Der barmherzige Richter

Johannes 8,11

«Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige nicht mehr» (Joh 8,11).

Wie viel mehr Mitleid hat doch der Herr Jesus als der mitfühlendste Freund auf dieser Erde! – In einem Augenblick der Verärgerung wollten die Jünger Feuer vom Himmel auf die hartnäckigen Sünder herabfallen heissen, aber der Meister tadelte ihren strafbaren Zornausbruch. – Petrus, der seinen Meister so inbrünstig liebte und Ihn trotzdem verleugnete, hätte von Ihm für seinen Mangel an Glauben nur schwere Vorwürfe erwarten können; aber der, der den Grund der Herzen kennt und um die tiefe Reue seines Jüngers wusste, schickte ihm zuerst die tröstlichste Verheissung (Mk 16,7) und tadelte ihn nachher auf zärtlichste Weise: «Liebst du mich?» – Die Wächter im Hohenlied schlugen die Braut, verwundeten sie und nahmen ihr den Schleier weg (Hld 5,7); aber als sie ihren Bräutigam wiederfand, den sie verloren hatte, klagte dieser sie nicht an und machte ihr keine Vorwürfe!

Gott ist langsam zum Zorn und schnell zum Vergeben bereit. Selbst als die Propheten alle Geduld mit dem Volk Israel verloren und den Fluch Gottes über es kommen lassen wollten, hatte der Herr weiterhin Erbarmen mit dem Volk, das Er aus Liebe erwählt hatte.

Die Ehebrecherin, an die der Herr Jesus die obigen Worte richtete, war von ihren Anklägern mit Verachtung verstossen worden. Aber während diese die Strenge des Gesetzes gegen sie forderten, sagte der Herr Jesus zu ihr: «Ich verurteile dich nicht.» Welch ein Glück, in die Hände dieses Heiland-Gottes zu fallen, der so voll Erbarmen ist und dessen Mitleid keine Grenzen kennt!

Dürfen wir daraus folgern, der Herr Jesus verschliesse die Augen gegenüber der Sünde? Ein solcher Gedanke sei fern von uns! Bethlehem und Golgatha widerlegen eine solch gottlose Unterschiebung! Bevor die Sünde einer einzigen Seele getilgt werden konnte, musste der Sohn Gottes den ewigen Thron der Herrlichkeit verlassen und auf diese Erde kommen, um das Gericht und den Tod an einem Schandpfahl zu erleiden. Aber für das aufrichtige und reumütige Herz hat der Herr ein wunderbares Wort der Ermunterung: «Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiss werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden» (Jes 1,18); denn die volle und ewige Vergebung, die ihm angeboten wird, hat keine Grenzen. So wie die Kinder Israel einst im Todeskampf auf die kupferne Schlange blicken mussten, um am Leben zu bleiben, so sagt uns Gott heute noch: «Wendet euch zu mir und werdet gerettet, alle ihr Enden der Erde!» (Jes 45,22).

Neben dem Kreuz des Herrn Jesus steht ein weiteres herrliches Denkmal der Gnade Gottes: es ist das Kreuz, an dem der Räuber sein Leben aushauchte, und worauf gleichsam die Worte eingraviert sind, die jedem Sünder, der sich verloren fühlt, gelten: «Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu erretten.» (1. Tim 1,15) Was immer unsere Sünden sein mögen, wenn sie in das Meer der göttlichen Barmherzigkeit fallen, werden sie darin für immer versinken.

Vielleicht fühlst du dich wie der erste der Sünder. Gleich einem, der bankrott ist und sich fürchtet, in seine Bücher zu schauen, hast du Angst, dein Herz zu erforschen, weil es dich zur Verzweiflung bringen könnte. Dein Gewissen und die Erinnerung an deine zahllosen Sünden erheben sich gegen dich und rufen dir zu: «Ich verurteile dich.» Aber du darfst Mut fassen; der Herr Jesus stösst keinen hinaus, der in Buße und Glauben zu Ihm kommt. Er will ihm vielmehr vergeben.