Wir sind uns bewusst, dass es im Leben des Gläubigen von grösster Wichtigkeit ist, dass sein persönlicher Umgang mit seinem Herrn und Heiland intensiv und ungestört ist. Davon hängt alles ab: ob er Gott wohlgefällig dient und zur Verherrlichung des Vaters viel Frucht bringt, ob er anderen zum Segen sein kann, und ob sein eigenes Herz mit Frieden und Freude erfüllt ist.
In Hohelied 5 finden wir eine andere Situation vor. Hier ist zwischen dem «Geliebten» und seiner «Braut» (worin wir unter anderem auch ein Bild von der kostbaren Beziehung zwischen dem Herrn Jesus und dem einzelnen Gläubigen sehen können) eine geschlossene Tür. Sie ist ein Symbol dafür, was im Leben des Christen ein Hindernis für eine uneingeschränkte, ungetrübte Gemeinschaft mit seinem Herrn darstellt.
«Ich schlief, aber mein Herz wachte.» (Vers 2)
Die Seele beginnt hier eine Erfahrung zu beschreiben, durch die sie gegangen ist. Sie, deren Herz zwar wach ist, sich also nicht mehr im geistlichen Tod befindet, war eingeschlafen. Eingeschlafen waren ihre Gedanken an den, der doch ihr Geliebter war, eingeschlafen daher auch ihre Empfindungen für Ihn.
Ein solcher Zustand kann uns, die wir dem Herrn angehören, so leicht befallen, und wir werden in den Evangelien und Briefen mehrmals davor gewarnt (z.B. Mt 25,5; Röm 13,11; Eph 5,14; 1. Thes 5,6). Unzählige Male wird darin der Aufruf wiederholt: Wacht!
Wie seltsam, dass uns diese geistliche Schläfrigkeit so leicht übermannen und uns so rasch aus der Gegenwart unseres geliebten Herrn entfernen kann! Wie die Braut in diesem Lied, haben wir doch vorher so unübertrefflich kostbare Augenblicke mit Ihm verbracht! Wir sagten dann wie die Braut: «Deine Liebe ist besser als Wein» und: «Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht ist meinem Gaumen süss» (Hld 1,2; 2,3). Aber unversehens nehmen wir wieder mit dem «Wein» vorlieb oder mit den anderen «Bäumen des Waldes», also mit Dingen und Personen, die für unsere Seele nur ein dürftiger oder sogar schädlicher Ersatz sein können.
Oh, wir kennen die Ursache dieser schnellen Umstellung unserer Herzen! Unser Fleisch ist die Einfallspforte für all die sichtbaren, irdischen und weltlichen Dinge, die sich zu einer Scheidewand, zu einer geschlossenen Tür verdichten können, die den Herrn draussen hält. Daher ist es für jeden Gläubigen eine dringende Notwendigkeit, im Licht Gottes die Verdorbenheit seines Fleisches zu erkennen und es allezeit als für «gekreuzigt» zu halten, samt den Leidenschaften und den Begierden (Gal 5,24).
«Horch! Mein Geliebter! Er klopft: Mache mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene!» (Vers 2)
Wer ist der Erste, der sich müht, die abgeschwächte oder gar unterbrochene Gemeinschaft aufzufrischen oder wiederherzustellen? Der Geliebte kommt, während seine Braut noch schläft. So ist es immer. Unser Herr, der uns bis ans Ende liebt, empfindet es tief, wenn Er in unseren Herzen an die zweite oder dritte Stelle gerückt wird. So wie ein auf Ihn gerichteter Blick eines der Seinen, der von Liebe zeugt, Ihm «das Herz raubt» (Hld 4,9), so schmerzt es Ihn, wenn dieser Blick eine andere Richtung nimmt. Er weiss auch, wie der Christ, der Leben aus Gott hat, unter einem solchen Zustand leiden muss, und Er kommt Ihm zu Hilfe.
Achten wir aber darauf, wie Er es tut. Der Geliebte schilt die Braut nicht aus. Das könnte ihre Zuneigungen jetzt nicht aufwecken. Aber Er ruft ihr das zu, was sie für sein Herz bedeutet. So erinnert unser geliebter Herr auch uns, die Seinen, immer wieder daran, was wir für Ihn sind und was Er aus uns gemacht hat. Dieses Erinnern an unsere Stellung und seine Liebe, die darin zum Ausdruck kommt, sind die rechte Medizin, um unser Abirren zu heilen. Wie Er seine Braut hier nennt, so bezeichnet Er auch uns mit ähnlichen Ausdrücken:
- Meine Schwester (seine Brüder): «Denn sowohl der, der heiligt, als auch die, die geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen» (Heb 2,11).
- Meine Freundin (Freunde): «Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört habe, euch kundgetan habe» (Joh 15,15).
- Meine Taube: Wir finden zwar keine Schriftstelle, die uns ebenso bezeichnet. Aber haben wir durch Glauben an den Sohn Gottes nicht ewiges Leben empfangen? Wohnt jetzt nicht der Heilige Geist in uns als Kraft zur Auswirkung dieses Lebens? So sieht unser Herrn Jesus in unseren Augen (Hld 1,15), in unserem Leben, einen Widerschein davon, eine Einfalt ohne Falsch, die die Taube kennzeichnet (Mt 10,16). Nur ist es bei uns Glaubenseinfalt.
- Meine Vollkommene: Was der Bräutigam bei seiner Braut hier sehen musste, war nicht Vollkommenheit. Obwohl Er klopfte, blieb sie liegen. Aber der gläubige jüdische Überrest, wovon sie ein Bild ist, wird im Erlösungswerk Christi ein vollkommenes Heil empfangen. Das gleiche gilt auch für uns. Obwohl wir praktisch nicht vollkommen sind, sieht uns Jesus Christus der Stellung nach doch in der Vollkommenheit, die Er uns durch sein Werk erworben hat: «Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden» (Heb 10,14).
«Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht» (Vers 2)
Noch auf eine andere Weise sucht der Bräutigam die eingeschlafene Liebe seiner Braut anzufachen: Er ruft ihr mit diesen Worten ins Gedächtnis zurück, dass Er draussen, in der Nacht gewesen ist, wo sein Haupt ungeschützt dem Tau preisgegeben war. Erinnert uns dies nicht an Golgatha, wo Christus in eine furchtbare Finsternis gekommen ist, weil Er unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat und dort für uns zur Sünde gemacht worden ist? Dass von der sechsten bis zur neunten Stunde die Sonne verfinstert blieb, war nur der Begleitumstand zu der schrecklichen Nacht, durch die Er gehen musste, weil Er im Gericht Gottes unsere Sünden und Vergehungen sühnen und für unseren sündigen Zustand in den Tod gehen musste.
Wie nötig haben wir Erlöste doch, immer wieder daran erinnert zu werden! Aus diesem Grund hat unser Herr Jesus für uns sein Mahl eingesetzt, das wir zu «seinem Gedächtnis» feiern sollen (Lk 22,19.20; 1. Kor 11,23-26). Das soll uns helfen, dass seine Leiden, sein Tod, sein Erlösungswerk, die Liebe Gottes und die Liebe Christi allezeit vor unseren Augen und Herzen stehen. Seine Person und sein Werk bilden ja die Grundlage unseres Heils, der Inhalt unserer Anbetung des Vaters und des Sohnes und der Ausgangspunkt unseres Auferstehungslebens. Das ist der Preis, um den wir für Gott erkauft worden sind (1. Kor 6,20). Wir gehören Ihm.
«Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füsse gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?» (Vers 3)
So lautet die Antwort der Braut, die sie von ihrem Lager her dem Geliebten vor der Tür zuruft. Welch ein Gegensatz! Von seiner Seite eine Liebe, die keine Mühe, kein Opfer scheut – ihr aber ist jede Anstrengung für Ihn zu viel! Können wir das verstehen?
Ach, müssen wir gläubige Christen, oder wenigstens manche von uns, da nicht beschämt unsere Augen niederschlagen? Wir können uns an seine unendliche Liebe, an sein Opfer bis in den Tod und an seine völlige Hingabe für uns erinnern, aber sind dann oft imstande hinzugehen, um in der Woche uns selbst zu leben. Sein Herz verlangt doch nach unserer Nähe, dass wir Ihm die Türe öffnen, in seiner Liebe bleiben, Ihm in Abhängigkeit leben und dienen und zur Verfügung stehen. Möge sein Rufen nicht umsonst sein, sondern unser Innerstes und unser Gewissen erreichen!
«Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung, und mein Inneres wurde seinetwegen erregt. Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von fliessender Myrrhe am Griff des Riegels» (Verse 4 und 5)
In seiner Liebe lässt der Bräutigam nicht locker, Er nähert sich der Geliebten soweit es Ihm nur möglich ist und streckt seine Hand durch die Öffnung der Tür. Dabei tröpfelt fliessende Myrrhe auf den Griff des inneren Riegels, den Er von aussen weder öffnen kann noch will; denn die Liebe lässt sich nicht erzwingen.
Einem solchen Beweis der Liebe kann die Braut nun doch nicht widerstehen. Ihr Inneres wird seinetwegen erregt. Sie steht auf, um Ihm zu öffnen und ihre Hände und Finger triefen dabei von köstlich duftender, bitterer Myrrhe. Erinnert sie sich da an den Wohlgeruch seiner herrlichen Person, der sich uns vor allem in seinen tiefen Leiden offenbart hat, die über Ihn gekommen sind?
Sie öffnet – und erschrickt: der Geliebte ist nicht mehr vor der Tür! Er ist weitergegangen. Oh, ein sich Wegwenden von Ihm, auch wenn die Gründe dafür harmlos scheinen, zieht schmerzliche Folgen nach sich. Im Bild hier mag es sich um wenige Stunden oder Tage gehandelt haben. Wenn sich jedoch ein Erlöster im Lauf von Monaten und Jahren an ein «Fernverhältnis» mit seinem Herrn gewöhnt hat, wie traurig sind da die Folgen und wie dauert es oft lange, bis er die innige Gemeinschaft mit Ihm wiederfindet! Die Fortsetzung dieses Kapitels im Hohenlied zeigt es.