Jeder wahre Christ steht unter einem doppelten Gesichtspunkt vor uns: Er ist ein Gegenstand der Gnade oder ein Gefäss der Barmherzigkeit, und gleichzeitig ein verantwortlicher Heiliger oder Diener. Ihm wurde einerseits etwas geschenkt; anderseits ist ihm aber auch etwas anvertraut worden.
«Durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es.» – «Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet.» Und: «Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefässen, damit die Überfülle der Kraft sei Gottes und nicht aus uns» (Eph 2,4.5.8; 2. Kor 4,7). Das alles ist, Gott sei Dank!, für den Gläubigen eine Tatsache, und auch jede mühselige und beladene Seele, die auf den Herrn vertrauen lernt, findet Ruhe in solchen Worten.
Aber da ist noch eine andere Seite. Wenn diese Schätze Gottes, die das Evangelium der Herrlichkeit des Christus enthält, in «irdene Gefässe» gelegt worden sind, haben diese Gefässe sie zu bewahren. Das irdene Gefäss soll nicht, wie wenn es gesprungen wäre, den Schatz zerrinnen lassen, sondern ihn zurückhalten. Es soll ihn nicht verbergen, sondern ihn zeigen. Durch den Gegensatz selbst, der zwischen dem Gefäss und dem Inhalt besteht, soll die Vortrefflichkeit des Schatzes kundwerden.
Der Schatz oder die Vorrechte, die die Gnade uns verliehen hat, stellen unsere Segnungen dar. Gleichzeitig sind sie aber auch ein uns anvertrautes Talent, für das wir verantwortlich sind. Schatz und Talent kommen beide aus der gleichen Quelle, denn die errettende Gnade unterweist uns auch (Tit 2,12). Aber wir haben alle die Neigung, die Segnungen anzunehmen, ohne uns unter die damit verbundene Verantwortung zu stellen. Das Herz des Gläubigen kann in Trägheit die Gnade auf Kosten der Verantwortlichkeit in Anspruch nehmen, wogegen der, der Christus noch nicht genügend kennt, in gesetzlicher Weise Verantwortlichkeit ausüben will auf Kosten der Gnade. Aber da, wo Christus durch den Glauben im Herzen wohnen kann, wird das Gleichgewicht aufrechtgehalten. Da, wo die Liebe des Christus das Herz befriedigt, drängt sie es auch, und dann ist kein Platz da, weder für Trägheit noch für Gesetzlichkeit. Die Verantwortung wird empfunden und als natürliche und freie Auswirkung der Gnade ausgeübt. Das Talent wird in der tiefen Empfindung des unendlichen Preises des empfangenen Schatzes ausgenützt, und die Tatsache, dass uns etwas von Gott anvertraut ist, erhöht den Wert dessen, was seine Gnade uns gegeben hat.
Eine Seele, die in einem guten Zustand ist, die die Gnade wirklich geniesst und in Gemeinschaft mit Gott lebt, der sie so reich gesegnet und mit allem Guten und jeder vollkommenen Gabe versehen hat, – ist vom Wunsch erfüllt, das ihr anvertraute Gut zu bewahren. Sie tut es nicht in einem gesetzlichen Geist, sondern als Ausdruck eines freiwilligen Dienstes der Liebe. Ein solcher Gläubiger sagt dann: «Die Liebe des Christus drängt uns» – «Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte!» – «Es ist uns unmöglich, von dem, was wir gesehen und gehört haben, nicht zu reden.» (2. Kor 5,14; 1. Kor 9,16; Apg 4,20).
In der Erkenntnis, dass Gott uns armen Wesen in dieser bösen Welt nicht nur einen Schatz gegeben hat, der mit seiner Ehre verbunden ist, sondern auch ein Talent, womit wir diesen ans Licht bringen können, liegt grosse Freude. «Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mir Kraft verliehen hat, dass er mich für treu erachtet hat» und «in den Dienst stellte» (1. Tim 1,12).
Das ist der Ausruf des Apostels hinsichtlich des herrlichen Evangeliums, das ihm anvertraut wurde. In einem gewissen Mass kann das von jedem wahren Gläubigen gesagt werden. Denn es ist unmöglich, ein Gefäss der Gnade ohne Verantwortung zu sein, oder den Schatz ohne das Talent zu besitzen. Das Ausmass der Verantwortung steht dabei im Verhältnis zum Grad der wahren Erkenntnis, das die Seele von der Gnade besitzt. Sind wir in Gemeinschaft mit der Gnade und geniessen wir sie, werden wir auch andere zur Erkenntnis der Dinge zu führen suchen, zu der wir selbst gelangt sind.
Da, wo das Herz frei und glücklich ist, wird dies natürlich und ohne Anstrengung geschehen. Die Seele, die Gott gesegnet hat, kann die Segnungen nicht für sich behalten, der Geist macht sie überfliessend. Die erste Bewegung eines Menschen, der zum Glauben kommt, mag die jener Männer sein, die die Beute unter sich verteilten (2. Kön 7,9). Dann aber sagten sie; «Wir tun nicht recht. Dieser Tag ist ein Tag guter Botschaft; schweigen wir aber und warten … so wird uns Schuld treffen.»
Den vollkommensten Beweggrund zum Dienst, wie auch die Erfahrung dessen, der sich darin in allen Dingen vom Geist leiten lassen will, drückt der Apostel mit folgenden Worten aus: «Gott aber sei Dank, der uns allezeit im Triumphzug umherführt in Christus und den Geruch seiner Erkenntnis an jedem Ort durch uns offenbart! Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch Christi» (2. Kor 2,14).
Die Segnung unserer Mitmenschen ist ein echter Beweggrund zum Dienst. Wir beginnen im Allgemeinen damit. Aber wenn wir durch Glauben wandeln, bleiben wir nicht dabei stehen. Vielmehr finden wir dann grössere Freude in der Tatsache, dass wir mit der Herrlichkeit Gottes und den Interessen Christi auf der Erde verbunden sind. Das ist in der Tat der Wandel und der Platz des wahren Dieners Gottes: Sein Herz wird mehr beschäftigt sein mit den Interessen des Meisters, dem er dient, als mit den Interessen und der Anerkennung derer, denen er um seines Meisters willen dient. Aber er ist sich bewusst, dass es seinen Meister freut, wenn ihnen gut gedient wird.
Unser Schatz ist also Christus, jetzt durch Glauben erkannt, einst hier auf der Erde erniedrigt, für unsere Sünden gekreuzigt, aber auferstanden und nun zur Rechten Gottes verherrlicht. In der Tat, ein kostbarer Schatz! Ein Schatz im Himmel, «wo weder Motte noch Rost zerstören und wo Diebe nicht einbrechen und nicht stehlen» (Mt 6,20). Wenn die Gedanken und das Herz dort bei Ihm sind, wird sich das Talent auf der Erde bald bemerkbar machen. Das Pfund wird nicht in einem Schweisstuch oder in etwas anderem verwahrt sein, und der Dienst nicht mit einer bestimmten und begrenzten Aufgabe verbunden bleiben, was unfähig machen würde, auf einen unerwarteten Ruf des Meisters zu antworten. Der Schatz, das Pfund, sollte vielmehr bei den Wechslern, bei der «Bank» angelegt sein, wo es täglich Zinsen trägt und immer greifbar ist, für den Augenblick, an dem der Herr wiederkommen und mit seinen Knechten abrechnen wird. Was die Gnade uns hier auf der Erde anvertraut hat, gehört nicht uns, sondern im wahrsten Sinn einem anderen. Denn wenn auch alles unser ist, «so sind wir doch Christi, Christus aber ist Gottes» (1. Kor 3,22.23).
Der Herr hat gesagt: «Handelt bis ich komme» (Lk 19,13), und Er hat während der Nacht dieser Welt die Seinen auf der Erde gelassen, damit sie Ihn kennenlernen und Ihm dienen. Alles, was Ihm auf der Erde wertvoll ist, wurde ihnen anvertraut: Sein Name und der Name des Vaters, seine Wahrheit, sein Wort, seine Versammlung, wie auch die Seelen und Leiber der Sünder. Welch ein Schatz!
Möge der Herr in jedem Gläubigen das Bewusstsein dessen erhöhen, was uns seine Gnade so reichlich gegeben und auch anvertraut hat, unseren Schatz und unser Talent, unsere reichen und herrlichen Vorrechte und unsere Verantwortlichkeit!