Zweierlei «Ich»

Galater 2,19-20

«Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat» (Gal 2,19.20).

Der Apostel Paulus sah sich in seinem Dienst oft genötigt, von seiner eigenen Person, von seinem Leben, seinen Erfahrungen zu reden. Er tat es in grosser Demut, nicht um sich selbst zu rühmen, sondern zur Ehre des Herrn und um anderen zu helfen.

So auch hier. Die unverständigen Galater waren im Begriff, zum Gesetz zurückzukehren und dadurch aus der Gnade zu fallen. Als der Apostel dies erkannte, schrieb er ihnen in grosser Herzensnot diesen Brief und zeigte ihnen darin seine eigene Stellung gegenüber dem Gesetz.

Er, der einst vielerorts bekannte Eiferer im Gesetz und rücksichtslose Verfolger der Versammlung, war jetzt selbst einer der Gläubigen. Und gerade ihn hatte der Herr ausgerüstet, um, belehrt durch den Geist, das vollkommene Heil Gottes in Christus Jesus zu erfassen und in aller Klarheit als die göttliche Wahrheit zu verkünden.

Als Erlöster war sich Paulus völlig bewusst, dass er nicht mehr unter Gesetz stand. Wie war es zu dieser Befreiung gekommen? Hatte Gott im Christentum das Gesetz zurückgezogen und für ungültig erklärt? Nein, es bleibt «heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut» (Röm 7,12). Aber mit dem Menschen Paulus, wie auch mit jeden, der jetzt durch Glauben in Christus ist, geschah etwas Entscheidendes. Als er sich zum Herrn Jesus bekehrte, war er selbst «dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines andern zu werden, des aus den Toten Auferweckten» (Röm 7,4). Durch Glauben gehörte er jetzt, wie jeder Erlöste, zu den Gerechten, und für einen solchen «ist das Gesetz nicht bestimmt, sondern für … Gottlose und Sünder» (1. Tim 1,9.10).

Da mag es unter den Christen Gesetzeseiferer gegeben haben, die einwarfen: «Sich in dieser Weise der Freiheit vom Gesetz zu rühmen, ist aber sehr gefährlich. Da lässt man ja dem eigenen Willen, der durch das Gesetz gebändigt werden soll, freien Lauf!» – «Lest den Galater-Brief nur zu Ende», konnte man solchen sagen. Da hat der Apostel selber geschrieben: «Für die Freiheit hat Christus uns frei gemacht» … «Ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder; nur gebraucht nicht die Freiheit zu einem Anlass für das Fleisch, sondern durch die Liebe dient einander. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.›» (Gal 5,1.13.14). Der Apostel hat das nicht nur geschrieben, er lebte auch nach diesen Worten.

Hören wir nun zu, wie er in Galater 2,20 sein Leben als Christ beschreibt und zu den eben erwähnten Resultaten gelangt, nach denen sich jene Gesetzeseiferer umsonst ausstreckten.

Da redet er von zweierlei «Ich»

Das erste «Ich» war sein Führer bis zu seiner Bekehrung. Bei ihm war es ein überaus eifriges, selbstgerechtes Ding, das ihn nach Philipper 3,4-6 nicht zu dem führte, was die Pharisäer böse nannten, sondern zu hohen religiösen Zielen bringen wollte. Die Menschen bewunderten diesen vielversprechenden Schüler Gamaliels. Aber dieses erste «Ich» leitete ihn in einem Leben ohne Christus. Es machte ihn sogar zu einem Verfolger von Christus, indem er die Seinen verfolgte (Apg 9,4), und damit zum «ersten der Sünder».

Wann fand dieses böse «Ich» sein Ende? Im Augenblick, als Saulus durch den Glauben an Jesus Christus errettet wurde, betrachtete Gott dieses «Ich» als «mit Christus gekreuzigt». Und wann hat Paulus diese wichtige Tatsache selber verstanden? Oh, unter den Erlösten allen war er wohl einer von denen, die sie am raschesten begriffen und darin gelebt haben. Der Heilige Geist hatte keine jahrelange Mühe, ihm zum Bewusstsein zu bringen, dass er in seiner menschlichen Natur ganz untauglich war, Gutes zu tun. Noch mehr, er war sich von Anfang seines Glaubenslebens an bewusst, dass aus seinem eigenen Fleisch, seinem bösen «Ich» nur Verwerfliches hervorkommen konnte. Was er später in Römer 3,9-20 schrieb, war eigene Erfahrung. Darum bedeutete es für den bekehrten Paulus eine grosse Befreiung, nicht mehr nach dem alten «Ich» zu leben, sondern beständig zu wissen: «Ich bin mit Christus gekreuzigt.» – Wenn wir unser altes Leben nicht mit derselben Schärfe verurteilen, dann haben wir dringend nötig, es unter der Lupe des Wortes Gottes eingehend zu betrachten.

Wie ging es nun aber weiter mit Paulus? Er sagt: «Sondern Christus lebt in mir.» Christus mit seinem Leben, mit seiner Kraft, mit seiner Liebe, mit seiner Weisheit, in seiner göttlichen Fülle, wirkte in ihm und durch ihn!

Warum ist das bei mir nur in so schwachem Mass der Fall? Wer von uns Gläubigen hat sich das noch nie gefragt?

Ein Autofahrer weiss, dass er nicht gleichzeitig auf das Gaspedal und das Bremspedal drücken darf. So ist es auch bei unserer Lebensfahrt. Wir wünschen wohl von Herzen, dass es auch bei uns so sei: «Sondern Christus lebt in mir.» Aber es kommt vor, dass wir dabei das «Sondern» zu wenig beachten. Wir wachen dann nicht genügend über unsere Neigung, das alte «Ich» handeln zu lassen. Beides geht einfach nicht zusammen.

Hatte Paulus, der hier für jeden Erretteten spricht, kein eigenes «Ich» mehr, nachdem nun Christus in ihm lebte? Bedeutete dies, dass Christus ihn nach Geist, Seele und Leib fortan umherschob, wie eine willenlose Schachfigur? Bestimmt nicht. Christus lebt durch den Heiligen Geist im Herzen des von neuem Geborenen. Er erfüllt es und weckt damit im erneuerten «Ich» ganz neue Wünsche und Ziele. Statt wie früher sich selbst zu leben und den Willen des Fleisches zu tun, begehrt es nun Gott zu leben (Gal 2,19) und dem Herrn Jesus nachzufolgen.

Diese Äusserungen des neuen Lebens werden geschwächt und gestört, wenn wir nicht über unser Herz wachen, von dem aus «die Ausgänge des Lebens» sind (Spr 4,23). Der Heilige Geist gibt uns daher in Philipper 3,7-14 das Beispiel des treuen Paulus als Vorbild des normalen Christenlebens. Für das neue «Ich» kann es nur einen Gegenstand geben: Christus in der Herrlichkeit droben. Diesem Ziel gilt es nachzujagen, ohne sich zurück oder nach links und rechts zu wenden.

Vor seiner Bekehrung lebte Paulus vor den Menschen, im Sichtbaren. Jetzt aber, solange er noch in diesem Leib war, lebte er «durch Glauben» an einen unsichtbar gewordenen Herrn. – Vor seinem Weggang sagte Jesus zu seinen Jüngern: «Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich» (Joh 14,1). War das für sie, im Vergleich zu vorher, ein Verlust? Nein, sogar ein Gewinn! denn durch den Heiligen Geist, der herabkam, konnten sie mit dem Vater und mit seinem Sohn innigere Gemeinschaft haben, eine Gemeinschaft, die ihnen völlige Freude gab (1. Joh 1,3.4)

Das neue «Ich» kann mit einem Baum verglichen werden, der zahllose Wurzeln hat. Im Wald treffen wir oft Exemplare an, bei denen gewisse Wurzeln bis zu den untersten Saugspitzen freigelegt sind. Da wird sichtbar, wie ein solcher Waldriese die Nahrung und den Saft zu seinem Wachstum aus dem Boden zieht. Diese Wurzeln bilden zugleich einen Stock, eine weit ausgebreitete Grundlage, die dem Baum in allen Stürmen einen festen Halt gibt.

So betete der Apostel für die Heiligen in Ephesus, «dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid» (Eph 3,17). Sie sollten die Wurzeln ihres Herzens zu Christi Liebe ausstrecken, ihre Nahrung für alle Bedürfnisse des neuen Menschen in Ihm suchen und ihr ganzes Vertrauen auf Ihn gründen.

Für Paulus waren das Worte in Übereinstimmung mit seiner eigenen täglichen Erfahrung. Von sich selbst konnte er sagen: «Ich lebe durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.» Die Wurzeln seines Herzens tauchten «jetzt», seitdem er ein neuer Mensch geworden war, hinab in die unergründliche Liebe des Sohnes Gottes. Warum nennt er Ihn bei diesem hohen Namen? Oh, er weidet sich beständig an dem ganzen Ausmass dieser Liebe, die er hier auf sich allein bezieht, (wie wir es auch tun dürfen). Er denkt daran, wie der Sohn Gottes sich um seinetwillen zu nichts machte und Mensch wurde, um für seine Sünden am Kreuz zu leiden und zu büßen, um an seiner statt das Gericht Gottes und den Tod zu erdulden.

Zweierlei «Ich»! Lasst uns mit der Entschiedenheit eines Paulus festhalten: «Ich bin mit Christus gekreuzigt; und nicht mehr lebe ich.» In ungestörter Verbindung mit ihm und seiner Liebe, die sich daraus ergibt, haben dann auch wir den tiefen Wunsch: «Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes …» Und was ist das Ziel dieses Glaubenslebens? «Damit ich Gott lebe», so wie der Apostel es getan hat – eine Frucht des Werkes Christi, nicht des Gesetzes.