Mitleiden und sich mitfreuen

1. Korinther 12,26

In 1. Korinther 12,26 beschreibt der Apostel Paulus das gegenseitige Mitempfinden und Anteilnehmen unter den Gläubigen als Glieder des einen Leibes Christi wie folgt: «Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit.»

Das Mitleiden hat zwei Aspekte. Die eine Seite des Mitleidens ist zwingend. Im Leib des Christus ist es wie bei unserem Körper. Wenn z.B. der kleine Finger leicht verletzt ist, spürt dies der ganze Körper. Und wenn ein Gläubiger, der ja ein Glied des Leibes Christi ist, leidet, weil er in einer Versuchung versagt hat und gefallen ist, oder weil er infolge geistlicher Lauheit auf dem Glaubensweg zurückgefallen ist, dann werden dadurch alle Glieder betroffen, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist. Der Zustand des Ganzen setzt sich aus dem Zustand der einzelnen Glieder zusammen. Nimm z.B. ein Gefäss mit heissem Wasser. Wenn du nur zwei Tropfen kaltes Wasser hinzufügst, wird sich die Temperatur des Ganzen etwas senken. Genauso ist es in der Versammlung. Wenn nur einer dasitzt, dessen Herz dem Herrn gegenüber kalt geworden ist, wird es die ganze Versammlung beeinflussen. Alle werden mit dem leidenden Glied mitleiden.

In diesem Vers geht es aber eher um ein aktives Mitleiden, weil es mit unserer Verantwortung verbunden ist. Wir werden zu diesem Mitempfinden aufgefordert. Wir sind es einander schuldig. Und wie schön ist es, wenn das Mitleid der ganzen Versammlung gegenüber einem ihrer leidenden Glieder zum Ausdruck kommt! Eine solche Entfaltung von Sympathie gegenüber vorhandenem Leid verbindet die Herzen der Geschwister noch enger. Zudem wird dadurch etwas von den Wesenszügen Christi sichtbar, den unsere Schwachheiten nicht unberührt lassen. Wie oft lesen wir von Ihm, dass Er innerlich bewegt wurde! So lasst uns also, wenn uns Gläubige begegnen, die leiden, nicht einfach unserer Verantwortung nachkommen, mitzuleiden, sondern die Gelegenheit ergreifen, etwas von der Gnade des Herrn Jesus zu offenbaren, der selbst unsere Schwachheiten auf sich nahm und unsere Krankheiten trug.

Der anderen Seite unserer Verantwortung nachzukommen – sich mitzufreuen, wenn ein Glied verherrlicht wird –, ist viel schwieriger. Es wird der Fall vorausgesetzt, dass der Herr einem der Seinen eine besondere Ehre zuteilwerden lässt, dass Er ihm eine besondere Bedeutung gibt oder ihn in auffallender Weise in seinem Dienst gebraucht. Wenn dies der Fall ist, wird angenommen, dass sich alle Glieder über diese Erhöhung freuen. Ich sage, dass dies angenommen wird; und es ist wirklich so, wenn die Einheit des Leibes praktisch ausgelebt wird, dann gibt es diese vollkommene Anteilnahme. In einer menschlichen Familie kann dies oft beobachtet werden. Wenn ein Familienglied irgendeine hohe Auszeichnung erhält, fühlt sich die ganze Familie geehrt und freut sich mit dem, der ausgezeichnet worden ist. In der Versammlung Gottes sollte es ebenso sein. Aber sagen wir wohl zu viel, wenn wir meinen, dass Sympathie in diesem Fall seltener ist, als wenn es um Leiden geht? Wir sind so arme, schwache Geschöpfe, dass wir, anstatt uns mit dem zu freuen, den der Herr z.B. besonders begabt hat, in dieser Wahl des Herrn Grund zu Neid und Eifersucht finden. Solche Gefühle sollten unter den Gläubigen nicht einmal aufkommen. Aber sind sie uns wirklich so unbekannt? Wir alle haben nötig, über uns selbst zu wachen. Wir kennen doch unser Fleisch. Wenn wir in dieser Sache versagen, gibt es keinen anderen Weg als den des Selbstgerichts. Und mehr als das. Wir sind verantwortlich, uns mit den Gliedern mitzufreuen, die verherrlicht werden. Der Herr erwartet diese Einheit in den Empfindungen füreinander und möchte, dass sie auch gesehen wird.

Johannes der Täufer mag dazu als Illustration dienen, obschon er nichts vom Leib des Christus wusste. Seine Jünger sagten zu ihm: «Rabbi, der jenseits des Jordan bei dir war, dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm.» Da gab Johannes zur Antwort: «Ein Mensch kann gar nichts empfangen, wenn es ihm nicht aus dem Himmel gegeben ist. Ihr selbst gebt mir Zeugnis, dass ich sagte: Ich bin nicht der Christus, sondern dass ich vor ihm hergesandt bin. Der die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, ist hocherfreut über die Stimme des Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt. Er muss wachsen, ich aber abnehmen.» (Joh 3,26-30). Welch demütige Gnade, die nur an Christus denkt und von sich selbst nichts hält, die sich nur über seine Freude freut. Diese Gesinnung sollten auch wir fördern. Und wenn wir sie zum Ausdruck bringen, zeigen wir, dass wir Christus angehören und Ihm auf dem Weg der Demut und der Selbsterniedrigung nachfolgen, die seinen Weg auf der Erde charakterisierten. Dann werden wir keine Schwierigkeit haben, uns mitzufreuen, wenn ein Glied verherrlicht wird.