In der Herberge

Lukas 10,34-35

Die Liebe des Heilandes zu uns ist ein unerschöpfliches Thema zum Nachsinnen. Einer ihrer göttlichen Wesenszüge ist der, dass sie sich in ihren Kundgebungen vollkommen dem Zustand und den Umständen derer anpasst, mit denen sie sich beschäftigt. Die Handlungen und die Fürsorge, in denen sie sich zeigt, sind gerade die geeignete Hilfe, um ihrem Zustand zu begegnen und diesen zur Vollkommenheit zu bringen. An dieser Liebe ist alles bewunderungswürdig: Ihre ununterbrochene Tätigkeit, ihre Zweckmässigkeit, ihre Fülle, ihre Ausdauer. «Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende» (Joh 13,1). Er ist zu den so tief gefallenen Sündern gekommen, um sie zu befreien, und nun kümmert Er sich um sie, bis sie in die Herrlichkeit eingeführt sind. Als der Urheber ihres Heils rettet Er vollkommen, die durch Ihn Gott nahen, und diese Errettung wird erst bei der Einführung ins Vaterhaus abgeschlossen sein. So beschreibt auch die eingangs erwähnte Schriftstelle in eindrücklicher Weise das unermüdlich tätige Mitgefühl des Heilandes, der sich bis ans Ende mit denen beschäftigt, die Er errettet hat.

Der gute Samariter im Gleichnis war nicht nur «innerlich bewegt». Er setzte dieses Mitgefühl in die Tat, in wirksame Hilfe um. Angesichts sittlicher Not reicht das menschliche Mitgefühl nicht weit. Wenn ein Herz von irgendeinem Unglück betroffen wird, so können wir ihm nur schwache Hilfe bringen. Meist bezeugen wir ihm unser Mitgefühl mit ein paar Worten. Schon ein solches Wort vonseiten des Samariters wäre für den unglücklichen Verwundeten eine gewisse Erleichterung gewesen, die weder der Levit noch der Priester ihm zu geben vermochten. Aber das Wichtigste war doch, dass er ihn aus seiner schrecklichen Lage befreite, und das konnten Worte allein nicht herbeiführen. Der Samariter «tat» Barmherzigkeit an ihm und zeigte in seinem Tun eine Gnade, die den Bedürfnissen des unter die Räuber Gefallenen völlig entsprach. Er allein konnte hinzutreten, die Wunden verbinden und Öl und Wein darauf giessen. Das war es, was den Verwundeten neu belebte, wiederherstellte und heilte. Aber «der gewisse Mensch», dem so geholfen worden war, war noch unterwegs, fern von zu Hause, an einem einsamen Ort. Die Räuber konnten ihn aufs Neue überfallen und sein letzter Zustand wäre dann noch schlimmer gewesen als der erste. Sein Wohltäter überliess ihn jedoch nicht neuen Gefahren: Er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in die Herberge. Unser teurer Herr hat uns nicht geholfen, um uns nachher aufzugeben. Wie hätten wir uns in eigener Kraft auf die Füsse erheben und uns in einer feindlichen, von Satan angeführten Welt voller Gefahren zurechtfinden können? Nein. Was Er uns durch seinen Tod erworben hat, ist eine ewige Erlösung; Er gab uns ewiges Leben. Was Er uns gebracht hat, ist von ewiger Dauer und schliesst die Verheissung mit ein, dass Er es uns selber bewahren wird und auch uns selbst bewahrt, die wir noch in einem Leib der Schwachheit auf der Erde sind.

Das Ende des Gleichnisses ist uns eigentlich nicht mitgeteilt, was aber keinen Einfluss hat auf dessen Sinn; wir denken nicht daran zu fragen, ob jener Mensch seinen Weg fortgesetzt habe oder nach Jerusalem hinaufgestiegen sei. Es genügt uns, bei dem rührenden Bild stehen zu bleiben, mit dem die Geschichte schliesst. Als der neubelebte Verwundete noch unterwegs war, wurde er in eine Umgebung versetzt, wo er Schutz fand und wo ihm nichts mangelte. Der Retter, der sich seiner angenommen hatte, ging davon, aber der Gerettete hatte nichts zu befürchten.

So ist es auch mit uns. Wir gehen dem Vaterhaus entgegen, befinden uns aber vorübergehend noch in der Herberge, in einem provisorischen Aufenthaltsort. Alle Gläubigen werden vom Herrn zu diesem selben Ort gebracht, in einen Bereich des Wartens, wo aber Friede und Sicherheit ist und wo Hilfsquellen sind. (Es ist eigentlich die Versammlung, aber hier ist noch nicht die Rede davon.) Da erneuern sich die Wohltaten der Gnade unaufhörlich. Jesus ist abwesend; aber auch während seiner Abwesenheit kümmert Er sich unvermindert um seine Vielgeliebten. Er hat für alles gesorgt, für ihre Sicherheit wie auch für ihre Speise. Als Er die Welt verliess, hat Er ihnen alles, was sie benötigen, hinterlassen; und zudem hat Er vom Himmel her den Heiligen Geist gesandt, dass Er für sie Sorge trage: «Wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden» (Joh 16,7), sagte Er.

Alle Anordnungen sind getroffen, aber alle Hilfe kommt von aussen an uns heran, und das ist unser Glück. Es wird zu unserem Wohl eine grosse Tätigkeit entfaltet, und wir haben keinerlei Teil daran. Unsere Aufgabe ist es, sich ihr zu überlassen, sich ihr anzuvertrauen. Der gerettete Mensch in unserem Gleichnis spricht kein Wort. Aber er hört. Er weiss, was um ihn her vorgeht und was für grossmütige Anordnungen sein Wohltäter getroffen hat; er hat sie nur zu geniessen und dafür zu danken.

Der Herr ist von uns weggegangen, aber wir wissen, dass Er wiederkehrt. Er selbst sagt: «bald». Der Samariter gab dem Wirt nur zwei Denare. Die Abwesenheit ist kurz. Beachten wir aber, dass der Kostenbetrag nicht genau bezeichnet ist; es war nur eine Anzahlung, die überschritten werden konnte: «Und was irgend du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme». Man kann aus diesem Gleichnis kein Datum für die Wiederkunft des Herrn ableiten; der Wirt mag mehr oder weniger ausgegeben haben. Eines aber ist sicher: der Herr Jesus kommt bald, sobald wie irgend möglich. Welche Freude für das Herz, das Ihn liebt und seine Gnade wertschätzt, das die Liebe dieses seines göttlichen Nächsten erfahren hat und darauf antwortet!

Bis dahin sind wir in den Händen des göttlichen Wirtes, des auf die Erde gesandten Heiligen Geistes, der die Heiligen bewahrt und pflegt. Welche Hilfsquellen öffnet Er uns? Die «Denare» des Herrn, alles, was uns Jesus durch sein Opfer erworben hat. Dann auch alle göttlichen Hilfsquellen des Vaters: Die Gnade, die die Apostel in den Briefen so oft auf die Heiligen herabflehen, und der Friede, der allem begegnet, was Anlass zur Unruhe geben könnte. Es ist kostbar, sich sagen zu können: Er, der mich liebt, ist abwesend, aber weil Er mich liebt, wird Er bald wiederkommen. Bis dahin wird Er mich durch den Geist von dem nähren, was von Ihm ist, von den unendlichen Gütern des Vaters, den Gütern des Hauses, wo ich in kurzem mit Ihm sein werde.

Unter diesen Hilfsquellen ist das Wort. Wer redet durch das Wort, wenn nicht Christus? Von wem redet es, wenn nicht von Christus? Welche Reichtümer breitet es vor uns aus, wenn nicht die Reichtümer Christi? Aber es ist der Heilige Geist, der sie uns austeilt; der Geist gibt uns Verständnis dafür. «Er wird euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht von sich selbst aus reden, sondern was er hören wird, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkündigen» (Joh 16,13).

Dann haben wir auch jederzeit die Möglichkeit, uns im Namen Jesu an Gott zu wenden im Gebet. Und wie könnten wir bitten, wenn nicht durch den Geist, der sich «unserer Schwachheit annimmt» und sich «in unaussprechlichen Seufzern» für uns verwendet? Wenn wir nicht wissen, «was wir bitten sollen, wie es sich gebührt», so weiss Er es und «verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern». – «Der aber die Herzen erforscht, weiss, was der Sinn des Geistes ist, denn er verwendet sich für Heilige Gott gemäss» (Röm 8,26.27).

Kostbare Hilfsquellen, reiche göttliche Tätigkeit, Fülle von Gnade! Der Vater gibt alles dem Sohn; der Heilige Geist nimmt im Blick auf die Seinen alles, was dem Sohn gehört, entgegen und gibt es ihnen. Bis wir am Ende unserer Reise, im Himmel angelangt sind, wird uns nichts mangeln. Der Wirt ist da, ist immer am Werk und verfügt über alles, um uns daran teilnehmen zu lassen. Wir müssen Ihn nur frei wirken lassen, von Ihm entgegennehmen, ohne Ihn zu betrüben. Darin besteht unsere Verantwortlichkeit. Aber in der Herberge ist alles in göttlicher Weise für uns bereitgestellt.

Es ist rührend zu sehen, wie diese Wahrheit in der Heiligen Schrift dargestellt wird. Sie ist für uns das Reisebuch, das wir während der Abwesenheit des Herrn nötig haben. Im Himmel werden wir es nicht mehr brauchen, denn dann haben wir Christus selbst. So reden auch die letzten Seiten der Bibel noch so eindringlich von seiner Wiederkehr, besonders die letzten Abschnitte. Wie könnte es auch anders sein! Sie bringen eine glückselige Gemeinschaft zwischen den Wartenden und dem Kommenden zum Ausdruck. Der Geist, der treue Reisebegleiter, weckt die Zuneigung der Braut, spricht zu ihr vom Herrn und vereinigt sich mit ihr um auszurufen: «Komm!» Und Er, der Herr und Bräutigam, der durch sein Zeugnis dem, was der Geist geredet hat, sein Siegel aufdrückt, sagt zu den Herzen, die Ihn lieben und sich nach Ihm sehnen: «Ich komme bald!» Und sie antworten: «Amen, komm, Herr Jesus!»

Dieser glückselige Augenblick kommt «bald», aber bis dahin müssen wir noch einige Schritte tun. Da gibt es noch Gefahren und Fallstricke, Räuber und Hunger und Durst und Schwachheit. Haben wir da nichts zu fürchten? Wenn der Zeitpunkt noch so nahe ist, werden wir bis dahin nicht doch noch versagen?

Das letzte Wort der Heiligen Schrift stammt weder von den Gläubigen, noch von Christus, sondern durch die Feder des Apostels Johannes von dem Heiligen Geist, dem die Heiligen auf der Erde anbefohlen worden sind: «Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit allen Heiligen!» Er bezeugt hier, dass sich sein Dienst bis zum Ende erstrecken wird. Wir meinen den göttlichen Wirt sagen zu hören: Ich habe die zwei Denare empfangen, alles was es hier auf der Erde zur Pflege der Erlösten braucht; in der Herberge wird es daher bis zur Rückkehr des Heilandes an nichts fehlen, weder an Schutz, noch an Fürsorge. «Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit allen Heiligen!» Diese Gnade allein gibt uns die Zusicherung, dass wir das Ziel erreichen; sie umfasst in ihren Zuweisungen alles, was den vielfältigen Bedürfnissen der Wartezeit entspricht. Es ist die Gnade des Herrn Jesus Christus, der über alle göttlichen Hilfsquellen verfügt zugunsten derer, die Er gesucht und gerettet hat. Sie wird keinem der Heiligen fehlen.