Laodizea

Offenbarung 3,14-22

Allein schon das Hören und Lesen obigen Namens erweckt bei vielen ein Gefühl von Widerwillen. Laodizea ist für viele der Inbegriff alles dessen, was auf geistlichem Gebiet in einer Versammlung verkehrt sein kann. Niemand und kein einziges örtliches Zeugnis möchte gerne mit Laodizea verglichen werden. Man ist schnell geneigt, auf die Gläubigen jener Stadt hinabzuschauen und sich über sie zu erheben. Leider erkennt man kaum, dass dies gerade der Geist war, der jene Gemeinde kennzeichnete, und dass man also selbst auf dem gleichen Boden steht, wenigstens was das betrifft.

Doch muss festgestellt werden, dass es in der Versammlung in Laodizea nicht zum Besten aussah. Der Herr selbst hat in unmissverständlichen Ausdrücken bis zur Wurzel blossgelegt, wo es bei jenen Gläubigen mangelte. Lauheit, Gleichgültigkeit, Selbstzufriedenheit und Mangel an geistlichem Unterscheidungsvermögen kennzeichneten diese Gemeinde, als Johannes gegen das Jahr 90 die Offenbarung empfing und im Auftrag des Herrn diesen Brief an Laodizea schrieb.

So war es wahrscheinlich nicht immer gewesen. In seinem Brief an die Kolosser nennt der Apostel Paulus mehrere Male die Versammlung von Laodizea (Kol 2,1; 4,13.15.16). Die Stadt lag in der Umgebung von Kolossä, ungefähr 35 km entfernt, in der Provinz Phrygien. Sie war eine bedeutende Industrie- und Handelsstadt, wo auch das Bankwesen blühte. Es wurden dort warme Quellen gefunden, die heilkräftig waren, aber das Wasser war nicht zu trinken, es war lau. Zur Zeit der römischen Herrschaft war die Stadt schnell gewachsen und zur Blüte gekommen. Etwa um das Jahr 60 durch ein Erdbeben zum grossen Teil verwüstet, wurde Laodizea von den Einwohnern aus eigenen Mitteln wieder aufgebaut.

Sie hatte einen Tempel des Götzen Mem, wo Heilmittel für allerlei Augenkrankheiten gemacht wurden. Bemerkenswert ist, dass die Worte des Herrn an diese Gemeinde in praktischem Sinn sich an das anschliessen, was auf gesellschaftlichem Gebiet in dieser Stadt zu erleben war.

Laodizea war eine wohlhabende Stadt, und das drückte seinen Stempel auf die Einwohner. Man konnte gut darin sein und leben. Die Bewohner waren grösstenteils energische Menschen, die aber nicht frei waren von einer gehörigen Dosis Selbstüberschätzung. Dieser Geist hat auch die Gläubigen in dieser Stadt nicht unberührt gelassen.

Weder die Gemeinde in Kolossä noch die in Laodizea war eine Frucht der Arbeit des Paulus. Die Gemeinde in Kolossä war durch den Dienst des Epaphras entstanden, der dort wohnte (Kol 1,7; 4,12). Es ist nicht unmöglich, dass auch die Versammlung in Laodizea das Ergebnis von seinem Dienst war. Auf jeden Fall kannte Epaphras die Gläubigen dort und gab sich viel Mühe, um sie zu befestigen (Kol 4,13). Die Versammlung von Laodizea hat den Brief des Paulus an die Kolosser gelesen, weil er dies nützlich fand, vermutlich weil auch dort die Gefahr menschlicher Philosophien drohte. Wenn in Kolosser 4,16 gesagt wird: «dass auch ihr den aus Laodizea lest», bedeutet das dann nicht, dass ein besonderer Brief an diese Versammlung geschrieben wurde, der dann aber verlorenging? Viele nehmen an, dass hiermit der Brief an die Epheser gemeint sei, der unter verschiedenen Versammlungen zirkulierte. Wie dem auch sei, aus dem ganzen biblischen Bericht kann der Schluss gezogen werden, dass eine Versammlung in Laodizea bestand, und dass das geistliche Niveau darin im Allgemeinen nicht schlechter war als in anderen Versammlungen.

Es sind keine Angaben bekannt über Unterdrückung oder Verfolgung der Gläubigen in Laodizea, weder vonseiten der Juden, noch vonseiten der Heiden.

Wir mögen wohl annehmen, dass sie in allem Wohlfahrt hatten. So gesehen, ist die Situation und die Entwicklung des geistlichen Lebens in dieser Versammlung äusserst aktuell für uns, die wir in einer Zeit der Wohlfahrt leben und weder Unterdrückung noch Verfolgung erfahren müssen. Die Versammlung von Laodizea ist denn auch ein warnendes Vorbild für uns, um zu entdecken, wo es hinführt, wenn äussere Wohlfahrt und geistlicher Hochmut die Geister in ihrem Griff haben. «Es braucht starke Beine, um Überfluss zu ertragen», ist ein Spruch, der heute noch gültig ist.

Es liegen ungefähr dreissig Jahre zwischen der Zeit, da Paulus vom Bestehen der Gemeinde in Laodizea redete, und dem Augenblick, da Johannes im Auftrag des Herrn an sie schrieb: eine Generation später. Die Gläubigen, die z.B. damals dreissig Jahre zählten, hatten inzwischen graue Haare bekommen. Leider war kein geistliches Wachstum, sondern starker Rückschritt im geistlichen Leben dieser Versammlung erfolgt. Das Schlimme war, dass sie sich dessen nicht bewusst waren, und sie hätten wohl mit Entrüstung jede Bemerkung von anderen Gläubigen über diesen Punkt abgewiesen. Sie waren der Meinung, dass in ihrer Gemeinde alles noch prima funktioniere. Sie betrachteten sich selbst als höchst bevorrechtete Menschen, die sich ihrer vermeintlichen geistlichen Reichtümer, ihrer klaren Einsicht in die Lehre und ihres guten Lebenswandels rühmen konnten. Der Herr hat denn auch nicht Verweise über Irrlehren oder unsittliches Betragen an sie gerichtet. Was das betrifft, war ihnen nichts Besonderes anzumerken. Leider aber war ihr Rühmen in den Vorrechten, die sie hatten, blosser Eigendünkel. Sie waren blind über ihren eigenen Zustand.

In keinem der anderen Briefe an die sieben Versammlungen in Asien kommt der Ausdruck vor: «und du weisst nicht». Es war mit diesen Gläubigen geradeso bestellt, wie seinerzeit mit Simson, der nicht wusste, dass seine Kraft entschwunden war, als er seiner «Freundin» das Geheimnis, das zwischen Gott und ihm bestand, verraten und seine Stellung der Abhängigkeit preisgegeben hatte.

Es ist eine schlimme Sache, wenn dies von Gläubigen gesagt werden muss, vor allem wenn solche Worte aus dem Mund dessen kommen, der die Herzen ergründet und die Nieren prüft.

Geistliche Blindheit charakterisierte auch die Pharisäer. Die Ursache davon waren ebenfalls Selbstzufriedenheit und Hochmut. Wenn jemand mit diesen Dingen behaftet ist, wandelt er nicht im Licht, sondern in der Finsternis. Er folgt nicht dem Herrn, der gezeigt hat, was wahre Niedriggesinntheit ist, und kann darum nicht das Licht des Lebens haben (vgl. Joh 8,12).

Allein schon darin enthält der Zustand der Gemeinde in Laodizea eine ernste Lektion für uns.

Das erste, was der Herr zu dieser Versammlung gesagt hat, ist, dass sie weder kalt noch warm, sondern lau sei. Lauheit ist für Ihn schrecklich. Ihn ekelt davor. Die brennende Liebe für Ihn und füreinander, die die Gläubigen kennzeichnen muss, war bei ihnen nicht mehr vorhanden. Die Formen waren schon noch da, aber das Herz blieb dabei gleichgültig. Der Dienst und das Zusammenkommen in seinem Namen waren zu einer Tradition geworden, wo der Herr in Wirklichkeit draussen stand. Darum musste Er ihnen sagen: «Ich werde dich ausspeien aus meinem Mund.» Er tat es nicht sogleich, denn diese ernste Warnung, diese Berufung auf ihr Herz und Gewissen, hatte zum Zweck, sie zur Umkehr, d.h. zu einer totalen Lebensveränderung zu bringen. Er hatte Geduld mit ihnen, wie Er sie auch mit uns hat, wenn Er bei uns Dinge feststellen muss, die mit dem übereinstimmen, was die Gläubigen in Laodizea kennzeichnete. Immer wieder weckt der Herr uns auf, damit wir unseren geistlichen Zustand von oben her betrachten, mit erleuchteten Augen des Herzens, um Ihm so praktisch wohlgefällig zu sein. Er verrichtet ein Werk an und in unseren Herzen, um die rechte Gesinnung für Ihn zurückzufinden. Er tut das im Blick auf sich selbst, aber auch zu unserem eigenen Wohlbefinden.

Es besteht viel Übereinstimmung zwischen den Ermahnungen und Aufrufen an die Versammlung in Laodizea und denen an das untreue Juda und Jerusalem im Alten Testament.

Beim Lesen von einigen Kapiteln in den Propheten Jesaja, Jeremia und Hesekiel vernehmen wir dieselbe Charakterisierung des geistlichen Zustandes; aber auch dieselben Erweckungen, um in den Herzen durch eine Rückkehr zum Herrn die Dinge in Ordnung zu bringen; zugleich aber die Ankündigung von Gericht und einem Auf-die-Seite-stellen, wenn auf die dringenden Ermahnungen nicht gehört würde. Mit grosser Anteilnahme und dem Bewusstsein, selber einbezogen zu sein, haben diese Propheten des Alten Testaments diese göttlichen Botschaften weitergegeben. Sie haben für uns nicht nur eine historische, sondern auch eine praktische Bedeutung. Gottes Liebe und Gnade reden darin, aber auch seine unveränderliche Heiligkeit und Gerechtigkeit, die nicht dulden konnten, dass der Zustand seines Volkes so geworden war.

Man könnte einwenden, dass eine Versammlung, wovon der Herr gesagt hat: «Ich werde dich ausspeien aus meinem Mund», doch nicht aus wahren Gläubigen bestehen konnte. Für sie gelte doch ein solches Gericht nicht. Somit, schliesst man, können ihr Zustand und die Ermahnungen an ihre Adresse nicht als Warnung für uns dienen.

Das wäre eine bequeme Methode, um die Schärfe des Wortes Gottes für uns wegzunehmen. Wir werden uns des Urteils enthalten müssen, ob alle, die zur Gemeinde von Laodizea gehörten, wahre Gläubige waren. Doch anerkannte der Herr Laodizea als seine Versammlung, was ihre Verantwortlichkeit betraf. Er legte den Herzenszustand und die praktische Lebensoffenbarung dieser Menschen bloss. In den Worten: «Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe» (V. 19) liegt in jedem Fall, wenn wir diese Worte mit Hebräer 12,6 vergleichen, eingeschlossen, dass unter ihnen Gläubige waren. Wäre es nicht so gewesen, hätte dieser Brief gewiss einen anderen Geist geatmet. Dann würden auch die Schlussverse dieses Briefes nicht dazu passen. Auch da war die Möglichkeit, zu überwinden.

Der wichtigste Punkt war der, dass der Herr bei ihnen nicht den ersten Platz einnahm, dass Er praktisch vor die Tür gesetzt war, ohne dass die Laodizeer sich dessen bewusst waren. So wie ihr Zustand war, konnte der Herr auch nicht in ihrer Mitte sein. Aber sein Herz verlangte danach, Gemeinschaft zu haben mit denen, die seine Ermahnungen zu Herzen nahmen. Auch wenn die Herzen der Gläubigen nicht zu Ihm ausgehen, so schlägt sein Herz doch für sie. So ist es auch heute noch. Möchte uns das etwas sagen! Vielleicht entdecken wir bei uns selbst etwas von Selbstzufriedenheit, von Lauheit, von geistlicher Trägheit, von Kurzsichtigkeit in den Belangen des Herrn. Wenn wir uns in sein Licht stellen und Er mittels anderer durch sein Wort zu uns spricht, lasst uns dann, jeder für sich persönlich, die Lektion daraus ziehen, die der Sendbrief an Laodizea auch uns lehren will.