Der Überwinder und sein Lohn (1)

Offenbarung 2,7.11.17

Einleitung

Im ersten Kapitel der Offenbarung wird eine Einteilung des Buches in drei Hauptabschnitte gegeben: «Was du gesehen hast, und was ist, und was nach diesem geschehen wird» (V. 19). Diese Einteilung umfasst in der prophetischen Sicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

  1. «Was du gesehen hast» nimmt Bezug auf Kapitel 1, auf die Vision des Apostels Johannes auf der Insel Patmos. Er sah dort den Herrn Jesus in seinem Charakter als Richter.
  2. «Was ist» finden wir in Kapitel 2 und 3. Das ist die Zeit der Versammlung als Leuchter auf der Erde.
  3. «Was nach diesem geschehen wird» ist eine Beschreibung der zukünftigen Gerichte. Sie beginnt ab Kapitel 4. Das Buch endet mit einer Darstellung der himmlischen Stadt Jerusalem, sowohl in ihrem ewigen Zustand als auch in ihrer Beziehung zur Erde während des zukünftigen Tausendjährigen Reiches.

Der Herr Jesus wird in diesen Kapiteln nicht als Haupt seines Leibes vorgestellt, der die Versammlung «nährt und pflegt». Vielmehr steht Er hier urteilend, warnend und richtend vor den Versammlungen. Dementsprechend wird auch die Versammlung hier nicht in ihrer himmlischen Stellung gesehen, sondern als ein Leuchter, der sich für eine begrenzte Zeit auf der Erde befindet. Nach 1. Timotheus 3,15 ist sie der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit und deshalb berufen, von dieser Wahrheit zu zeugen. Auch sollte sie praktisch ein Brief Christi sein, gekannt und gelesen von allen Menschen (2. Kor 3,2). Der Hauptgedanke in diesen Kapiteln ist deshalb nicht Segen und Vorrechte, sondern Verantwortung. Der Herr selbst, der «Augen wie eine Feuerflamme hat», beurteilt ihr Verhalten und ihren Zustand (Off 1,14). Das, was nicht in Übereinstimmung ist mit ihrer hohen Berufung, nämlich Licht über Gott und den Herrn Jesus zu verbreiten, muss Er tadeln und schliesslich richten. Der Gedanke, dass «das Gericht am Haus Gottes anfängt», ist sehr ernst und wird in den Sendschreiben deutlich unterstrichen. Das Gericht über die Versammlung als verantwortliches Zeugnis beeinflusst aber die ewige Errettung und Sicherheit des einzelnen Gläubigen in keiner Weise.

Wir sollten beim Lesen von Kapitel 2 und 3 der Offenbarung daran denken, dass man sie auf verschiedene Weise betrachten kann.

Die in diesen Kapiteln erwähnten sieben Versammlungen bestanden damals tatsächlich. Sie wurden in den an sie gerichteten Briefen auf ihren Zustand aufmerksam gemacht und ernstlich gewarnt. Diese Warnungen sind auch auf uns anwendbar, sei es als örtliche Versammlung oder als einzelne Gläubige. «Was der Geist den Versammlungen sagt», hat auch Gültigkeit für die jetzige Zeit bis zum Kommen des Herrn.

Der Heilige Geist benutzte diese sieben Versammlungen aber auch – und damit kommen wir zur zweiten Art der Betrachtung –, um uns von Ephesus (der ersten Versammlung) bis Laodizea (der letzten Versammlung) ein prophetisches Bild von der Zeit der Versammlung auf der Erde zu zeichnen. In diesem Sinn ist das «Buch», das von den Briefen an die sieben Versammlungen gebildet wird, ein Abriss der Geschichte der Versammlung unter Verantwortung, beginnend mit ihrem Verfall. Der Charakter der Offenbarung tritt dadurch klar hervor: Es ist ein Buch der Weissagung. Wir tun aber gut daran, uns immer wieder an den eigentlichen Zweck der Weissagung (Prophetie) zu erinnern: Sie enthüllt nicht nur zukünftige Dinge, sondern möchte in erster Linie Eingang in unsere Herzen und Gewissen finden. Nur so werden wir beim Lesen und Nachdenken einen inneren Gewinn haben.

Der Überwinder

Der Überwinder wird am Ende jedes Briefes erwähnt. In den ersten drei Schreiben richtet sich der Ruf zum Überwinden noch an die ganze Versammlung, in den letzten vier an einen Überrest. Es ist jedoch ein persönlicher Ruf. Wenn nämlich die Versammlung als Ganzes versagt und trotz der Warnung des Herrn keine Buße tun will, dann wird der einzelne zum Hören aufgerufen, und zwar soll er auf sein Wort hören, auf nichts anderes. «Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt.» Das Ohr ist viel wichtiger als der Mund. Im letzten Schreiben, dem an Laodizea, werden wir finden, dass man kaum noch hören will. «Ich bin reich und bedarf nichts», sagt man dort. Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit daran, wie entscheidend für uns als Gläubige das Hören ist. Es steht immer am Anfang «aller guten Werke» und ist das beste Heilmittel gegen alles «Falsche».

Durch das Hören wird man fähig, das Abweichen zu erkennen und zu beurteilen. Im Herzen des treuen Gläubigen reift dann der Wunsch, das erkannte Böse zu überwinden. Und zwar geht es hier – beachten wir es wohl – um Böses innerhalb des Hauses Gottes. Dementsprechend ist auch das Überwinden nicht so sehr ein Überwinden der Welt (1. Joh 5,5), sondern mehr ein Überwinden von Zuständen innerhalb der Versammlung. Der Überwinder wird sozusagen zu einem Menschen, der «gegen den Strom schwimmt». In Smyrna und Philadelphia, wo der Herr nichts zu tadeln hat, trägt das Überwinden mehr den Charakter von «treu sein» und «festhalten».

Zur Stärkung und Ermunterung verheisst der Herr dem treuen Überwinder einen Lohn. Er empfängt ihn zwar erst im Himmel, aber alle, die überwinden möchten, können sich jetzt schon daran erfreuen und ihn zum Teil geniessen.

Es ist der Mühe wert, über den Charakter dieses Lohns zu sinnen. Keiner von uns wird sich beim Betrachten der Sendschreiben dem Ernst dieser Mitteilungen entziehen können, aber die in Aussicht gestellte Belohnung gibt Trost und Ermunterung für ein Herz, das den Herrn liebt.

Der Lohn des Überwinders

In Ephesus

«Dem, der überwindet, dem werde ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist» (Off 2,7).

In dieser Versammlung war äusserlich alles noch in Ordnung. Aber der Herr, der «Herz und Nieren erforscht», sah tiefer: Sie hatten ihre «erste Liebe» verlassen, und das war die eigentliche Ursache des Rückgangs in Ephesus und damit auch der Beginn der Abwärtsentwicklung in der Geschichte der Versammlung. Was nützen die guten Werke und emsige Tätigkeit, wenn nicht die Liebe der wahre Beweggrund ist? Die Klage des Herrn: «Ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast», hinterlässt auch in unseren Herzen einen tiefen Eindruck. Der Herr will nicht in erster Linie unsere Pflichterfüllung und unseren Dienst – obwohl dieser sehr nötig ist –, sondern uns selbst, unser Herz. Er, der die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, wartet auf eine Erwiderung dieser Liebe. «Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte» (Lk 17,10). Liebe will mehr tun als nur das Befohlene. Und wenn wir keine Liebe haben, so werden wir zu «schallenden Zimbeln und tönenden Erzen».

Für den Überwinder in Ephesus gibt es einen reichen Lohn: Er darf nach Belieben essen von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist. Das lässt uns an den Baum des Lebens denken, der einst in der Mitte des Gartens Eden stand.

Das Wort «Paradies» ist orientalischer Herkunft und bedeutet soviel wie «Garten der Wonne». Es kommt dreimal im Neuen Testament vor und dreimal in ähnlichem Sinn im Alten Testament: Lukas 23,43; 2. Korinther 12,4; Offenbarung 2,7; Nehemia 2,8 (königlicher Forst); Prediger 2,5 (Garten); Hohelied 4,13 (Lustgarten).

Im Garten Eden (den man auch «Paradies des Menschen» nennt, obwohl das Wort Paradies hier nicht vorkommt) lebte der Mensch in Unschuld. Dieses Leben war allerdings von seinem Gehorsam abhängig. Leider übertrat er eines Tages das Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, und ging damit des Lebens in Unschuld verlustig. Danach musste Gott ihm auch verwehren, vom Baum des Lebens zu essen, wozu er in seinem ersten Zustand völlig frei gewesen wäre. Wir lesen nicht, dass Gott ihm das verboten hätte. Im Paradies Gottes finden wir nicht mehr den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, das Symbol der Verantwortung, sondern nur noch den Baum des Lebens, Ihn selbst, der neues Leben gibt, das vom Bösen nicht angetastet werden kann.

So war der Garten Eden nur ein Schatten vom Paradies Gottes, wo der Überwinder von der Frucht des Baumes des Lebens essen darf. Der Herr Jesus war auf der Erde «der Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit» (Psalm 1,3). Liebe, Güte und Freundlichkeit sind ein Teil dieser Frucht, die Er zu «seiner Zeit brachte». Im Paradies Gottes wird einst der Überwinder die ganze Fülle der Frucht geniessen und sich sättigen.

In Smyrna

«Wer überwindet, wird nicht beschädigt werden von dem zweiten Tod» (Off 2,11).

Kirchengeschichtlich spricht Smyrna von der ungefähr zweihundert Jahre dauernden Christenverfolgung unter den damaligen römischen Herrschern. Die Gläubigen dieser Versammlung werden ermuntert, in den über sie kommenden Drangsalen auszuharren. Sie sollten eine bestimmte Zeitlang geprüft werden und treu bis zum Tod sein. Der Herr verspricht diesen Märtyrern die Krone des Lebens und stellt dem Überwinder in Aussicht, nicht vom zweiten Tod beschädigt zu werden.

Man könnte fragen: Ist diese Aufforderung zum Überwinden für uns noch anwendbar, da wir doch heute nicht mehr durch solche Drangsale gehen wie die Gläubigen in Smyrna? Wir glauben ja, denn die Quellen der Feindschaft und des Widerstandes gegen die wahren Christen sind auch heute vorhanden. Sie offenbaren sich nur in einem anderen Charakter. Die Verfolgung in Smyrna kam von zwei Seiten: von der «Synagoge des Satans» (religiöse Macht) und vom Teufel (der brüllende Löwe, wirksam in weltlichen Herrschern). Was hatten die bedrängten Gläubigen dieser Versammlung dem entgegenzusetzen? Geduld, Treue und Sanftmut. Das war ihre Waffe gegen den Feind. Wie werden diese Märtyrer die besondere Nähe ihres Herrn erfahren haben, sein besonderes Mitfühlen, wie es in den Worten zum Ausdruck kommt: «Dieses sagt …, der starb und wieder lebendig wurde» (Off 2,8)! Der Lohn wird die Krone des Lebens sein und die Zusage, nicht vom zweiten Tod beschädigt zu werden. Ein Märtyrer kann durch den Verlust seines irdischen Lebens die Trennung von Seele und Leib erfahren, aber das ewige Leben bleibt davon unberührt. Und der zweite Tod, die am Ort der Qual vollzogene Trennung von Gott, wird ihn nie erreichen (Off 20,14.15).

Die Geschichte dieser Versammlung zeigt uns, dass die eigentliche Kraft in der Versammlung nicht in der Erkenntnis der höchsten Wahrheiten besteht (siehe Ephesus), sondern in der Offenbarung des Lebens Jesu in den Gläubigen. Das Leben des Herrn Jesus war geprägt von Treue und Hingabe bis in den Tod. Seine Sanftmut und sein stilles Dulden in den schwersten Leiden sind beispiellos, und Er hat in diesen Leiden das Böse mit dem Guten überwunden. Wollen wir nicht in diesem Sinn in unserem beschränkten Mass Überwinder von Smyrna werden?

In Pergamus

«Dem, der überwindet, dem werde ich von dem verborgenen Manna geben; und ich werde ihm einen weissen Stein geben, und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben, den niemand kennt als nur der, der ihn empfängt» (Off 2,17).

Nach vielen Jahren grausamster Verfolgung der Christen setzte Gott diesem Treiben ein Ende. Der Herr hatte das Ende dieser Zeit bestimmt, indem Er sagte: «Ihr werdet Drangsal haben zehn Tage.» Im Jahr 313 anerkannte der römische Kaiser Konstantin das Christentum und stellte die Christen unter den Schutz der Obrigkeit. Satan, der bis dahin als brüllender Löwe tätig war, änderte seine Taktik und kam nun als ein Engel des Lichts. Falsche und zersetzende Lehren (Lehre Bileams und der Nikolaiten) fanden schnell Eingang in die Versammlung. Mehr denn je war nun das Überwinden nötig, und der Überwinder dieses traurigen Zustandes sollte einen dreifachen Lohn erhalten.

Das Manna war die Speise des Volkes Israel in der Wüste und ist ein schönes Vorbild auf den Herrn Jesus, der sich selbst als das lebendige Brot bezeichnet hat. Wenn die Gefahr der Verweltlichung droht, stärkt der persönliche Genuss an dem, wie Christus in Heiligkeit gelebt hat, in ganz besonderer Weise unseren Glauben. Das Beschäftigtsein mit dem Herrn Jesus bewirkt Treue und Hingabe, und das wird im Himmel durch den ungetrübten Genuss des einst erniedrigten und jetzt erhöhten Sohnes des Menschen belohnt werden. Was bedeutet hier aber das «verborgene Manna»? 2. Mose 16 gibt uns die Antwort. Wir lesen dort, dass von dem Manna etwas in einem Krug aufbewahrt werden sollte, und zwar in einem goldenen Krug (Heb 9,4). So war dieses Manna den Augen des Volkes entzogen; im Verborgenen des Heiligtums konnte nur das Auge Gottes es sehen. Dieses Bild spricht davon, dass Gott allein die tiefsten Geheimnisse des Lebens Jesu kennt, eines Lebens, das durch Erniedrigung gekennzeichnet war. Wir finden selbst in den Evangelien nicht alle Einzelheiten dieses Lebens, denn «wenn diese einzeln niedergeschrieben würden, so würde, denke ich, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen» (Joh 21,25). Es wird für den Überwinder eine tiefe Freude sein, den Wandel und das Leben Jesu besser zu verstehen. So wie es daneben eine gemeinsame Freude im Himmel gibt, ist diese jedoch ganz persönlich. Sie gleicht einem Geheimnis in der Beziehung des einzelnen zum Herrn Jesus. Dieser Gedanke wird bestärkt durch den Empfang des weissen Steins mit dem neuen Namen.

Der weisse Stein hatte im Altertum eine besondere Bedeutung. Man zeichnete damit einen Gast aus als Zeichen besonderer Wertschätzung und benutzte ihn auch bei Gerichtsverhandlungen, um einen Freispruch kundzutun. Er spricht also von Anerkennung und Zustimmung durch den Herrn. Auf dem weissen Stein findet der Überwinder einen neuen Namen: Christus offenbart sich dem Überwinder auf eine neue Weise, zu seinem alleinigen und ganz persönlichen Glück.

Der Apostel Johannes, der Schreiber dieses Buches, schrieb in seinem ersten Brief: «Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube» (1. Joh 5,4). Es ist sehr demütigend, dass in Pergamus ein Überwinden der Welt und ihrer Grundsätze in der Versammlung nötig wurde. Lasst uns deshalb als Überwinder auf Jesus, den Sohn Gottes, schauen, der am Kreuz den Sieg über die Welt errungen hat. «Ich habe die Welt überwunden» (Joh 16,33).