, ob er aus den Juden oder aus den Nationen sei – beide Klassen sind durch die Sünde verdorben.

Im ersten Teil des Briefes (Röm 1 bis Röm 5,11) geht es um die Rechtfertigung von den Sünden durch den Tod Christi für uns. Sie gründet sich auf die Tatsache, dass Gott seinen eigenen Sohn dargestellt hat als ein Sühnmittel durch den Glauben an sein Blut.

Im zweiten Teil (Röm 5,12 bis Röm 8) aber beschreibt der Apostel die Befreiung von unserem Zustand in Adam, die durch unser Mitgestorbensein mit Christus am Kreuz zustande gekommen ist. Der Gläubige wurde dadurch in eine neue Stellung versetzt, in der er von der Sünde, deren Sklave er war, befreit ist. Er ist jetzt frei, um seine Glieder, mit denen er einst der Sünde gedient hatte, in den Dienst des Herrn zu stellen (Röm 6).

Im dritten Teil des Briefes (Röm 9 bis 11), der sozusagen einen Anhang bildet, beantwortet der Apostel einen Einwurf, den ein Jude bezüglich der ersten Kapitel erheben konnte, wo festgestellt wird, dass alle, Juden und Heiden, sich vor Gott auf demselben Boden des Verderbens befinden. Sowohl die Juden, die das Gesetz übertraten, als auch die Heiden, die Gott verlassen haben um den Götzen zu dienen, sind jetzt Gegenstände derselben Gnade. Aber was wird nun aus den Verheissungen, die den Vätern gegeben wurden? Wie sind sie zu vereinbaren mit der Gnade, die in der gegenwärtigen Haushaltung für alle herrscht? Der Apostel zeigt, dass, wenn die Juden auf dem Boden der Verantwortlichkeit jedes Recht an der Erfüllung der Verheissungen verloren haben, Gott sie aufgrund der Erlösung einzulösen weiss: Christus ist auch für das Volk gestorben; sein Werk am Kreuz ist die Grundlage für die Erfüllung der Verheissungen Israels. Das elfte Kapitel fasst die Barmherzigkeit und die Erbarmungen Gottes gegenüber allen mit diesen Worten zusammen: «Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, um alle zu begnadigen. O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!» (Röm 11,32.33).

Wozu ermahnt uns der Apostel durch die Erbarmungen Gottes?

In den Kapiteln 1 bis 11 hat der Apostel also die Reichtümer der Weisheit und der Liebe Gottes betrachtet, die sich darin offenbart haben, dass Er seine Ratschlüsse der Gnade uns und Israel gegenüber durch das Werk der Erlösung ausgeführt hat.

Nun kann Er die Gläubigen «durch die Erbarmungen Gottes» ermahnen, ihre «Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer», und er fügt hinzu: «Was euer vernünftiger Dienst ist.»

Könnte es mächtigere Beweggründe zum Handeln geben, als die Erbarmungen Gottes, die sich uns gegenüber entfaltet haben? Durch unsere Sünden hatten wir das Gericht Gottes auf uns herabgezogen; aber nach der Grösse seiner Erbarmungen hat Er sie uns vergeben und uns gerechtfertigt. Wir hatten eine widerspenstige, durch und durch böse Natur, die sich dem Willen Gottes nicht unterwarf; Gott aber hat uns davon befreit und hat uns das Leben und den Heiligen Geist – als die Kraft dieses Lebens – gegeben, damit wir ihm dienen können.

Was anders sollen wir nun mit diesem Leben anfangen, als es für Gott gebrauchen? Er will nicht mehr tote Schlachtopfer, die das Gesetz forderte. Er wünscht, dass wir Ihm unsere Körper darbringen, unsere Fähigkeiten, unsere ganze Person. Unsere Glieder, die früher willige Werkzeuge der Sünde waren, können jetzt Werkzeuge der Gerechtigkeit sein (Röm 6,13). Wir selbst dürfen ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer sein, so wie es das ganze Leben unseres teuren Herrn hier auf der Erde für Gott war.

Ein «vernünftiger Dienst»

Gott so zu leben, ist ein vernünftiger Dienst, nicht mehr eine knechtische Beobachtung zuvor festgelegter Gebote, die man unter Androhung des Gerichts nicht umgehen durfte. Als Teilhaber des Lebens Christi, im Besitz des Heiligen Geistes, können wir in Gemeinschaft mit dem Herrn prüfen, «was ihm wohlgefällig ist» (Eph 5,10) und «das Vorzüglichere» unterscheiden (Phil 1,10).

«Werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes»

Wir erfüllen diesen Dienst mitten im Zeitlauf dieser Welt, in der die Menschen durch weltliche Grundsätze beherrscht werden. Der «Lauf», in dem Satan, der Fürst dieser Welt, sie führt, ist dem Pfad Gottes, auf dem sich der Gläubige befindet, völlig entgegengesetzt. Der Erlöste ist nicht mehr von dieser Welt, hat aber in sich selbst noch die böse Natur, die ihn immer veranlassen möchte, nach den Grundsätzen des weltlichen Zeitlaufs zu wandeln, wenn er sie nicht dauernd im Tod hielte.

Es ist also nicht mehr die alte Natur, die den Gläubigen kennzeichnet. Seine Gesinnung ist erneuert worden. Er ist imstande, die Dinge nach Gottes Gedanken zu beurteilen, und diese Fähigkeit soll ihn unter der Wirksamkeit des Geistes praktisch verwandeln. Der erneuerte Sinn soll aus ihm hier auf der Erde einen Christen machen, der ein Licht ist in dieser Welt, statt eines Menschen in Adam, der sich selbst zum Mittelpunkt des Wirkens macht und die sittliche Finsternis, in der diese Welt seufzt, zum Bereich seines Wirkens hat. Der Gläubige empfängt also durch die erneuerte Gesinnung die Fähigkeit, geleitet durch das Wort den Willen Gottes zu erkennen, um sein ganzes Leben damit in Übereinstimmung zu bringen. Denn das Wesen des neuen Lebens ist der Gehorsam. Der Erlöste ist «auserwählt … durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam» (1. Pet 1,2). Es ist das Leben Dessen, der als Mensch beim Eintritt in diese Welt gesagt hat: «Ich komme, … um deinen Willen, o Gott, zu tun» (Heb 10,7), im Gegensatz zum ersten Adam, der nur seinen eigenen Willen getan hat. Die Glückseligkeit des Gläubigen besteht in der Erfüllung des Willens Gottes. Er hat ja in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen, dass der eigene Wille nur dem Tod Frucht bringen kann (Röm 6,16.21.23). Er ist nun frei, um zu gehorchen, denn die wahre Freiheit besteht darin, von Herzen Gottes Willen zu tun.

Nicht gleichförmig dieser Welt

Der Gehorsam vollzieht sich in der Abhängigkeit. Wir haben nötig, den Willen Gottes zu erkennen, um ihn zu erfüllen. Zu diesem Zweck werden wir uns von allem abwenden, was den Geist dieser Welt kennzeichnet, wo Christus verworfen ist. Vielmehr haben wir in ihr die Wesenszüge des gehorsamen, des vollkommenen Menschen zu offenbaren.

Wenn wir uns, in Unabhängigkeit von Gott, vom Geist dieses Zeitlaufs beeinflussen lassen, vom Suchen nach materiellem Wohlergehen und von den vielerlei Formen der Vergnügungen, wie können wir dann den Willen Gottes erkennen? Wenn wir statt des Wortes Gottes andere Führer vor Augen haben, werden wir Gott nicht mit Einsicht dienen und unsere Leiber nicht als ein lebendiges Schlachtopfer darstellen, Gott völlig hingegeben als «der Sünde gestorben» und «Gott lebend in Christus».

Oft ahmen wir nach, was andere getan haben oder handeln, weil wir schon früher so gehandelt haben und uns dies damals richtig schien. Oder wir lassen uns von dem treiben, was uns angenehm ist; wir berücksichtigen die natürlichen Bande, die Meinung der Welt, oder die Ansichten von Brüdern, die sich nicht in allem vom Wort Gottes leiten lassen, usw. Das alles zeugt nicht von geistlichem Verständnis; ein solcher Dienst ist nicht «vernünftig».

Die Gleichförmigkeit mit dem Zeitlauf dieser Welt hindert uns zu unterscheiden, was der Wille Gottes ist. «Darum seid nicht töricht, sondern verständig, was der Wille des Herrn sei» (Eph 5,17). «Wir beeifern uns … ihm wohlgefällig zu sein» (2. Kor 5,9), indem wir den Herrn, unser vollkommenes Vorbild nachahmen, der sagen konnte: «Er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue» (Joh 8,29).

Welch ein Glück, dass wir, alles beiseitelegend was vom Ich und von der Welt ist, den Willen Gottes erkennen und tun dürfen!

Der Wille Gottes in den Prüfungen

Oft legen solche, die aufgrund von unerklärlichen Regierungswegen Gottes durch schmerzliche Prüfungen zu gehen haben, diesen Vers in Römer 12,2 so aus: «Wir werden jetzt erfahren, dass Gottes Wille gut, wohlgefällig und vollkommen ist». Sie meinen, der ganze, durch die Prüfung ausgelöste Schmerz werde sogleich einem angenehmen Gefühl Platz machen, weil der Wille Gottes gut und vollkommen sei.

Das ist es aber nicht, was uns hier gesagt wird. Andere Stellen zeigen im Gegenteil, dass wir den Schmerz der Prüfung empfinden sollen, damit sie gute Früchte trage. Wir haben dabei nötig, im Glauben festzuhalten, dass der Wille Gottes gut, wohlgefällig und vollkommen ist. Wir beurteilen die Dinge von Gottes Seite her und wissen, dass alles aus seinem Willen hervorkommt, mag in unseren Umständen noch so vieles sein, was für das Fleisch oder für die menschliche Natur schmerzlich ist. Der Wille Gottes ist nicht nur für Ihn selbst, sondern auch für den neuen Menschen vollkommen. Er blickt auf die herrlichen Ergebnisse, die daraus entstehen, und ruht inmitten der Leiden auf der Tatsache, dass alles vom Willen Gottes kommt. Auch unser Herr Jesus hat dies verwirklicht, als Er sagte: «Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir» (Mt 11,26), und zwar in einem Augenblick, der für seine Seele überaus schmerzlich war: Er stellte jetzt seine Verwerfung seitens seines geliebten Volkes fest, die mit seinem Tod am Kreuz enden musste. So hat auch der Apostel Paulus, nachdem er dreimal zum Herrn gefleht hatte, dass ihm der Dorn weggenommen würde, sagen können: «Daher will ich mich am allerliebsten viel mehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten für Christus; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark» (2. Kor 12,8-10).

Wie gut, wohlgefällig und vollkommen ist doch der Wille Gottes!

Wenn man einige Stellen überdenkt, in denen ausgedrückt wird, was «der Wille Gottes» zustande gebracht hat, ist man betroffen von der Wahrheit, dass der Wille Gottes in sich selbst so herrlich und wunderbar ist. Wir lesen in Epheser 1,5: «Und uns zuvor bestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst, nach dem Wohlgefallen seines Willens.» In Gal 1,4: «Der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters.» In Jakobus 1,18: «Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt.» Paulus nennt sich mehrmals: «Paulus, berufener Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen.» In allen diesen und vielen anderen Fällen beeindruckt es uns tief, wie gut, wohlgefällig und vollkommen der Wille Gottes ist.

Aber Gott wollte auch, dass wir, verwandelt durch die Erneuerung unseres Sinnes, seinen Willen in allen Umständen erkennen möchten, denen wir auf unserem Weg begegnen. Immerhin wäre es für die Seele ein Verlust, wenn sie in Römer 12,2 nur eine Ermahnung sähe, in allen schmerzlichen Umständen, durch die uns Gott gehen lässt, festzuhalten, dass der Wille Gottes vollkommen ist.

Es handelt sich nicht nur um das. Die Stelle zeigt uns auch, dass wir, abgesondert von diesem Zeitlauf, prüfen sollen, welches der Wille Gottes ist, um ihn zu erfüllen und unsere Leiber als ein lebendiges Schlachtopfer darzustellen, was unser vernünftiger Dienst ist. Was uns dazu bewegt, sind die Erbarmungen Gottes. Dieser Wille Gottes, den wir erfüllen werden, ist gut, wohlgefällig und vollkommen. Das war er auch für unseren geliebten Heiland: «Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens» (Ps 40,9). «Die Vorschriften des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz; das Gebot des HERRN ist lauter und erleuchtet die Augen» (Ps 19,9). Wie glücklich und voll köstlicher Ruhe ist doch die Seele, die den Willen Gottes erkennt und in den guten Werken wandelt, die uns Gott zuvor bereitet hat!

Am Richterstuhl des Christus werden wir die verborgenen Anordnungen Gottes in unserem Leben, vor welchen wir uns jetzt beugen, ganz verstehen und völlig erkennen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken. Lasst uns, in Erwartung jenes Tages, nicht diesem Zeitlauf gleichförmig sein, sondern uns verwandeln lassen durch die Erneuerung unseres Sinnes! Möge das Wort Gottes, das uns mächtige Beweggründe zum Handeln aufzeigt, in unseren Herzen wirken, uns beherrschen und uns in allen Dingen in den Gedanken Gottes bewahren! Das war der Wunsch des Apostels für die Philipper, als er sagte: «Und um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen mögt, was das Vorzüglichere ist, damit ihr lauter und ohne Anstoss seid auf den Tag Christi, erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes» (Phil 1,9-11).