Kapitel 2
Begleiten wir nun Hiob in seine neuen und schmerzlichen Umstände, in die ihn Gott eintreten liess! Wir haben gesehen, wie er im Reichtum und Überfluss der zeitlichen Segnungen Gott mit einem «vollkommenen und rechtschaffenen» Herzen gedient hat. Aber auch jetzt, inmitten tiefster Armut, hält er an seiner Vollkommenheit fest und verharrt in der Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes.
Daher kann ihm Gott vor dem Widersacher zum dritten Mal das in den Annalen der gefallenen Menschheit einzig dastehende Zeugnis ausstellen: «seinesgleichen ist kein Mann auf der Erde, vollkommen und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse meidend» (Hiob 2,3). Beachten wir, dass Satan, als Gott dessen Aufmerksamkeit auf seinen Knecht lenkte, im Leben Hiobs keinen Anlass finden konnte, um ihn anzuklagen. Das hätte er doch so gern getan! Er ist der «Verkläger unserer Brüder» (Off 12,10), und wir geben ihm – ach nur zu oft! – Gelegenheit, seine traurige Rolle vor Gott zu spielen. Lasst uns daher unaufhörlich wachen, dass wir «dem Widersacher keinen Anlass geben der Schmähung wegen» (1. Tim 5,14).
Wieder wickelt sich eine himmlische Szene vor unseren Augen ab. Der Vorhang wird weggezogen, und es werden aufs Neue einige der geheimen Fäden blossgelegt, nach denen die Regierungswege Gottes auf dieser Erde laufen: «Im Meer ist dein Weg … und deine Fussstapfen sind nicht bekannt» (Ps 77,20). Auch dann, wenn wir seine Wege nicht ergründen können, in denen Er seine Ratschlüsse ausführt, wissen wir doch, dass sie der Ausdruck seiner Weisheit, seiner Macht und seiner Liebe sind. Auch dieses Buch gibt uns einen Beweis dafür. Nicht nur wollte Gott durch die Geschichte seines Knechtes uns belehren. Er hatte auch mit Hiob Gutes vor. Nachdem Er ihn zu einem tiefen Selbstgericht geführt hatte und zur Erkenntnis seiner Gnade – der Quelle alles Guten, das je in ihm gewirkt, und aller Segnungen, womit er überschüttet worden war – wollte Gott den Zustand Hiobs wiederherstellen und ihm das Doppelte aller seiner Güter zurückerstatten.
So verfolgte Gott durch die Trübsal Hiobs also viererlei Ziele:
- Hiob sollte zum Bekenntnis seiner Unwürdigkeit und zum vollen Genuss der Gnade, die den Sünder errettet, geführt werden
- Gott wollte ihm das Doppelte seines früheren Besitzes geben
- Gott wollte uns einen Begriff von der Tätigkeit und Bosheit des Widersachers geben, damit wir die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, erkennten, uns im Herrn stärkten und «die ganze Waffenrüstung Gottes» anzögen, um so «den Listen des Teufels» widerstehen zu können (Eph 6,10-11)
- Schliesslich wollte uns Gott durch diesen Bericht über die Erfahrungen und Übungen, durch die dieser Mann Gottes zu geben hatte, «das Ende des Herrn» zeigen und «dass der Herr voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist» (Jak 5,11)
Im zweiten Kapitel finden wir Hiob in der Trauer; aber auch in der Armut und im tiefsten Herzeleid fährt er fort, Gott zu dienen. Alle Erbarmungen Gottes gegenüber seinem treuen Knecht in der Trübsal waren in Tätigkeit, aber Er konnte ihn noch nicht aus dem Tiegel der Trübsal befreien, denn Hiob hatte noch weit schwierigere Lektionen als alle bisherigen zu lernen. Gott hatte mit seinem Knecht einen Kampf vor, von dem der Feind nichts ahnte. Er wollte Hiob veranlassen, in die Tiefen seines sittlichen Elendes hinabzusteigen, die dieser bis dahin noch nicht erforscht hatte, um ihn dahin zu bringen, seine Selbstgerechtigkeit zu verurteilen und auszurufen: «Ich verabscheue mich und bereue in Staub und Asche» (Hiob 42,6). Erst dann konnte Gott den Segen, den Er für ihn in Bereitschaft hielt, in seiner ganzen Fülle über ihn und sein Haus ausschütten.
Gott erlaubt dem Satan, seine Angriffe bis zum äussersten voranzutreiben, damit dieser in seinen bösen Absichten gegen den treuen Knecht, den er zu Boden werfen wollte, beschämt würde. Daher finden wir den HERRN jetzt aufs Neue inmitten seiner Engel. Er lenkt die Aufmerksamkeit Satans wiederum auf Hiob, diesen «vollkommenen und rechtschaffenen» Menschen und sagt ihm: «Noch hält er fest an seiner Vollkommenheit, obwohl du mich gegen ihn gereizt hast, ihn ohne Ursache zu verschlingen» (Vers 3).
Satan weiss nichts von den Zielen der Wege Gottes mit den Seinen, noch von dem Werk der Gnade in ihrem Herzen. Er unternimmt ein trügerisches Werk und sieht sich in seinen Machenschaften gegenüber den Heiligen immer wieder getäuscht. Ohne dass der Feind es weiss, bedient sich Gott seiner zu ihrem Guten. So hat Satan auch später einmal begehrt, die Jünger zu sichten wie den Weizen. Doch wusste er nicht, dass ein gedemütigter, zerbrochener und bis auf den Grund seines sittlichen Wesens erforschter Petrus aus der Prüfung hervorgehen würde, fähig geworden, seine Brüder zu stärken und ein brauchbarer Hirte der Schafe des Herrn zu sein (Lk 22,31.32; Joh 21,15-18).
Von neuem klagt Satan Hiob an, er diene Gott aus selbstsüchtigen Interessen und verdächtigt ihn, er werde sich offen von Gott lossagen, wenn sein Gebein und sein Fleisch angetastet würde (Vers 5). Auf das hin erlaubt ihm Gott, Hiob «mit bösen Geschwüren von seiner Fusssohle bis zu seinem Scheitel» zu schlagen (Vers 7). Mit welcher Promptheit nützt der Feind die ihm gewährte Erlaubnis aus und wie zeigt uns diese Tatsache die Absichten und die Bosheit dieses gefährlichen Gegners! Dieses Wissen treibt uns an, zu den Erbarmungen und der Macht des Herrn, unseres grossen Hohenpriesters, Zuflucht zu nehmen, der immerdar lebt, um sich für uns zu verwenden (Heb 7,25).
Hiob bleibt fest. Auch in dieser zusätzlichen schweren Prüfung bleibt er still und ergeben und «setzt sich in die Asche» (Vers 8). Aber da kommt schon wieder ein neuer Angriff. Seine Frau, seine Lebensgefährtin, mit der er seine zahlreiche Familie von zehn Kindern auferzogen hat, stachelt ihn auf, sich gegen die Wege Gottes mit ihm aufzulehnen. Sie sagt zu ihm: «Hältst du noch fest an deiner Vollkommenheit? Sage dich los von Gott und stirb!» (Vers 9). Unbewusst ist sie gegenüber Hiob das Werkzeug des Feindes, der zum HERRN gesagt hatte: «Sieh, ob er sich nicht offen von dir lossagen wird» (Vers 5).
Aber auch diesmal wird Satan beschämt und Hiob geht aus der Prüfung als Sieger hervor. Seine Antwort ist weise: «Du redest, wie eine der Törinnen redet. Wir sollten das Gute von Gott annehmen, und das Böse sollten wir nicht auch annehmen?» (Vers 10). Er bringt kein ungutes Wort zum Ausdruck und verwirklicht die Ermahnung des Apostels, lange bevor sie durch den Geist gegeben wird: «Kein faules Wort gehe aus eurem Mund hervor, sondern was irgend gut ist zur notwendigen Erbauung, damit es den Hörenden Gnade darreiche» (Eph 4,29).
So muss sich denn der Feind ganz beschämt aus der Szene zurückziehen, und es wird in den nachfolgenden Wegen Gottes mit Hiob nicht mehr von ihm geredet.
Hätte Gott die Prüfung hier abgebrochen, wäre Hiob mit einem noch viel tiefer verwurzelten Selbstvertrauen daraus hervorgegangen, als es bis dahin schon gewesen war.
Daher erlaubt Gott noch eine letzte Prüfung, die auch die verborgensten Beweggründe im Herzen Hiobs an den Tag legen und ihn so zu einem gründlichen Selbstgericht führen wird. Die Gegenwart seiner drei Freunde und ihr sieben Tage anhaltendes Schweigen vor ihm sind es, die den Kelch der Bitterkeit in seiner Seele zum Überfliessen bringen. Ihre ungerechten Anklagen und ihre falsche Auslegung der Wege Gottes mit ihm reizen Hiob zu langen Verteidigungsreden. Aber sie enden schliesslich in seiner tiefen Demütigung und im Bekenntnis seines elenden Zustandes und seiner Unwürdigkeit. Das ist nun die Voraussetzung zum Empfang der reichen Segnungen Gottes.
Gott erlaubt also, dass nacheinander sieben Prüfungen über Hiob kamen, um ihn in das volle Licht seiner Gegenwart und in den vollen Reichtum seiner Gnade und Segnungen einzuführen:
- Die Sabäer raubten seine Herden der Rinder und Eselinnen und töteten deren Hüter (Hiob 1,14.15)
- Feuer vom Himmel vernichtete seine Kleinviehherden und ihre Hirten (Hiob 1,16)
- Die Chaldäer überfielen und raubten seine Kamelherden und brachten seine Knechte um (Hiob 1,17)
- Der Sturm verursachte ein Unglück, dem alle seine Söhne und Töchter zum Opfer fielen (Hiob 1,18.19)
- Satan schlug ihn mit bösen Geschwüren (Hiob 2,7)
- Seine Frau reizte ihn an, Gott zu fluchen und dem Leben ein Ende zu machen (Hiob 2,9)
- Seine drei Freunde erhoben falsche Anklagen gegen ihn (Hiob 2,11-13 und folgende Kapitel)
So lasst uns denn über «das Ausharren Hiobs und das Ende des Herrn» nachsinnen, damit wir aus diesem Buch des Wortes Gottes, aus allem, was uns in dieser Geschichte mitgeteilt wird, zu unserem zeitlichen und ewigen Segen Belehrung empfangen.