Der Dichter des 119. Psalms freute sich über das Wort Gottes wie einer, der grosse Beute findet. Es war ihm mehr wert als Tausende von Gold und Silber. Immer wieder rief er aus: «Wie liebe ich dein Gesetz! – Deine Zeugnisse sind meine Wonne! – Wie süss sind meinem Gaumen deine Worte, mehr als Honig meinem Mund!»
Das Wort brachte ihm nicht nur geistlichen Genuss, es gab ihm nicht nur Weisheit, Verständnis und Einsicht, sondern es war auch Leuchte seinem Fuss und Licht für seinen Pfad. Er wollte in den Wegen des Herrn wandeln, seine Gebote halten, seine Vorschriften und Satzungen halten, und suchte daher eifrig den Willen Gottes in seinem Wort.
Das Gesetz war sein Sinnen den ganzen Tag. Und was war die Folge? Siebenmal am Tag lobte er Gott um der Rechte seiner Gerechtigkeit willen! – Seine Augen kamen den Nachtwachen zuvor, um zu sinnen über sein Wort. Wozu führte das? «Um Mitternacht stehe ich auf, um dich zu preisen.»
Lasst uns die Gegenstände des Sinnens unseres Psalmisten einmal näher betrachten.
«Deine Zeugnisse sind mein Sinnen» (V. 99)
Was haben wir unter diesen Zeugnissen zu verstehen? Schulzeugnisse z.B. geben Auskunft über die Fähigkeiten der Schüler; sie sagen aus, ob die Kinder fleissig sind und ob ihr Betragen gut ist. So ist auch das Wort Gottes voller Zeugnisse, die «zuverlässig» sind. Der Geist Gottes macht uns darin Aussagen über Gott. Der Weg Gottes mit den Menschen ist eine endlose Reihe von Zeugnissen über das, was Er ist. Eine lange Kette kostbarster, funkelnder Edelsteine. Darum ruft unser Psalmist aus: «An dem Weg deiner Zeugnisse habe ich mich erfreut wie über allen Reichtum» (V. 14).
Das Sinnen über die Zeugnisse Gottes macht Ihn unseren Herzen gross und hat daher einen gewaltigen Wert. Es nährt und stärkt unseren Glauben. Es mehrt aber auch unsere Gottesfurcht. Wenn das Wort Ihn mir so nahe bringen kann, dass es mir ist, als sähe ich den Unsichtbaren, wie kann dann Kleinmut oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, in meinem Leben Platz finden? O Herr, «neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Gewinn!» (V. 36).
«Über deine Vorschriften will ich sinnen» (V. 15)
Wenn wir wissen wollen, was Vorschriften sind, müssen wir vor allem das Alte Testament aufschlagen. In 3. Mose 1,1-9 finden wir z.B. Vorschriften über das Brandopfer, das freiwillig dargebracht wurde. Gewiss, der Israelit wusste nicht, dass dieses Opfer von der restlosen Hingabe Jesu Christi für Gott in seinem Opfertod am Kreuz sprach. Aber er durfte deswegen die Vorschriften nicht missachten, sonst hätte sein Opfer nicht mehr den Gedanken Gottes entsprochen und wäre kein Gegenbild von Christus mehr gewesen.
Auch die Wohnung Gottes in der Wüste sollte «nach ihrer Vorschrift» aufgerichtet werden (2. Mo 26,30). Nur so war sie Ausdruck der Gedanken Gottes, und wir können nun, geleitet durch den Heiligen Geist, kostbare Belehrungen daraus ziehen.
Heute gibt es keine Brandopfer und keine Stiftshütte mehr. Doch sind auch uns für den Gottesdienst und das Zusammenkommen der Gläubigen Vorschriften gegeben. Gott hat auch heute ein Haus in der Wüste dieser Welt. Es ist die Versammlung Gottes, und wir sollen wissen, wie man sich darin verhalten soll (1. Tim 3,15). Viele messen zwar diesen Vorschriften keine grosse Wichtigkeit bei, weil sie sie nicht verstehen. Aber dürfen wir sie deshalb missachten? Lasst uns bedenken, es sind Vorschriften Gottes, auch wenn wir ihre Bedeutung nicht erkennen. Sobald wir aber Klarheit darüber haben, staunen wir über die Grösse und Weisheit der Gedanken Gottes, die sich darin offenbaren.
«Wie liebe ich dein Gesetz! Es ist mein Sinnen den ganzen Tag» (V. 97)
«Ich habe verlangt nach deinen Geboten» (V. 131)
«Dein Knecht sinnt über deine Satzungen» (V. 23)
In Epheser 2,15 werden wir belehrt, dass Christus in seinem Fleisch die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen weggetan hat, und Kolosser 2,14 erklärt, dass Er die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen aus der Mitte wegnahm und ans Kreuz nagelte. Ausserdem sind wir nach Galater 2,19 durchs Gesetz dem Gesetz gestorben. Und schliesslich lehrt uns der Galaterbrief noch, dass der, der unter Gesetz steht, in der Stellung eines Knechtes ist.
Wir aber sind nicht mehr Knechte, sondern Söhne. «Gott hat den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!» (Gal 4,6-8). Wir sind also nicht in der Stellung des Psalmisten. Sollen wir da noch über das Gesetz der Gebote in Satzungen nachsinnen?
Ein Knecht dient seinem Herrn, weil er muss. Die Liebe zum Herrn wird ihm aber helfen, den Dienst mit Freuden zu tun, und es ist rührend, wie der Psalmist immer wieder dieser Freude Ausdruck gibt.
Ein Kind aber dient Gott, weil Er sein Vater ist. Hier ist kein Befehlston zu hören. Wenn der Geist der Sohnschaft das Herz des Kindes erfüllt, wird es gedrängt, sich Ihm ganz hinzugeben. Es ist ihm ein Herzensbedürfnis, seinen Leib Gott als ein lebendiges Schlachtopfer darzustellen, und es ist daher eifrig bestrebt, den guten und wohlgefälligen und vollkommenen Willen Gottes zu erkennen und zu tun. Als solche, die sich nicht mehr in der Stellung der Knechtschaft befinden, haben wir nun ein noch viel grösseres Interesse, dem Herrn zu dienen und auf seine Wünsche einzugehen. Wie die Schreiber der Briefe, nennen wir uns nun gerne Knechte Jesu Christi.
Ist es daher nicht ganz natürlich, wenn das Wort Gottes auch den ganzen Tag unser Sinnen ist? Oder soll uns der Dichter des Psalms beschämen, der Gott bittet: «Gib mir Einsicht nach deinem Wort! – Dein Knecht sinnt …»?