Die mannigfaltige Gnade Gottes

1. Mose 32,2

«Und Jakob zog seines Weges, und es begegneten ihm Engel Gottes» (1. Mose 32,2).

Es ist erfrischend, den Wegen der Gnade Gottes mit Jakob nachzuspüren. Ganz am Anfang seiner Reise erlebte er schon, dass Gott sich ihm ungesucht in einem Traum offenbarte und ihm, dem Widerspenstigen, in unendlicher Gnade versprach, sein Gefährte, Bewahrer und Leiter zu sein. Die Antwort von Jakobs Glauben auf eine solch kostbare Verheissung war äusserst schwach, aber sein Kleinglaube gibt der unerschütterlichen Beständigkeit des Wortes des Herrn umso mehr Gewicht.

Von diesem mangelnden Vertrauen hatte Jakob gerade vor dem Ereignis des angeführten Verses einen Beweis gegeben. Er hatte nicht gewagt, dem Gebot Gottes einfach zu gehorchen, sondern hatte ganz unnötig den Zorn Labans dadurch hervorgerufen, dass er sich im Geheimen von ihm wegstahl. Wollte ihn Gott jetzt nicht allein lassen, um ihn so die bitteren Früchte seiner eigenen Torheit schmecken zu lassen? Keineswegs. Noch in derselben Nacht wurde Gott aktiv und redete zu Laban, um den Schutz seines Knechtes sicherzustellen.

Und werden wir, wenn wir im Licht der himmlischen Herrlichkeit auf unsere eigene irdische Geschichte zurückschauen, nicht feststellen können, dass die Gnade unseres Gottes in der gleichen Weise für uns wirksam war, indem Er uns immer wieder aus den vollen Folgen des eigenen Kleinglaubens und der Torheit errettete?

Aber Jakob ging seinen Weg weiter, unempfänglich für die Gunst, die ihm erwiesen worden war, und nun musste er einer Begegnung mit seinem Bruder entgegensehen, dem er Unrecht zugefügt hatte. Dieser schreckliche Gedanke nahm ihn ganz gefangen. War es nicht die Furcht vor diesem Treffen mit Esau, die ihn solange in Haran verweilen liess? Als ihn nun jeder Schritt dem Augenblick der Begegnung näher brachte, können wir leicht verstehen, dass er in den Zustand unterwürfiger Furcht geriet, von dem dieses Kapitel spricht.

Wäre aber sein Herz nur mit dem Einen beschäftigt gewesen, der mit ihm, anstatt mit dem, der gegen ihn war, hätte er sich viel von dieser Seelenangst erspart. Dafür wäre er imstande gewesen, Gott zu verherrlichen, der ihm beigestanden war. Welch ein Triumph wäre es gewesen, wenn in diesem Augenblick von Jakobs Lippen dieser Ausspruch des Glaubens gekommen wäre: «Der HERR ist für mich, ich werde mich nicht fürchten; was sollte der Mensch mir tun?» (Ps 118,6).

Aber wieder bemerken wir, dass, obwohl Jakobs Furcht das Produkt eines Unglaubens war, der Gott verunehrte, er gleichwohl zu einem Gegenstand göttlicher Barmherzigkeit wurde. Wie klein denken wir doch von der Gnade Gottes! Sie ist völlig unabhängig von jedem Verdienst unsererseits. Sie ist der Ausdruck des Herzens Gottes, und wir werden nie ihre Grenze erreichen.

Konnte es sein, dass Gott die Not nicht beachtete, die Jakobs Gedanken so stark in Anspruch nahm, die seine Stirn durchfurchte und seine Knie erzittern liess? Bewegte es Ihn nicht, als Er sah, wie die eisige Hand der Furcht das Herz seines Knechtes umklammerte? Blieb Er dem gegenüber kühl, weil Er wusste, dass seine Schrecken ebenso grundlos waren wie die Furcht eines Kindes vor dem Dunkeln? Wer so denkt, kennt Gott nicht, der «voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist» (Jak 5,11), wie ein Vater (Ps 103,13), und wie eine Mutter (Jes 66,13).

Gott bemisst den Trost, den Er gibt, entsprechend den Herzensempfindungen des Geprüften. So ist hier Gottes Antwort auf Jakobs Trübsal ebenso gewaltig wie Jakobs unermesslicher Schrecken. «Engel Gottes begegneten ihm.» Gab es noch einen grösseren Beweis von Gottes Absicht, seinen Knecht zu beschützen, als dass die Heerscharen des Himmels sich zu seiner Hilfe scharten? Welch eine herrliche Antwort gab also Gott in seiner Kenntnis auf die Not seines Knechtes, sogar bevor diese gekommen war! «Engel Gottes begegneten ihm.» Welche Grösse in diesen einfachen Worten? Beachten wir, es war nicht nur ein Engel, obwohl dies eine genügende Zusicherung der Macht gewesen wäre, die ihn beschützen würde. Aber «Engel Gottes» stellten eine unermessliche Fürsorge dar, um selbst der übertriebenen Einschätzung Jakobs in Bezug auf seine Gefahr begegnen zu können.

Aber schau, wie er jetzt weitergeht, wie auch später in seiner Geschichte: Er lässt sich nicht aufrichten. Er ist so abgelenkt, so sehr beschäftigt mit seinen eigenen Sorgen, dass nicht einmal die Engel Gottes seiner Seele Erleichterung bringen können. Wohl nimmt er Kenntnis von ihnen und gibt dem Ort, in Erinnerung an dieses Ereignis, einen entsprechenden Namen. Aber es bringt ihm keinen Segen, keine Linderung. Er geht weiter, macht seine eigenen Pläne und steht seinen Problemen allein gegenüber. Wahrlich, ein trauriges Bild! Aber ach, hat es heute im Leben mancher von uns nicht ein ähnliches Gegenstück?

Die Tröstungen, die uns gesandt werden, mögen nicht sichtbare Heere von Engeln sein. Aber sie sind nichtsdestoweniger Gottes Boten und aufgrund seiner Erkenntnis der Empfindungen unserer Herzen geeignet, unseren Bedürfnissen vollkommen zu entsprechen. Sie kommen auf verschiedene Weise, oft durch seine Lenkung der Ereignisse. Er schickt einen Gläubigen, dessen freundliche Gegenwart bei uns ist, wenn wir es am meisten nötig haben. Dann wieder stärkt Er uns durch die Ermunterung der Schriften zum Voraus für ein kommendes Ereignis. Aber alles ist gekennzeichnet durch die gleiche unfehlbare und vertraute Kenntnis unserer gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse. Dadurch erweisen sich alle diese Hilfen als Boten Gottes, wodurch allem eine zusätzliche Gnade und Liebe hinzugefügt wird. Wir sagen dann zu uns selbst: «Es ist der Herr!» und sind einmal mehr überzeugt, dass seine Liebe jede Erkenntnis übersteigt.

Wir sind sicher, dass der Herr Jesus nicht weniger besorgt ist für unsere Bedürfnisse als für die des Jakob. Aber achten wir darauf, dass wir von dem, was seine Liebe uns sendet, einen besseren Gebrauch machen als der Patriarch!