Kapitel 1
Die Geschichte Hiobs lässt uns Blicke tun in die Gedanken und Wege Gottes gegenüber dem Menschen. Sie zeigt uns, wie Er durch sein Wirken wunderbare Ratschlüsse der Gnade erfüllt. Obwohl Hiob nicht vom Geschlecht Abrahams war, mühte sich Gott um ihn und brachte ihn durch schmerzliche Prüfungen zu grossen Segnungen. Seine Wege mit ihm sind also ein lebendiges Zeugnis von der Erhabenheit Gottes in der Entfaltung seiner Weisheit, seiner Macht und seiner Liebe gegenüber den Menschen im Allgemeinen. Die Geschichte Hiobs ist eine deutliche Illustration von der Wahrheit, die das schuldige Israel später erfahren sollte und deren Kostbarkeit auch wir geschmeckt haben: «Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme» (Röm 9,15).
«Das Land Uz» (Hiob 1,1), in dem Hiob wohnte, war von Abkömmlingen Esaus bevölkert, die sich durch tiefen Hass gegen das Volk Gottes kennzeichneten (Klgl 4,21). Ist es nicht bemerkenswert, dass die Gnade Gottes in einer solchen Umgebung einen Mann geformt hatte, der «vollkommen und rechtschaffen und gottesfürchtig und das Böse meidend» war? (Vers 1). Gab es auf der Erde jemals andere Nachkommen Adams, denen Gott ein solches Zeugnis geben konnte?
Die Namen von zweien der Freunde Hiobs, denen sich Gott ebenfalls offenbart hatte – sie mussten zwar noch viel lernen, um seine Gedanken besser kennenzulernen –, zeigen uns, dass auch sie ausserhalb der Linie der Verheissung waren. Eliphas, der Temaniter, war vermutlich ein Nachkomme Esaus (1. Mo 36,10.11). Bildad, der Schuchiter, war zweifellos ein Sohn Schuachs, der in 1. Mose 25,2 unter den Kindern der Ketura aufgeführt wird.
Wir müssen annehmen, dass Hiob keinen Teil des geschriebenen Wortes besass. Die Bücher Mose wurden erst viel später durch Gott eingegeben. Seine Geschichte beweist uns also, dass der, der die Welten gemacht bat, sich auch dem Menschen, seiner gefallenen Kreatur, zu nahen weiss, um sich ihm zu offenbaren und ihn in lebendige Beziehung zu Ihm selbst zu bringen. Gott hat zu aller Zeit treue Zeugen erweckt, indem Er sie aus der sie umgebenden Finsternis herausnahm, Zeugen, die hier auf der Erde seine Rechte aufrechthielten und seine Herrlichkeit verkündeten. So wird es bleiben, bis die Erde voll sein wird von der Erkenntnis des HERRN «wie die Wasser den Meeresgrund bedecken» (Jes 11,9). Ausser mündlichen Überlieferungen besass Hiob wohl keine anderen Zeugnisse von der Grösse und Herrlichkeit Gottes als die, die Gott den Heiden gab (vgl. Röm 1). Das Buch Gottes, das Hiob erreichbar war, war das der Schöpfung. Es zeigte ihm Gottes «ewige Kraft und seine Göttlichkeit» (Röm 1,20).
Gott hatte Hiob reich gesegnet und ihn mit zeitlichen Reichtümern überschüttet. «Dieser Mann war grösser als alle Söhne des Ostens», lesen wir im dritten Vers. Mitten in diesem ungeheuren Besitztum, das 11'500 Stück Vieh umfasste und von sehr vielem Gesinde unterhalten wurde, befand sich dieser Mann, von dem Gott bezeugen konnte, dass er «vollkommen und rechtschaffen und gottesfürchtig und das Böse meidend» war.
Welche Harmonie und welcher Friede kennzeichneten die Familie Hiobs! Seine zahlreichen Kinder unterhielten untereinander innige und liebevolle Beziehungen – eine Frucht der Gottesfurcht, die im elterlichen Haus geherrscht hatte. Ihr Vater war jedoch nicht ohne Besorgnis, wenn er an die Feste dachte, die der Reihe nach bei jedem seiner sieben Söhne stattfanden. Lange bevor der weise Prediger sein Buch schrieb, verstand Hiob schon, dass es besser ist, «das Haus der Trauer zu gehen als in das Haus des Festmahls» (Pred 7,2). In der Befürchtung, dass die Torheit, die mit dem Herzen des Menschen verbunden ist, sich in der Vertrautheit dieser familiären Zusammenkünfte hemmungslos zeigen könnte, «stand er frühmorgens auf und opferte Brandopfer nach ihrer aller Zahl … So tat Hiob allezeit» (Hiob 1,5).
Wir müssen jetzt diesen friedlichen und glücklichen irdischen Schauplatz verlassen, um eine geheimnisvolle Szene zu betrachten, die nur der Geist Gottes vor unseren Augen entrollen konnte. Der undurchdringliche Vorhang, der uns die unsichtbare Welt verhüllt, wird jetzt durch die allmächtige Hand dessen zurückgezogen, der das unendliche Universum regiert. Er offenbart uns die verborgenen Kräfte, die die Handlung auf dem Schauplatz lenken, auf dem sich der Mensch bewegt und seine kurze Laufbahn vollführt. Einer der Zwecke, zu dem uns Gott dieses Buch gibt, ist gewiss der, uns die Bosheit des schrecklichen Widersachers zu enthüllen, der jetzt in dieser Szene erscheint und sich den göttlichen Gedanken des Segens über Hiob widersetzt «seine Gedanken sind uns nicht unbekannt», sagt der Apostel (2. Kor 2,11). Wenn wir seine Listen kennen, werden wir uns üben, unaufhörlich angetan zu sein «mit der ganzen Waffenrüstung Gottes», damit wir an dem bösen Tag zu widerstehen und nachdem wir alles ausgerichtet haben, zu stehen vermögen (Eph 6,13).
«Und es geschah eines Tages, da kamen die Söhne Gottes, um sich vor den HERRN zu stellen» (Vers 6). «seine Engel, die Gewaltigen an Kraft, Täter seines Wortes, gehorsam der Stimme seines Wortes» (Ps 103,20), erscheinen jetzt vor dem, dessen Herrlichkeit sie verkündigen und dessen Wohlgefallen sie tun. Als «dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die die Errettung erben sollen» (Heb 1,14), kommen sie, um vor ihrem Schöpfer Rechenschaft über ihre Tätigkeit abzulegen. Aber – ernste und geheimnisvolle Tatsache – «auch der Satan kam in ihrer Mitte» (Vers 6). Gott übt immer noch Langmut gegenüber diesem Geschöpf, das sich gegen Ihn erhoben hat. Hier nun können wir eine himmlische Szene betrachten, in der wir mit Anbetung die wunderbaren Wege dessen erkennen, der an Weisheit vollkommen ist, und wie Er sich selbst des erbitterten Widerstandes des Feindes bedient, um seine Herrlichkeit und seine Macht kundzutun. Wir erfahren jetzt, welches das Ziel der Wirksamkeit Satans ist, der «der Gott dieser Welt» genannt wird (2. Kor 4,4).
Wenn er inmitten der Söhne Gottes erscheint, an diesem Ort des Himmels, dessen Zugang ihm noch nicht verwehrt wird, ist er gezwungen zu sagen, was er hier auf der Erde tut. Als Antwort auf die Frage des HERRN: «Woher kommst du?» muss er sagen: «Vom Durchstreifen der Erde und vom Umherwandeln auf ihr» (Vers 7). Satan wandelt umher, um das weite Gebiet seiner Macht zu durchstreifen, diesen «Hof», in dem er seine Habe bewacht (Lk 11,21). Er geht umher und umkreist die Kinder Gottes, sei es, um «wie ein brüllender Löwe» zu suchen, wen er verschlinge (1. Pet 5,8) oder um sie als Schlange durch seine Listen zu verführen (2. Kor 11,3).
Dieses Geheimnis wird uns hier anschaulich enthüllt, und zwar gerade durch den, der die Menschen hasst, durch den Widersacher Gottes und der Menschen, dessen ganze Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Pläne Gottes zu durchkreuzen und wenn möglich ihre Ausführung und die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes zu verhindern.
«Und der HERR sprach zum Satan: Hast du acht gehabt auf meinen Knecht Hiob?» (Vers 8). In der Tat, Satan hatte Hiob aus nächster Nähe beobachtet und vergeblich versucht, die Umzäunung zu durchbrechen, womit Gott seinen Knecht zum Schutz umgeben hatte. Der Feind verrät hier seine schreckliche Tätigkeit, die er auf der Erde entfaltet, um die Menschen auf Wege der Gottlosigkeit und der Empörung gegen Gott zu verleiten. Durch ihn vernehmen wir aber auch, mit welch treuer Fürsorge und mit welch barmherzigen, schützenden Händen unser Gott und Vater über uns wacht:
- Hiob und sein Haus waren «ringsum eingezäunt»
- alles, was ihm gehörte, stand unter diesem barmherzigen Schutz
- Gott segnete das Werk der Hände Hiobs, so dass sich dessen Besitztum im Land ausbreitete (Vers 10)
Satan ist also gezwungen, uns zu bekennen, dass der, der Gott fürchtet, geschützt wird vor seinen bösen Angriffen und Gegenstand einer ganz besonderen Segnung Gottes ist.
Satan ersucht um die Erlaubnis, Hiob versuchen zu dürfen. Er hofft dabei, dieser werde Gott schliesslich ins Angesicht fluchen. Die Erlaubnis wird ihm erteilt, weil Gott in der schmerzlichen Prüfung des Glaubens Hiobs seine Herrlichkeit und das Wohl seines Knechtes im Auge hatte: «Siehe, alles, was er hat, ist in deiner Hand; nur nach ihm strecke deine Hand nicht aus» (Vers 12). So wird jetzt das grosse Besitztum Hiobs unter die Macht des Widersachers fallen. Gott erlaubt es, damit dieser in seiner Bosheit und in seinen falschen Anklagen gegen den Knecht des HERRN beschämt werde.
Die Szene, der wir soeben beigewohnt haben, die aber vor Hiob verborgen blieb, wird uns helfen, die schrecklichen Prüfungen zu verstehen, die nun Schlag auf Schlag über sein Haupt kamen und sein friedliches und glückliches Haus in einen Ort der Trauer und der Verwüstung verwandelten.
Ein Tag des Festes war über der Familie Hiobs aufgegangen. Alle Kinder waren in Frieden bei ihrem ältesten Bruder versammelt, als bei Hiob ein Bote mit schrecklichen Nachrichten eintraf, gefolgt von einem zweiten, dann von einem dritten und schliesslich von einem vierten, die ankündigten, dass alle Habe zerstört und zuletzt auch alle seine Kinder umgekommen seien (Verse 13-19). Diebe und entfesselte Elemente, über die der Feind Macht hat, wenn Gott es erlaubt, ruinierten diese ganze glückliche Familie.
Hiob bekennt, ohne gegen die göttlichen Anordnungen zu murren: «Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen, und nackt werde ich dahin zurückkehren; der HERR hat gegeben, und der HERR hat genommen, der Name des HERRN sei gepriesen!» (Vers 21). Diese schreckliche Reihe unerhörter Prüfungen endete also mit einem Sieg des Glaubens, mit völliger Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes. Hiob anerkannte, dass er nackt in diese Welt eingetreten sei und nichts hereingebracht habe: Gott schuldete ihm nichts; der Mensch kann keine Rechte gegen Ihn geltend machen. Wenn ihm Gott die Güter, die Er ihm gegeben hat, wieder wegnimmt, so ist Er darüber niemand Rechenschaft schuldig. Er handelt nach seinem erhabenen Willen, und «da ist niemand, der seiner Hand wehren und zu ihm sagen könnte: Was tust du?» (Dan 4,32).
Wie viele Belehrungen können wir diesem kostbaren Bericht entnehmen! Sind wir in der Prüfung? Lasst uns dann diesen Mann Gottes der alten Zeit betrachten und auch unsererseits in den bittersten und unverständlichsten Trübsalen Gott preisen, indem wir Ihm nichts Ungereimtes zuschreiben (Vers 22). Möchten wir durch sein Beispiel lernen, «dem Vater der Geister unterwürfig zu sein», der uns züchtigt «zum Nutzen, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden» (Heb 12,9.10).