Jeder Gläubige hat sich die Frage zu stellen: Was betrachte ich als Gewinn, dem ich in meinem Leben nachstreben will?
Im Neuen Testament werden uns zwei Personen vorgestellt, von denen jeder einen anderen Gewinn als Ziel vor sich gestellt und diesem alles geopfert hat: der reiche junge Mann (Mk 10,17-26) und Paulus.
Der reiche junge Mann
Vom «reichen Mann» wird in jedem der drei ersten Evangelien berichtet. Nach Lukas 18,18 ist es ein «gewisser Oberster»; hier ist es nur «einer» von vielen, die ihm gleichen.
Er läuft herzu und fällt vor dem Herrn Jesus auf die Knie. Was sieht er denn in Ihm? Ach, er erkennt Ihn nicht; er ist blind für die Herrlichkeiten seiner Person. Für ihn ist Er nur ein guter Mensch und grosser Lehrer, vor dem er Hochachtung hat.
Als ein Oberster der Juden ist dieser Mann schon lange bemüht, die Gebote des Gesetzes zu halten und sich so eine Gerechtigkeit zu erwerben, aufgrund derer er ewiges Leben «erben kann». Aber er ist noch nicht befriedigt von seinen Anstrengungen. Das ewige Leben hat er dabei noch nicht gefunden. Er erwartet, dass der «gute Lehrer» ihm sagen werde, was an seiner Gesetzesgerechtigkeit noch fehlt. Doch spürt er seine Sünden nicht; er begehrt nicht errettet zu werden.
Jesus aber sagt ihm zuerst: «Was nennst du mich gut? Niemand ist gut, als nur einer, Gott.» Er selbst ist ja Gottes Sohn, der Mensch geworden ist, der einzige Mensch ohne Sünde, an dem Gott sein ganzes Wohlgefallen gefunden hat. Ausser Ihm sind wir Menschen alle durch die Sünde untauglich geworden; «da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer», lesen wir in Römer 3,12.
Wenn nun der Herr auf die Gebote des Gesetzes zu sprechen kommt, so tut Er es, um dem jungen Mann zu zeigen: Auf diesem Weg kommst du keinen Schritt vorwärts. Er zählt Gebote auf, von denen dieser sagen kann: «Dies alles habe ich beachtet von meiner Jugend an.» Da fehlt ihm, so meint er, doch nicht mehr viel, um das ewige Leben zu erreichen.
Wie reagiert der Herr, als Er dies hört? «Jesus aber blickte ihn an und liebte ihn.» Er freut sich über das, was an seinen Geschöpfen nach aussen hin noch unverdorben ist. Dieser da ist für die Menschen ein liebenswürdiger, untadeliger Mensch, der Gutes tat und sogar Jesus ehrte.
Aber nun kommt für ihn die grosse Prüfung, durch die sein Herz und seine Motive, die ihn bewegen, blossgelegt werden. Der Herr, der Herzenskenner, gibt ihm nun die Antwort auf seine Frage: «Was soll ich tun, um ewiges Leben zu erben?» Er spricht zu ihm: «Eins fehlt dir: Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!»
Nun muss zutage treten, ob er nur vor den Menschen als ein anziehender, gesetzestreuer Mann gelten will, oder ob es ihm wirklich um das Heil geht, das er in Christus finden könnte.
«Er aber wurde traurig über das Wort und ging betrübt weg, denn er hatte viele Besitztümer.» Diese Antwort gibt er auf das Angebot Jesu! Zwei Dinge sind es, die er festhalten will: das Gesetz, dessen bisherige Beobachtung ihn vor seinen Mitjuden erhoben hat – und seine vielen Güter. Von Sündenerkenntnis, von Demütigung und Buße, von wirklichem Glauben an den Herrn Jesus, zeigt er keine Spur.
Christus gewinnen? Nein, das war nicht sein Begehren. Er sucht materiellen Gewinn und Ansehen. Er geht traurig vom Herrn Jesus weg, ohne daran zu denken, dass dieser Weg im Gericht endet.
Saulus von Tarsus
Saulus von Tarsus hat in seinem Leben einen ähnlichen Anfang genommen, bevor er ein Paulus und ein Apostel Jesu Christi wurde.
Er selbst beschreibt uns in Philipper 3,1-16 seine innere Wandlung.
Auch er war ein jüdischer Mann, zwar ausserhalb des Landes der Juden geboren, aber auferzogen in Jerusalem, zu den Füssen Gamaliels unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes (Apg 22,3). Damals hielt er viel darauf, dass sein Werdegang genau den gesetzlichen Verordnungen entsprach. Man hatte ihn am achten Tage beschnitten, er war vom Geschlecht Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern. Schon früh wurde ihm ein gesetzlicher Eifer eingepflanzt, und er reihte sich bald in die strengste Sekte der Pharisäer ein (Apg 26,5).
Bei dieser jüdischen Erziehung und Ausbildung erwarb sich Saulus zwar eine erstaunlich gute Kenntnis des Alten Testaments, die ihm später zugut kam. Aber indem er über viele Altersgenossen in seinem Geschlecht hinaus ein Eiferer für seine väterlichen Überlieferungen wurde, baute er in seinem Herzen eine undurchdringliche Mauer gegen das Evangelium von Jesus Christus auf.
Mit aller Energie trachtete er nach einer eigenen, fleischlichen Gerechtigkeit durch treue Befolgung des Gesetzes. Das kennzeichnete ja auch den «reichen jungen Mann», wenn auch in einer stilleren Weise. Saulus aber kämpfte mit leidenschaftlicher Energie gegen die Christen und die Lehre von der Gerechtigkeit aus Glauben an diesen Jesus von Nazareth. Darin sah er eine Abkehr vom Gesetz. Daher meinte er ein «Eiferer für Gott» zu sein (Apg 22,3), wenn er schonungslos gegen sie vorging. Er verwüstete die Versammlung in Jerusalem, nachdem er der Steinigung des Stephanus zugestimmt hatte, und schnaubte Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn an anderen Orten (Apg 8,3; 9,1).
Oh, das Festhalten am Gesetz, das Gott seinem Volk einst als Prüfstein gegeben hatte, bildete bei diesem Mann eine Schranke zwischen ihm und dem Herrn, die ganz unüberwindlich schien. Er hatte sein sündiges Wesen noch nicht erkannt.
Aber gerade dieser Saulus war für den Herrn ein auserwähltes Gefäss, um seinen Namen in die Welt hinauszutragen. Die bei ihm vorhandene, durch Menschen unzerstörbare Schranke, konnte Er in einem Augenblick zerschlagen. Wie Er dies tat, ist uns wohlbekannt.
Das Ereignis auf der Strasse nach Damaskus, kurz zusammengefasst, war dies: Der Herr Jesus erschien ihm persönlich als der Auferstandene, in seiner himmlischen Herrlichkeit. Dieser gewaltige Eindruck prägte fortan sein Leben. Von jetzt an sah er Christus Jesus nur noch in diesem herrlichen Licht, und die an Ihn Glaubenden als eins mit Ihm.
Erinnert uns dies nicht an das Erlebnis des Petrus auf dem heiligen Berg? Dass er den Herrn dort in seiner messianischen Herrlichkeit gesehen hatte, vergass er nie mehr. Es war für ihn eine Befestigung des prophetischen Wortes (2. Pet 1,16-19).
Die Bekehrung des Saulus war eine plötzliche, 100prozentige Kehrtwendung, und davon wich er bis zu seinem Heimgang nie mehr ab. In den ersten drei Tagen wurde er sich unter Buße und Fasten seiner ganzen Umwandlung bewusst. Vorher ein Verfolger des Herrn und der Seinen, jetzt ein Knecht und Gesandter Christi Jesu. Vom Heiligen Geist erfüllt, bekannte er Ihn sogleich öffentlich: «Sogleich predigte Paulus in den Synagogen Jesus, dass dieser der Sohn Gottes ist … Er bewies, dass dieser der Christus ist» (Apg 9,20.22). Der Herr gewährte ihm aber noch eine stille Zeit von drei Jahren in Arabien, damit er dort zu seinen Füssen – nicht mehr zu Füssen Gamaliels – Licht empfange über Gottes Wort, über sein vollkommenes Heil in Christus, über seine Ratschlüsse und Wege. Auch teilte Er ihm das Geheimnis des Christus mit, dass die Versammlung nun aus Juden und Menschen aus den Nationen bestehen würde. Dieses Evangelium, diesen unergründlichen Reichtum des Christus, durfte er unter den Nationen verkündigen (Epheser 1 – 3).
Paulus hat bei seiner Bekehrung Jesus als seinen Heiland und Herrn kennengelernt. Aber gleichzeitig begann für ihn auch die Erkenntnis der Herrlichkeit Christi. Das grosse Licht davon hatte ihn schon bei Damaskus umstrahlt, und einen weiteren Vorgeschmack dieser Herrlichkeit hatte er empfangen, als er ins Paradies entrückt wurde. Paulus wusste, dass er sie hier auf der Erde nie voll erfassen würde. Aber wie sehnte er sich danach, in dieser Erkenntnis immer mehr zu wachsen!
Was war schon alles in der «Kraft seiner Auferstehung» eingeschlossen! Für uns zur Sünde gemacht und unserer Übertretungen wegen hingegeben, hat Christus unaussprechliche Leiden erduldet, und Er ging für uns in den Tod. Dadurch hat Er Gottes heiligen Ansprüchen volle Genüge getan, und Gott hat Ihn «unserer Rechtfertigung wegen auferweckt» (Röm 4,25). Ein sicherer Beweis der Vollgültigkeit seines Werkes!
Das stand täglich vor dem Herzen des Paulus. Das Ziel, das sein Erretter in der Herrlichkeit Gottes droben erreicht hatte, war nun auch sein Ziel, dem er, als mit Ihm verbunden, ohne Unterbruch nachjagte. Er hatte keinen anderen Anziehungspunkt, keinen anderen Magneten mehr in seinem Leben.
Ging sein Herr durch den Tod, dann wollte auch er seinem Tod gleichgestaltet werden. Nicht nur verwirklichte er, mit Ihm der Sünde, der Welt, dem Gesetz gestorben zu sein. Er begrüsste auch die Leiden um Christi willen, die er zu erdulden hatte. Er wollte Ihm, seinem grossen Vorbild, nachfolgen, der wegen seines treuen Zeugnisses von der Wahrheit Gottes, seitens der Menschen verfolgt und umgebracht wurde. Er wünschte in allen Dingen seinem Tod gleichgestaltet zu werden, um auch darin mit Ihm Gemeinschaft zu haben. Wie sein Weg auch immer sich gestalten würde, er sehnte sich, bald sein Ziel zu erreichen und hinzugelangen zur Auferstehung aus den Toten, um bei dem verherrlichten Auferstandenen zu sein.
Er hatte dieses Ziel noch nicht erreicht, aber er jagte ihm nach, ohne sich ablenken zu lassen. Alles was ihm einst als Gewinn erschienen war, hatte er aufgegeben und vergessen. Jeden Weg, den er dabei einschlug, hatte er verlassen. Für ihn gab es nur noch das Eine, das der «reiche Jüngling» verschmäht hatte: Christus droben gewinnen. Dieses Endziel anschauend, jagte er hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus. Dabei hatte er das Bewusstsein, von Ihm selbst ergriffen zu sein, und dass Er ihm dazu jede Gnade zuteilwerden liess!
Die beiden Männer, von denen wir geredet haben, hatten sich anfangs in dem Punkt geglichen, dass sie beide durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden suchten. Aber wie verschieden wurde dann ihre Laufbahn, weil der eine das Angebot der Gnade des Herrn Jesus ausschlug und der andere sich Ihm unterwarf und Ihm auf solche Weise nachfolgte.
Das Verhalten des Paulus hat uns Gläubigen viel zu sagen. Auch uns ist der Herr Jesus auf dem Weg begegnet, und wir sind Ihm nachgefolgt. Prüfen wir uns aber, ob wir den verherrlichten Christus droben zu gewinnen suchen. Spazieren oder jagen wir diesem Ziel entgegen? Dieses Jagen ist ja auch für uns nicht anders möglich, als dass wir das vergessen und zurücklassen, was der alte Mensch wertschätzte und worin er lebte. Oh, wenn wir Paulus nachahmen (Phil 3,17), dann können wir uns, wie er, «im Herrn freuen» (Phil 3,1 und 4,4). Wenn wir aber das behalten, was der Herr uns wegtun heisst, dann werden auch wir betrübt und traurig. Gilt das Wort in 2. Korinther 3,18 nicht auch uns: «Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist»?