Der erste Vers dieses Psalms drückt eine weitreichende Tatsache aus: «HERR! du hast mich erforscht und erkannt», d.h. der Herr kennt mich durch und durch! Dieser Gedanke muss dem Ungläubigen unerträglich sein. Möge das Bewusstsein, dass Gott die ganze Schuld jedes einzelnen Menschenlebens kennt, noch manchen zur Bekehrung führen!
Aber die Tatsache «der Herr kennt mich» muss auch für einen Gläubigen, dessen Leben nicht in Ordnung ist, unangenehm sein. Wenn es etwas in meinem und deinem Leben gibt, das vor dem beurteilenden Auge Gottes nicht standhalten kann, dann sollte uns dieser Vers immer wieder dahin führen, dies vor Gott, und wo nötig auch vor Menschen, zu ordnen.
Für jeden jedoch, der seinen Weg in Übereinstimmung mit Gott und seinem Wort gehen möchte, ist es ein kostbares Wissen, dass das ganze Leben von Ihm gekannt und erforscht wird. Auch unsere Beweggründe sind Ihm bekannt. In der Gemeinschaft mit dem Herrn dürfen wir in der Stille unser Herz ungehindert vor Dem ausschütten, der es besser kennt als wir selbst. Als der Herr Jesus Petrus zum dritten Mal fragte: «Simon, Sohn Jonas, hast du mich lieb?», da antwortete Petrus: «Herr, du weisst alles, du erkennst, dass ich dich liebhabe» (Joh 21,17).
So dürfen auch wir die Beurteilung all unseres Tuns und unserer Beweggründe Ihm überlassen. Das ist die tröstliche Seite dieses Wissens. Aber das Ganze hat auch eine verantwortliche Seite, und davon spricht David nun in den Versen 2-4, wo er sieben Dinge oder Umstände nennt, die seinem Gott völlig bekannt waren.
1) Du kennst mein Sitzen
Wo «sitzen» wir, wo kommen wir zur Ruhe, wo und mit wem pflegen wir Gemeinschaft? Schon der erste Psalm weist darauf hin, dass das Sitzen auf dem Sitz der Spötter etwas ist, was der «Glückselige», den uns dieser Psalm vorstellt, meiden wird. Gemeinschaft mit den Feinden Christi kann niemals ein gesegnetes «Sitzen» sein. Der Herr weiss, ob du oder ich noch auf einem solchen Platz sitzen. Dann «steh auf», verlass diesen Ort und lass dir vom Herrn einen vom Ihm gesegneten Ort zeigen. Ich denke an den Platz, den schon Maria kannte: «Maria, die sich auch zu den Füssen Jesu niedersetzte und seinem Wort zuhörte» (Lk 10,39). Dieses Sitzen zu seinen Füssen bringt uns in Gemeinschaft mit Ihm, und der Herr, der «unser Sitzen kennt», wird uns an diesem Platz nicht ohne seinen Segen lassen. Haben wir dies nicht schon oft erfahren?
2) Du kennst mein Aufstehen
Das Aufstehen spricht im Wort Gottes oft von Bereitschaft und Dienst. Wozu sind wir bereit, wozu «stehen wir auf»? Von den Gottesmännern des alten Bundes lesen wir oft, dass sie des Morgens früh aufstanden, um den Auftrag Gottes auszuführen. Denken wir nur an Abraham in der schwersten Stunde seines Lebens: «Und Abraham stand frühmorgens auf und sattelte seinen Esel » (1. Mo 22,3). Kennen wir etwas von dieser Bereitschaft «der Alten», die auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie auf Gottes Ruf antworteten: «Hier bin ich.»?
Aber täuschen wir uns nicht! Wir können äusserlich dasselbe tun, und doch ist es etwas anderes. Was lesen wir in 2. Mose 32,6 vom Volk Israel? «Und sie standen am nächsten Tag früh auf und opferten Brandopfer und brachten Friedensopfer; und das Volk setzte sich nieder, um zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um sich zu belustigen.» Auch sie standen früh auf, entfalteten eine religiöse Betriebsamkeit – aber sie dienten nicht dem Herrn, sondern dem goldenen Kalb. Nicht Dienst und Tätigkeit an sich ist es, was der Herr sucht. Er möchte, dass wir Ihm zur Verfügung stehen, um seinen Willen zu tun.
Das vollkommene Vorbild ist auch hier der Herr Jesus. Sein ganzes Leben war gekennzeichnet durch Hingabe, Bereitschaft und Dienst. Als Satan im Garten Gethsemane einen letzten Versuch unternahm, den Herrn von seinem Weg abzubringen, heisst es von Ihm: «Und er stand auf vom Gebet.» Klingt in diesem Satz nicht die ganze Entschiedenheit und heilige Energie eines völlig Gott geweihten Lebens hervor? Ach, möchte doch auch mein «Aufstehen» immer seine Zustimmung finden.
3) Du verstehst meine Gedanken von fern
Hier kommen wir zu einem sehr empfindlichen Bereich. Wenn auch der Herr mein ganzes Leben besser kennt als jeder andere, so sind gewisse Bereiche meines Lebens, wie z.B. das «Sitzen» und «Aufstehen», auch für andere sichtbar. Wenn es jedoch um unsere Gedankenwelt geht, so können wir diese vor Menschen verbergen, aber nicht vor Ihm. Er kennt sie von fern. Wir wissen nur zu gut, wie es von Natur aus in unseren Gedanken aussieht. «Aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken» (Mt 15,19). So beginnt der Herr die Liste erschreckender Tätigkeiten, die aus unserem Herzen hervorkommen.
Nehmen wir auch unsere Gedanken gefangen unter den Gehorsam des Christus (2. Kor 10,5)! Mit anbetender Bewunderung betrachten wir auch hier wieder unseren Herrn, der durch den Mund des Psalmisten prophetisch sagen konnte: «Du hast mein Herz geprüft, hast mich bei Nacht durchforscht; du hast mich geläutert – nichts fandest du; mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund» (Ps 17,3).
4) Du sichtest mein Wandeln
Beim Wort «Wandel» dürfen wir wohl in erster Linie an unseren ganz persönlichen Wandel denken. Sieht der Herr bei uns, wenn Er uns «sichtet», ein Wandeln im Rat der Gottlosen (Ps 1,1)? Oder ist in unserem Herzen der Wunsch, so zu wandeln, wie die Schrift uns wiederholt auffordert? «Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden seid» (Eph 4,1); «wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus» (Phil 1,27); «um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen» (Kol 1,10). Zum weiteren Studium des Themas «Wandel» empfehlen sich die Petrusbriefe. In ihnen schreibt der Apostel über eitlen Wandel, ehrbaren Wandel, keuschen Wandel, guten Wandel, ausschweifenden Wandel und heiligen Wandel.
Für unseren Wandel, ja, für unser ganzes praktisches Verhalten gilt der Hinweis, dass wir im Betrachten der Person unseres Herrn Ihm ähnlicher werden. Von Johannes dem Täufer heisst es in Johannes 1,36: «Hinblickend auf Jesus, der da wandelte.» – Welch ein Wandel!
5) Du sichtest mein Liegen
Wir wollen bei diesem Ausdruck eine Anwendung machen und die Frage nach unseren Zuneigungen und Herzensbindungen stellen. Vergleichen wir den Jünger Johannes mit dem Richter Simson. Von Johannes heisst es: «Er lag zu Tisch in dem Schoss Jesu.» Seine Zuneigungen gehörten dem Herrn Jesus, und er genoss das Bewusstsein der Liebe seines Herrn. So war er in der Lage, vertraute Mitteilungen aus dem Mund des Herrn zu empfangen (Joh 13,25). Er war es auch, der den Herrn am See Tiberias zuerst erkannte (Joh 21,7). Wahre Erkenntnis kommt aus der persönlichen Gemeinschaft mit dem Herrn.
Wie anders sah es bei Simson aus. Seine Zuneigungen gehörten Delila. Er lag auf ihren Knien, und diese Gemeinschaft mit denen, die Feinde des Volkes Gottes waren, führte schliesslich zum Verlust seines Nasiräertums, seiner Kraft und seines Augenlichts. Gehören unsere Zuneigungen Dem, der uns erkauft hat, dann werden wir innerlich wachsen. Gehören unsere Herzen jedoch der Welt, so verlieren wir über kurz oder lang auch äusserlich die Zeichen eines Nasiräers, eines Menschen, der ganz für seinen Gott abgesondert ist.
6) Du bist vertraut mit allen meinen Wegen
Wenn wir beim Ausdruck «Wandel» mehr an unseren persönlichen Wandel mit dem Herrn gedacht haben, so erinnert uns der Ausdruck «Weg» an unseren Weg mit anderen. Auf einem Weg gehe ich nicht allein, auch andere gehen auf dem gleichen Weg. Die Bibel bezeugt klar, dass es für jeden Menschen vom Grundsatz her nur zwei Wege gibt. Auf einem von beiden geht jeder. In dem wiederholt zitierten ersten Psalm wird der eine Weg «Weg der Sünder» genannt. Auf diesem Weg befindet sich jeder Mensch von Natur aus. Der Gläubige jedoch hat diesen Weg grundsätzlich verlassen und einen Weg betreten, den die Apostelgeschichte «den Weg» nennt, d.h. den Christenweg (Apg 9,2 Fussnote). Wenn diese Trennung der Wege auch grundsätzlich besteht, so bleibt doch die Frage, wo wir praktisch unseren «Standort» haben. Der Psalmist beschreibt ganz klar, wo allein Glück und Segen zu finden sind: «Glückselig der Mann, der nicht steht auf dem Weg der Sünder.» Unser Herr ist vertraut mit unseren Wegen. Möge Er Gnade geben, dass unsere Wege vor ihm Bestand haben.
7) Denn das Wort ist noch nicht auf meiner Zunge, siehe, HERR, du weisst es ganz
Darf es uns verwundern, dass Der, welcher unsere Gedanken von weitem kennt, auch unsere Worte schon im Voraus weiss? Wir wissen wohl alle aus eigener Erfahrung, wie recht Jakobus hat, wenn er die teils verheerenden Folgen unserer Worte beschreibt (Jak 3). Ebenso zeitgemäss und nötig sind auch die Ermahnungen in Bezug auf «unnütze Worte» oder gar «faule Worte».
Die Schrift enthält aber auch manche ermunternde Hinweise und Beispiele für den rechten, gesegneten Gebrauch unserer Worte. Der Hinweis «ein Wort zu seiner Zeit, wie gut» (Spr 15,23) ist nur ein Beispiel von vielen im Buch der Sprüche. Es ist sicher ein lohnendes Studium, dieses Buch einmal im Blick auf das zu erforschen, was es über unser Reden und unsere Worte sagt.
Zwei weitere Stellen mögen uns zeigen, welch eine gesegnete Wirkung unsere Worte haben dürfen: «Und Judas und Silas, die auch selbst Propheten waren, ermunterten die Brüder mit vielen Worten und stärkten sie» (Apg 15,32). «Kein faules Wort gehe aus eurem Mund hervor, sondern was irgend gut ist zur notwendigen Erbauung, damit es den Hörenden Gnade darreiche» (Eph 4,29).
So wollen wir zum Schluss unsere Aufmerksamkeit wieder auf den Einen lenken, der auch in seinen Worten vollkommen war: «Du bist schöner als die Menschensöhne, Holdseligkeit ist ausgegossen über deine Lippen; darum hat Gott dich gesegnet in Ewigkeit» (Ps 45,3). Die Braut im Hohenlied sagt von Ihm: «Seine Lippen sind Lilien, träufelnd von fliessender Myrrhe» (Hld 5,13).
Auch die Menschen, die den Herrn während seines Erdenlebens kennenlernten, waren erstaunt «über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen», denn «niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch» (Lk 4,22; Joh 7,46). Der Herr selbst konnte von sich sagen: Ich bin «durchaus das, was ich auch zu euch rede» (Joh 8,25).