Vergessen – nicht vergessen

Hinter uns liegt ein Jahr. Für viele von uns verging es wie im Flug, einigen mag es vielleicht endlos lang vorgekommen sein. Der Jahreswechsel lässt uns still stehen. Wir halten Rückschau. Ein Jahr ist vorüber, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert, ja, es ist sogar ein Jahrtausend. Was bleibt, wenn wir zurücksehen? Erinnerungen an manche Mühe und Sorge, an Schwierigkeiten und Probleme, oder Erinnerungen an die Güte und Liebe unseres Herrn?

Keine Frage – die Erfahrungen des alten Jahres können uns helfen, auch wenn sie leidvoll waren. Aber ist es nicht oft so, dass die unbewältigte Vergangenheit an uns nagt? Enttäuschungen und unangenehme Erinnerungen bleiben hängen und lassen uns einfach nicht los. Wir können sie nicht vergessen. Der Streit mit meinem Bruder, die ungerechte Behandlung in der Schule oder am Arbeitsplatz, der verregnete Urlaub, die unerwartete Krankheit und anderes zeigen bleibende Folgen und machen uns unglücklich. Wir werden damit nicht fertig.

Ein Mut machendes Beispiel darf uns in solch einer Verfassung der Patriarch Joseph sein. Leidvolle Jahre lagen hinter ihm, bevor er schliesslich im Land Ägypten zu Ehren und Würden kam – Jahre, die sicher ihre tiefen Spuren hinterlassen haben. Und doch kam Joseph am Ende seiner harten Prüfungszeit zu dem herrlichen Ausspruch: «Gott hat mich vergessen lassen all meine Mühsal» (1. Mo 41,51). Zweifellos war Joseph nicht empfindungslos, wenn er an seine durchlebte Vergangenheit dachte. Aber mit der Hilfe seines Gottes konnte er doch die Mühsal und Not jener Jahre vergessen. Gott hatte ihm dabei geholfen. Dieser gleiche Gott will auch uns helfen, wenn bittere Erinnerungen an die Vergangenheit sich wie Vögel in unserem Herzen einnisten wollen und einfach nicht zu verscheuchen sind.

Aber da gibt es noch eine andere Seite des Vergessens, nämlich das, was wir nicht vergessen sollen. Der Schreiber des 103. Psalms drückt das in den bekannten Worten so aus: «Vergiss nicht alle seine Wohltaten!» Haben wir nicht allen Grund, dieses Wort unseres Herrn zu Herzen zu nehmen? Wie oft machen wir es umgekehrt. Wir behalten die negativen Dinge fest im Herzen, aber die Wohltaten des Herrn vergessen wir.

Wenn wir das vergangene Jahr in Gedanken einmal durchgehen – jeder für sich persönlich –, gibt es dann nicht eine Fülle von Wohltaten, die wir dankbar im Gedächtnis behalten können?

  • Haben wir vielleicht vergessen, dass wir ein Leben der Gemeinschaft mit unserem Herrn führen durften, mit Dem, der für uns am Kreuz von Golgatha gestorben ist?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass wir als Gotteskinder in eine lebendige Beziehung zu dem grossen Gott im Himmel gestellt sind und Ihn unseren Vater nennen dürfen?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass sein guter und Heiliger Geist in uns wohnt, der uns leiten und führen will?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass wir als gesegnete Menschen ein Segen für andere sein können, sei es für unsere Glaubensgeschwister, sei es für eine ungläubige Welt, die dem Verderben entgegengeht?
  • Haben wir vielleicht vergessen, wie gross und mächtig unser Gott ist, dass sein starker Arm immer wieder zu unseren Gunsten eingegriffen hat?
  • Haben wir vielleicht vergessen, wie oft Er uns durch sein Wort gesegnet hat, wie oft wir neuen Mut und neue Lebensfreude empfangen haben durch das, was Er uns zu sagen hatte, sei es persönlich, sei es in den Zusammenkünften?
  • Haben wir vielleicht vergessen, wie oft Er uns vor Gefahren bewahrt hat, Gefahren, die wir manchmal gar nicht bewusst wahrgenommen hatten?
  • Haben wir vielleicht vergessen, wie oft Er uns liebevoll an der Hand genommen hat, wenn wir nicht mehr weiter wussten und keinen gangbaren Weg sahen?
  • Haben wir vielleicht vergessen, wie oft der allmächtige Gott uns mit seinem Rat geholfen hat, wenn wir Entscheidungen zu treffen hatten, deren Tragweite wir gar nicht überschauen konnten?
  • Haben wir vielleicht vergessen, welche Glaubenssiege wir mit der Hilfe unseres Herrn erringen durften und wie tiefe Freude und Dankbarkeit in unserem Herzen war?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass wir in Ländern leben, in denen uns niemand daran hindert, unseren Glauben auch auszuleben?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass wir uns Sonntag für Sonntag versammeln dürfen, um den Tod unseres Herrn zu verkündigen und an Ihn zu denken?
  • Haben wir vielleicht vergessen, dass …
  • Haben wir vielleicht …

Diese Liste sollte jeder für sich persönlich fortsetzen. Die Beschäftigung mit den Wohltaten unseres Herrn hilft uns nicht nur, das Negative zu vergessen, sondern sie macht uns auch zu dankbaren Christen. Mit dem Wissen und der Überzeugung, dass die Güte unseres Herrn und seine Wohltaten kein Ende haben, dürfen wir mit Zuversicht in das neue Jahr hineingehen. Was es bringt, wissen wir nicht. Niemand von uns Menschen kann in die Zukunft sehen. Aber Einer kann es: unser Gott. Auf seine Güte dürfen wir bauen, seine Wohltaten wollen wir nicht vergessen.