Gott, offenbart im Fleisch (1)

1. Timotheus 3,16; Hebräer 2,10.14.17

Das Kommen des Herrn auf diese Erde wird allezeit die Anbetung und Bewunderung der Erlösten wie auch der Engel hervorrufen. Von aller Ewigkeit her ist er in Bezug auf Erde und Himmel der Mittelpunkt der Ratschlüsse Gottes. Aber diese Ratschlüsse erforderten zu ihrer Erfüllung die Menschwerdung und den Opfertod seiner hochgelobten Person.

In unserer Schriftstelle wird das «Geheimnis der Gottseligkeit», in dem unter anderem auch die Tatsache seiner Fleischwerdung eingeschlossen ist, «anerkannt gross» genannt. Gerne werden alle, die ihm angehören, diesem Beisatz von Herzen beistimmen. Stehen sie nicht alle, wie auch die heiligen Engel und Engelfürsten, vor einem unergründlichen Geheimnis seiner be­wun­de­rungs­wür­di­gen Person, wenn sie von ihm lesen: «Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns»? (1. Joh 1,14). Christus, der Sohn der Liebe des Vaters, kam auf diese Erde herab und wohnte unter uns Sündern. Gott sandte nicht ein erschaffenes Wesen zu uns, sondern den, «durch den er … die Welten gemacht hat» (Heb 1,2), und dieser kam freiwillig zu uns, als der von Gott Gesandte. Seine Existenz war bis dahin im Himmel, «seine Ursprünge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her» (Micha 5,1). Er stieg auf diese Erde herab, um «in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde» (Röm 8,3) seinen Platz unter den Menschen einzunehmen, als ob er einer von ihnen gewesen wäre. Aber wenn er auch «in allem» den Brüdern gleich werden musste (Heb 2,17), so bestehen doch zwischen ihm und uns, die wir dem «ersten Menschen» entstammen, gewaltige, wesentliche Unterschiede. Gottes Geist wacht aufmerksam und mit Eifer darüber, dass kein Ausdruck im Wort sei, der zu einer falschen Auffassung über seine wunderbare Person Anlass geben könnte.

Als Petrus auf dem Berg der Verklärung drei Hütten machen und die grossen Männer des alten Bundes in gleicher Weise ehren wollte wie seinen Meister, kam die Stimme aus der Wolke: «Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn hört» (Lk 9,35). Gott erlaubte nicht, dass irgendjemand seinem geliebten Sohn gleichgestellt werde.

Er, «der zweite Mensch», kam aus dem Himmel, und obwohl er in Gleichheit der Menschen geworden ist und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden wurde (Phil 2,7.8), so besteht doch ein gewaltiger Unterschied in Wesen und Charakter zwischen diesem zweiten, aus dem Himmel herabgestiegenen Menschen und uns, dem Geschlecht des ersten Menschen! Während er hier auf der Erde wandelte, konnte er sich «der Sohn des Menschen, der im Himmel ist» nennen (Joh 3,13). Er war nicht von der Erde, obgleich er in Niedrigkeit gesehen wurde. Er war nicht aus dem Staub gebildet, noch wurde er in Sünde empfangen (Ps 51,7). Seine Zeugung geschah durch den Heiligen Geist: «Der Heilige Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten, darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Sohn Gottes genannt werden» (Lk 1,35). Jesaja hat ihn mit den Worten angekündigt: «Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben» (Jes 9,6) – Gott und Mensch in ein und derselben heiligen Person.

Ihm wurde nicht der Odem Gottes eingehaucht, damit er «eine lebendige Seele» werde. Nein, «in ihm war Leben» (Joh 1,4). Er ist «das Wort des Lebens, das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart worden ist» (1. Joh 1,1.2), und «dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben» (1. Joh 5,20). Als solcher wurde er in seiner angenommenen Gestalt als Mensch und Knecht den Seinen, die mit ihm wandelten, offenbart. «Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit, als eines Eingeborenen vom Vater» (Joh 1,14). «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes» (Mt 16,16). Der erste Mensch hat der Verantwortlichkeit, seinen Zustand in Unschuld zu bewahren, nicht entsprochen. Daher kam er unter das Urteil der Sünde und des Todes. Aber der zweite Mensch sprach: «Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat und sein Werk vollbringe» (Joh 4,34). Drei Zeugen sind es, die seine fleckenlose Reinheit und Vollkommenheit als Mensch bezeugen:

  • Petrus sagt von ihm: «Der keine Sünde tat» (1. Pet 2,22),
  • Johannes: «Sünde ist nicht in ihm» (1. Joh 3,5),
  • Paulus: «Der Sünde nicht kannte» (2. Kor 5,21).

Und er selbst konnte seine Feinde mit der Frage herausfordern: «Wer von euch überführt mich der (oder: einer) Sünde?» (Joh 8,46). Anbetungswürdiger Herr, Gott, offenbart im Fleisch!

Bei der Betrachtung des Weges der Erniedrigung unseres Herrn, wie er in den Evangelien geschildert wird, werden unsere Herzen tief berührt, menschliche, aber völlig sündlose Bedürfnisse und Empfindungen bei ihm wahrzunehmen. «Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn schliesslich» (Mt 4,2 und Lk 4,2). «Jesus nun, ermüdet von der Reise, setzte sich so an der Quelle nieder» (Joh 4,6). «Jesus vergoss Tränen» (Joh 11,35). Doch niemals führten ihn Hunger, Müdigkeit und Schmerz dahin, seinen Gott und Vater durch Ungehorsam zu verunehren oder seinen Dienst für ihn zu unterbrechen. Er, der Schöpfer, hat sich freiwillig diesen Besonderheiten des Geschöpfes unterstellt, um «in allem den Brüdern gleich zu werden» (Heb 2,17). «Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen, damit er durch den Tod den zunichtemachte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren.» (Heb 2,14.15). Der Zweck seines Kommens in Niedrigkeit war der, uns von den Folgen unseres tiefen Falles zu befreien, und deshalb führte ihn sein Weg in die Tiefen des Todes. Er war der Einzige, der nicht dem Tod unterworfen war, denn er war der aus dem Himmel herabgestiegene «zweite Mensch». Aber weil er nicht ohne uns im Himmel sein wollte, kam er freiwillig in Niedrigkeit auf diese Erde herab – die um der Sünde des ersten Menschen willen unter den Fluch gekommen ist – um unter uns zu leben und zu dienen, um Gott zu offenbaren und sein Werk zu vollbringen. Dabei bekam er selber die Folgen dieses Fluches zu spüren. Und endlich ist er am Kreuz sogar für uns ein Fluch geworden, um dort die Schuld und Sünde derer, die aus dem Geschlecht Adams an ihn glauben würden, zu sühnen.

Von dem in seinem Leben offenbarten Gehorsam und seiner wahrnehmbaren Schwachheit in einer Weise zu reden, als ob er nicht anders zu handeln vermochte und als ob er wie andere Menschen hätte lernen müssen, wäre höchst ungeziemend und zeugte von Mangel an Ehrfurcht vor seiner Person. Nein, er brauchte nicht zu lernen, wie wir. Aber er hatte freiwillig gewählt, hungrig und müde zu sein und durch das Leid dieser Erde als Folge der Sünde des Menschengeschlechts hindurchzugehen. Darin offenbarte er zu unserem Heil und aus eigenem Antrieb sein göttlich liebendes Herz. Wie wurde dies offenbar, als er angesichts des bevorstehenden Gerichts über Jerusalem weinte und wegen des Todes, der grössten und schrecklichsten Folge der Sünde, am Grab des Lazarus Tränen vergoss!

Er war gekommen, um seinen Gehorsam zu offenbaren. Freiwillig trat er auf dieser Erde in Umstände ein, die es beim Vater im Himmel für ihn nicht gab. Dort war er der Befehlende, «der seine Engel zu Winden macht, seine Diener zu flammendem Feuer» (Ps 104,4) Aber jetzt, in den von ihm selbst gewählten Umständen der Erniedrigung, machte er als Gottes Knecht praktische Erfahrungen davon, was Gehorsam ist.

Lasst uns in diesem Zusammenhang einige, oft falsch verstandene Schriftstellen näher betrachten:

1. Hebräer 2,10

«Es geziemte ihm … den Urheber ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen.»

Der hochgepriesene Herr selbst ist der Weg des Lebens und führt die Seinen auf diesem Weg. Wenn er nun der Anführer unserer Errettung werden sollte, so musste er durch Leiden gehen. Wir verstehen gut, dass sein heiliges, vollkommenes Leben uns nicht retten konnte. Deshalb musste sein Weg über Gethsemane und Golgatha gehen, wo er durch die Leiden des Todes als der Sünder-Heiland vollkommen gemacht wurde. «Vollkommen gemacht» bezieht sich nicht auf seine Person, sein Wesen oder Charakter, sondern auf seine Eignung als Heiland der Sünder, die am Kreuz, inmitten der schwersten Prüfungen und Leiden, ins volle Licht gestellt wurde. Denn nur durch sein Leiden und Sterben konnte er Sünden wegnehmen, den Teufel überwinden und den Tod zunichtemachen, so dass nun keine Macht der Welt und der Hölle uns seiner, des Überwinders Hand mehr entreissen kann. Er, der jetzt nach vollbrachtem Werk als Mensch mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist, und uns dadurch die Gewissheit gegeben hat, dass unsere Sünde für ewig beseitigt ist, hat dem Tod den Stachel genommen und ist somit der rechte Sünder-Heiland geworden. Es steht ausser Frage, dass er in sich selbst allezeit, sowohl als Gott wie auch als Mensch, vollkommen war, aber, «um viele Söhne zur Herrlichkeit zu bringen», ging er durch Leiden und Tod und wurde darin im Blick auf das Werk, das Gott durch Ihn ausführen liess, vollkommen erfunden.

2. Hebräer 2,14.17

«Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen», und: «Daher musste er in allem den Brüdern gleich werden.»

Es ist zu beachten, dass zwischen dem «Fleisches-und-Blutes-teilhaftig-sein» und dem auf ihn bezogenen «teilgenommen» ein grosser Unterschied besteht. Von ihm wird nur gesagt, er habe «gleicherweise daran teilgenommen», um zu zeigen, dass er nicht des Fleisches und Blutes der «Kinder», in ihrem verdorbenen Zustand nach dem Sündenfall, teilhaftig ist. An der Sünde und ihrem Lohn hat er keinen Anteil, weshalb auch der Tod keine Macht über Ihn haben konnte. Zwar unterwarf er sich ihm freiwillig, im Gehorsam unter den Willen des Vaters, aber dies geschah nicht um seinetwillen, sondern in Stellvertretung für uns. Auch trat er nicht in unsere Umstände und Lebensbedingungen ein, die vor dem Fall bestanden haben, sondern in die des Menschen­geschlechtes, das durch die Sünde schon durch und durch verdorben war. Aber dann ging Er, ohne jede Spur von Sünde, durch dieses Leben auf der sündigen Erde hindurch, obwohl er geradeso wie jeder andere Mensch Schmerzen, Trauer, Hunger, Müdigkeit und Prüfungen ausgesetzt war.