Blickt der Gläubige, der schon manche Jahre mit dem Herrn vorangeht, auf seinen Weg zurück, so kann er mit dankbarem Herzen feststellen, wie er von Anfang an ein Gegenstand der treuen Fürsorge, Führung und Erziehung Gottes gewesen ist.
Ein Beispiel dafür ist Ruth, die Moabiterin, wie wir es leicht erkennen können, wenn wir (im Buch Ruth) ihr Leben unter diesem Gesichtspunkt betrachten.
Ruth glaubt die Kunde vom lebendigen Gott (Kapitel 1)
Ihr Zustand von Natur gab ihr weder Anspruch noch Hoffnung auf irgendwelche Segnungen: «Kein Moabiter soll in die Versammlung Gottes kommen in Ewigkeit» (Neh 13,1-3). Dass Machlon, ein Israelit, sie dennoch geheiratet hatte, war auf dessen Ungehorsam gegenüber dem Gesetz zurückzuführen. Aber nun befand sie sich in der schutzlosen Stellung einer kinderlosen Witwe. Das war ihr bewusst und veranlasste sie, ihren Platz in einer von Gott wohlbeachteten, demütigen Gesinnung einzunehmen.
Waren wir Menschen aus den Nationen nicht alle solche, die «keine Hoffnung haben und ohne Gott in der Welt» sind (Eph 2,11-13), tot in Vergehungen und Sünden? Aber an diesen wollte Gott den ganzen «Reichtum seiner Gnade» erweisen.
Solange die Glieder der Familie Elimelechs im Land Moab ihre Zuflucht und Hilfe suchten, waren sie Ruth, der Moabiterin, kein wahres Zeugnis für den herrlichen Namen des HERRN und seine Verheissungen gegenüber Israel. Als sich aber Noomi sehnte, nach Bethlehem zurückzukehren, und sie sich dazu aufraffte, fanden die Wahrheiten, womit sie ihren Schritt begründen musste, im Herzen dieser Schwiegertochter ein lebhaftes Echo. Sie war wie ein zubereitetes Erdreich, um den Samen des Wortes aufzunehmen. Denn Noomi war für sie eine Verkündigerin der guten Botschaft vom lebendigen und wahren Gott. Und Er selbst wirkte in seiner Huld und Gnade in dieser Moabiterin, die sich ihres Zustandes bewusst war, den Glauben, um diese Wahrheiten zu ergreifen.
Ruth beginnt ein neues Leben
Schon ganz am Anfang ihres neuen Weges (1,8-21) nimmt Ruth eine entschiedene Haltung ein. Noomi will sie offenbar vor Enttäuschungen bewahren, wozu eine bloss menschliche Anhänglichkeit an sie hätte führen können. Darum zählt sie ihr auf, was es sie kosten wird, wenn sie im Land wohnen will, das der HERR seinem Volk Israel gegeben hat:
- Sie muss die Welt in Moab mit ihren Göttern, in der sie gelebt hat, verlassen;
- sie muss damit rechnen, dass sie in Israel Witwe bleiben wird.
Aber Ruth ist fest entschlossen, sich sogleich ganz von Moab zu trennen und alle möglichen Kosten des Glaubensweges auf sich zu nehmen, wie ihr schönes Bekenntnis in Kapitel 1,16.17, zeigt. – Ist ihr Verhalten nicht auch ein Ansporn für alle Gläubigen von heute, ganz mit der Welt zu brechen, in der sie bis dahin gelebt haben mögen? Sie werden dann, ebenso wie Ruth, an den unvergleichlichen Segnungen teilhaben, die der Herr denen gibt, die Ihm in Treue nachfolgen.
Ruth wird geführt
Heute leitet der Herr die Seinen durch den Heiligen Geist (Röm 8,14; Gal 5,18). In Ruth wohnte Er noch nicht. Doch, wie so viele andere Gläubige des Alten Testaments, wurde auch sie Schritt für Schritt geführt. Das Ziel, zu dem Gott sie offensichtlich bringen wollte, war Boas, der ein schönes Bild vom Herrn Jesus ist. In diesem Boas sollte die junge Witwe den grossen Reichtum der Gnade Gottes kennenlernen und bei ihm vollen Segen und Ruhe finden, wie jeder gläubige Christ zum ganzen Mass «der Fülle des Christus» gelangen soll (Eph 4,13).
Nachdem sich Orpa von ihnen getrennt hat, kommen die beiden Frauen nach Bethlehem, zu dem verlassenen Haus Elimelechs. Sie sind arm und haben nichts zu essen. Äusserlich betrachtet, sind sie am Tiefpunkt ihres Lebens angelangt. Noomi beklagt den Verlust ihres Gatten sowie ihrer beiden Söhne und sagt: «Der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht» (1,20). Sie muss noch lernen, sich über ihre eigenen Wege zu demütigen. Aber durch die Erfahrungen der jungen Gläubigen an ihrer Seite wird sie ermuntert werden und ausrufen; «die Güte des HERRN hat nicht abgelassen von den Lebenden und von den Toten» (2,20).
Ruth überlegt: Was nun? Sie sucht keinen Weg «oben hinaus», sondern ist bereit, «unten durch» zu gehen. Das ist gerade der Pfad, den Gott die Seinen führen will, auch wenn sie diese Lektion durch manche Prüfungen lernen müssen. Wie musste es Gott freuen, dass Ruth diese Unterweisung so rasch begriffen hat! Die vergangene Zeit mit ihrem Leid ist dieser jungen Moabiterin genug, den «Willen der Nationen» getan zu haben; sie will jetzt «dem Willen Gottes leben» (1. Pet 4,2.3).
Es ist gerade Beginn der Gerstenernte, und sie will «gehen, um unter den Ähren zu lesen hinter dem her, in dessen Augen sie Gnade finden werde» (Ruth 2,2). Denn die Armen und die Fremden, die das taten, wurden nicht überall gern gesehen; der natürliche Mensch missachtete sie, trotz der Anweisung des HERRN (3. Mo 19,9). Bevor sie geht, will sie wissen, ob Noomi, die Gottes Wort kennt, damit einverstanden ist. Wir sollen «jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus» (2. Kor 10,5).
Welchem Acker läuft sie zu? Oh, «sie traf zufällig das Feldstück des Boas, der aus dem Geschlecht Elimelechs war» (2,3). Der Ungläubige mag das so sehen, aber wer Gott kennt, weiss, dass Er den, der ohne Eigenwillen auf Ihn vertraut und nach seinen Gedanken wandeln will, auf unsichtbare Weise führen kann.
Auf dem Feld des Boas (Kapitel 2)
Was dieses Feld kennzeichnet, ist nicht nur die Tatsache, dass es einer der fruchtbaren Äcker Bethlehems ist, auf dem viel Getreide wächst, sondern dass hier Boas selbst anwesend ist, der als Vorbild auf den Herrn Jesus hinweist. – Der Gläubige darf sich auf seinem Feld aufhalten und all den Segen einsammeln, den ihm Gott durch und in Christus geben will. Das ist eine unfassbar reiche, herrliche Fülle! Er darf sich den ganzen Tag in seiner Gegenwart aufhalten, seine unerschöpfliche Gnade immer mehr beanspruchen und seine über alles Denken hinaus herrliche Person immer besser kennenlernen.
Bei Boas fällt auf, dass er sich für alle Einzelheiten im Leben Ruths interessiert (2,5-7). Er weiss genau, was sie an ihrer Schwiegermutter getan und was sie alles aufgegeben hat, um unter den «Flügeln des HERRN», des Gottes Israels, Zuflucht zu suchen (2,11.12). Wahrlich, sie ist keine Fremde mehr, wie sie sich nannte; vielmehr kann sie bei ihm volle Geborgenheit geniessen. Er kümmert sich sogar zur rechten Zeit um ihre Bedürfnisse, um ihren Hunger und ihren Durst. Auch schützt er sie vor Gefahren (2,9.14).
Ist dies – in jeder Beziehung – nicht das herrliche Teil des Christen, der den Herrn Jesus als seinen Heiland kennt und Ihm «unmittelbar» nachfolgt? Er darf erfahren, dass Er in vollkommener Liebe sein Leben in dieser Welt überwacht. Er sorgt sich nicht nur um ihn in seinen äusseren Bedürfnissen und Angelegenheiten. Er weitet auch seinen Blick für die ganze Fülle des Segens Gottes in Ihm und offenbart dem Gläubigen den Namen des Vaters, der seine Kinder durch Ihn in seine Herrlichkeit einführen will.
Wo ist die Grenze einer solchen Gnade? Und wie Ruth fragen auch wir uns: «Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen?» (2,10). Aber wir kennen auch die Antwort: «Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden» (1. Joh 4,10).
Vom Ährenlesen
Ährenlesen bei andauernder Hitze, auf den stachligen Stoppeln des Ackers, ist mühsam. Da muss man jede liegengebliebene Ähre suchen und sich dafür bücken. Boas freut sich über diesen täglichen Fleiss der Ruth. Er ermuntert sie, sein Feld nicht zu verlassen, um auf einem anderen Acker aufzulesen (2,8), denn dort sind es nicht seine Ähren. Er findet dieses ständige, mühevolle «sich-bücken» gut. Er weist seine Knechte sogar an, Ährenbüschel für Ruth aus den Garben zu ziehen und «sie liegen zu lassen» (2,16), also nicht in ihre Hände zu geben. Der Ertrag soll die Frucht des eigenen Auflesens sein.
Vielen Gläubigen, die die Bibel noch wenig kennen, mag das Sammeln alles dessen, was uns Gott in seinem Wort mitteilen will, beschwerlich erscheinen. Aber welch ein tiefer Segen ist damit verbunden, besonders, wenn die aufgelesenen Ähren auch ausgeschlagen (2,17), das heisst, für das praktische Leben nutzbar gemacht werden. «Wer nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes ist, der wird glückselig sein in seinem Tun» (Jak 1,25). So kann das empfangene Wort auch anderen dienen und zum Segen sein (Ruth 2,18).
Ruth findet Ruhe bei Boas (Kapitel 3 und 4)
Noomi sagte zu Ruth: «Meine Tochter, sollte ich dir nicht Ruhe suchen, dass es dir wohl gehe?» (3,1). ihre Schwiegermutter war mit den Vorschriften des Gesetzes gut vertraut, wonach der nächste Blutsverwandte eines Israeliten dessen Grundstück lösen und kaufen konnte. War dieser kinderlos gestorben, so sollte der Löser zugleich dessen Witwe heiraten, «um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil zu erwecken». Die verwitwete Frau konnte dies vom Löser erwarten. Auch Boas kannte diese Bestimmungen und wollte sie so, wie es vor Gott recht war, von Herzen erfüllen (Ruth, Kap. 3 und 4; siehe auch 3. Mose 25,23-25; 5. Mose 25,5-10). Wir haben gesehen, wie die demütige, tüchtige Ruth den gottesfürchtigen Boas und seine «Gnade» in zunehmendem Mass auf einem Gott wohlgefälligen Weg kennenlernen konnte. Schliesslich hat Gott, unter dessen Flügeln sie Zuflucht suchte, sie zu dem Höhepunkt geführt, dass sie an der Seite dieses Mannes, dieses Lösers, Ruhe finden und ihr Sohn Obed aus dieser Ehe zur Geschlechtslinie des Christus gehören durfte (Mt 1,5).
So gross die Segnungen sind, die diese Moabiterin auf dem Boden des irdischen Volkes Gottes durch Boas empfangen hat, so sind doch die Segnungen im Herrn Jesus weit höher. Sobald Ihn ein Mensch heute im Glauben als Erlöser aufnimmt, ist sogleich jede himmlische Segnung in Christus sein Teil (Eph 1,3). Er empfängt sie nicht nach und nach. Schon hier auf der Erde findet er am Tag seiner Errettung in Ihm Ruhe des Gewissens und unter seinem Joch, in seiner Gemeinschaft, auch Ruhe des Herzens (Mt 11,28-30). Er gehört schon hier durch Glauben zur Braut, die mit Christus verlobt ist (2. Kor 11,2) und bald im Himmel mit Ihm Hochzeit feiern wird (Off 19,7-9). Dann werden wir aus dieser Welt entrückt sein und mit Ihm die ewige Sabbatruhe des Volkes Gottes geniessen (Heb 4,9).
Aber wie anspornend für uns ist die geistliche Entschiedenheit dieser jungen Frau aus Moab und ihre tägliche Treue, die sie vom ersten Schritt an im Glaubensleben kennzeichneten!
«Ruth unter Gottes Erziehung» ist der Titel, womit ihre Erfahrungen mit dem lebendigen Gott Israels und die Unterweisungen, die sein Wort ihr gab, hier überschrieben sind. Wohl steht da nicht die Züchtigung im Vordergrund, womit Gott die Erziehung eines jeden seiner Söhne und Töchter begleitet (Heb 12,7.8). Auch sie war demnach nicht frei davon, denn die Züchtigung ist in seiner Hand ein Mittel, um uns näher zu sich zu ziehen. Aber Er brauchte sie nicht zu züchtigen, um sie zur Unterwürfigkeit unter sein Wort, zur Absonderung vom Bösen und zu treuem Dienst zu führen. Gott selbst hatte «das Wollen und auch das Wirken» in ihr zustande gebracht, und sie hatte Ihm nicht widerstanden. Sie ist das Beispiel eines Gläubigen, der Psalm 119,9 auslebt: «Wodurch wird ein Jüngling seinen Pfad in Reinheit wandeln? Indem er sich bewahrt nach deinem Wort.»