Der Prophet Haggai (1)

Haggai

Einleitung

Die Botschaft des Propheten Haggai ist mehr als 2500 Jahre alt. Und doch geht sie unmittelbar ins Herz. Sie ist aktuell und spricht uns direkt an. Sie will aufrütteln und wach machen. Sie will uns helfen, persönlich und gemeinschaftlich eine Standortbestimmung vorzunehmen. Die Botschaft des Propheten ist aber auch Mut machend. Sie will uns ermuntern, mit Energie und Hingabe unserem Herrn zu folgen, uns Ihm zur Verfügung zu stellen und mit Eifer an seinem Haus zu bauen.

«Richtet euer Herz auf eure Wege!» Wiederholt fordert der Prophet uns auf, unsere Herzen auf etwas zu richten. Der Herr will unsere Herzen erreichen. Es geht Ihm um unsere Zuneigungen, um unsere Hingabe. Im Herzen fallen die Ent­schei­dun­gen für Ihn. Dort sind «die Ausgänge des Lebens» (Spr 4,23). Der Herr möchte, dass wir «mit Her­zens­ent­schluss» bei Ihm verharren (Apg 11,23). Dazu hilft uns die Botschaft des Propheten Haggai entscheidend weiter.

Der historische Hintergrund

Zum richtigen Verständnis dieses «kleinen» Propheten ist es unerlässlich, die Botschaft Haggais im geschichtlichen Zu­sammenhang zu untersuchen. Nur dann sind wir in der Lage, seine Botschaft richtig in unsere Zeit hineinzuspiegeln und praktische Unterweisungen für uns daraus abzuleiten.

Das Buch Esra zeigt uns, dass sowohl Haggai als auch Sacharja in einer besonderen Zeit lebten und im Auftrag Gottes zum Volk Israel redeten. Es war die Zeit, als ein Überrest dieses Volkes aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrt war. Sie waren gekommen, um den Tempel Gottes wieder aufzubauen, der unter Nebukadnezar zerstört worden war. Dazu heisst es im Buch Esra: «Und Haggai, der Prophet, und Sacharja, der Sohn Iddos, die Propheten, weissagten den Juden, die in Juda und in Jerusalem waren, im Namen des Gottes Israels, der über ihnen war» (Esra 5,1).

Wie war es überhaupt so weit gekommen? Nach dem Tod Salomos, des Sohnes und Thronfolgers von König David, wurde das bis dahin einige Volk Israel getrennt. Zehn Stämme gingen an seinen Kontrahenten Jerobeam, während zwei Stämme – Juda und Benjamin – bei seinem Sohn Rehabeam verblieben. In der Folgezeit erkennen wir sowohl bei den zehn Stämmen – dem Nordreich Israel – als auch bei den zwei Stämmen – dem Südreich Juda – offenkundige Ver­falls­er­schei­nun­gen. Das Volk wandte sich von seinem Gott ab, so dass Gott in seinen Regierungswegen mit ihnen handeln musste.

Zunächst traf es die zehn Stämme, die im Jahr 721 v. Chr. durch Salmanassar in die assyrische Gefangenschaft gebracht wurden. Nicht ganz 120 Jahre später war die Geduld Gottes auch mit den zwei Stämmen zu Ende. Trotz vieler Warnungen und deutlichen Gerichtsankündigungen hatten sie nicht auf die Stimme ihres Gottes gehört. Deshalb wurden auch sie in die Gefangenschaft geführt. König Nebukadnezar von Babel war dazu das Werkzeug in der Hand Gottes. Durch den Propheten Jeremia hatte Gott angekündigt, dass die Gefangenschaft in Babel 70 Jahre dauern würde (Jer 25,11.12; 29,10). Diese Zeit begann mit der ersten Wegführung eines Teils der Juden unter der Regierung Jojakims im Jahr 606/605 v. Chr. Sie endete mit der Verordnung des Perserkönigs Kores (Cyrus) im Jahr 537/ 536, als er den Juden durch ein Edikt erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren, um dort den zerstörten Tempel wieder aufzubauen.1

Die Rückkehr nach Jerusalem fand nicht in einem Zug statt. Das Alte Testament berichtet von drei verschiedenen Zeitpunkten, zu denen Juden von Babel in ihre Heimat zurückkehrten:

  1. Im Jahr 536 v. Chr. unter Serubbabel und Josua. Im Mittelpunkt dieser Rückkehr standen der Altar und der Tempel (Esra 1).
  2. Im Jahr 458 v. Chr. unter Esra (Esra 7). Im Mittelpunkt dieser Rückkehr stand das Wort Gottes.
  3. lm Jahr 445 V. Chr. unter Nehemia (Nehemia 2). Im Mittelpunkt dieser Rückkehr standen die Mauer und die Tore der Stadt.

Das Buch Esra berichtet uns in den Anfangskapiteln von der ersten Rückkehr einiger Exiljuden. Unter Serubbabel, dem Statthalter, und Josua, dem Hohenpriester, machten sich knapp 50’000 Juden (inkl. Knechte und Mägde) auf den Weg nach Jerusalem. Das war eine verhältnismässig kleine Zahl, und wir stellen uns die Frage, warum es nicht mehr waren. Den anderen erschien das Leben in Babel offensichtlich bequemer. Sie hatten sich in den 70 Jahren in Babel niedergelassen, hatten Häuser gebaut, Familien gegründet und vielleicht Geschäfte eröffnet, die gut liefen. An ihre Heimat, an die Stadt Jerusalem, den Tempel und den Gottesdienst dachten anscheinend die wenigsten.

Die erste Aktivität der aus Babel zurückgekehrten Juden bestand darin, den Altar wieder an seiner Stätte zu errichten, um Gott opfern zu können (Esra 3,3). Damit gaben sie ein öffentliches Zeugnis davon, dass sie wieder in einer «offiziellen» Beziehung zu ihrem Gott standen. Doch damit nicht genug. Sie hatten es am Herzen, den Tempel ihres Gottes wieder zu bauen, der unter Nebukadnezar zerstört worden war. Unverzüglich machten sie sich an die Arbeit. Als die Bauleute den Grund legten, gab es ein grosses Jubelfest, in das sich allerdings die Tränen derer mischten, die den Tempel Salomos noch gesehen hatten (Esra 3,10-13).

Doch wo Gott am Werk ist, ergreift der Feind ebenfalls die Initiative. Das vierte Kapitel des Buches Esra berichtet uns von den Aktivitäten der Widersacher des Überrests der Juden. Zuerst kamen die Feinde mit List. Sie boten den Juden an, mit ihnen bauen zu wollen. Diese Taktik der Vermischung wurde unmittelbar erkannt. Mit klaren Worten erteilten Serubbabel, Josua und die übrigen Führer des Volkes eine Absage (Esra 4,1-5).

Danach änderten die Feinde ihre Strategie. Was ihnen mit List und Tücke nicht gelang, erreichten sie nun mit Macht und Gewaltandrohung. Sie schalteten die heidnischen Könige ein und erreichten schliesslich, dass der König Artasasta (Smerdis) den Befehl erteilte, mit dem Bau aufzuhören. Der Geschichtsschreiber fasst das so zusammen: «Damals hörte die Arbeit am Haus Gottes in Jerusalem auf, und sie unterblieb bis zum zweiten Jahr der Regierung des Königs Darius von Persien» (Esra 4,24). Diese Zeitspanne müssen wir mit etwa 14-16 Jahren ansetzen. In dieser Zeit ruhte die Arbeit am Haus Gottes.

König Darius (bekannt als Darius der Grosse oder Darius Hystaspes; Regierungszeit ca. 522-485 v. Chr.) war den Juden besser gesonnen. Im zweiten Jahr seiner Regierung berief Gott den Propheten Haggai und schickte ihn mit einer Botschaft zum Volk (Esra 5,1). Diese Botschaft ist uns in der Bibel als «der Prophet Haggai» schriftlich erhalten geblieben.

Haggai bleibt in seiner Botschaft nicht bei den äusseren Dingen stehen. Er spricht nicht von der Bedrohung der Feinde, sondern er deckt die wirklichen Hintergründe auf. Er zeigt deutlich und schonungslos, warum die Juden tatsächlich aufgehört hatten zu bauen. Haggai nimmt kein Blatt vor den Mund. Eigeninteresse, Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit waren die wirklichen Ursachen für den Baustopp. Ihre eigenen Interessen waren ihnen wichtiger als die Sache ihres Gottes. Seine Frage muss wie ein Hammerschlag gewirkt haben: «Ist es für euch selbst Zeit, in euren getäfelten Häusern zu wohnen, während dieses Haus wüst liegt?» (Hag 1,4). Das war die wirkliche Ursache. Ihre eigenen Häuser standen im Blickpunkt des Interesses. Das Haus Gottes war ihnen gleichgültig.

Obwohl Feinde da waren, die ihnen mit Macht wehrten, hörte die Arbeit in Wirklichkeit deshalb auf, weil die Herzen nicht mehr für Gott schlugen. In dieser Verfassung waren sie beim aufkommenden Widerstand sofort bereit, mit der Arbeit aufzuhören.

Gott konnte das nicht einfach hinnehmen. Als Antwort blieb sein Segen aus. Seine Hand wandte sich sogar gegen sie. Aber nicht nur das. Gott kam mit einer Botschaft zu ihnen, die sie aufrütteln und neu motivieren sollte. Er forderte sie auf, ihre Wege im Herzen zu überdenken und neu anzufangen. Und das Volk hörte auf die Worte ihres Gottes. Sie nahmen die Arbeit wieder auf, und nach etwa vier Jahren Bauzeit beendeten sie das Werk im Jahr 516 v. Chr. (Esra 6,15). Mit grosser Freude feierten sie sowohl die Einweihung dieses Hauses Gottes als auch das Passahfest und das Fest der ungesäuerten Brote (Esra 6,16-22).

  • 1Insgesamt fanden drei Deportationen nach Babel statt, und zwar:
    1) unter König Jojakim im Jahr 605 v. Chr.
    2) unter König Jojakin im Jahr 597 v. Chr.
    3) unter König Zedekia im Jahr 586 v. Chr. (In diesem Jahr wurden die Stadt und der Tempel zerstört.)