Wie würde man in der uns umgebenden Welt, die sich christlich nennt, die Haltung Josephs gegenüber der Frau Potiphars beurteilen? Und welches sind eure Reaktionen, junge christliche Freunde? Wir leben in einer Zeitepoche, in der die Begriffe von gut und böse derart ausser Rand und Band geraten sind, dass wir in Gefahr stehen, im Geheimen die gelockerten Auffassungen über den Ernst der Sünde anzunehmen und uns an eine völlig verfälschte Beurteilung der Dinge zu gewöhnen, die nicht mehr auf das Wort Gottes gegründet ist. Zweifellos hat sich die Welt in den letzten fünf Jahrzehnten viel mehr entwickelt als während der vorangegangenen fünf Jahrhunderten. Die Unbeständigkeit, der Widerspruch und die Sünde in allen ihren Formen sind nie so offensichtlich und allgemein gewesen, wie heute.
Ist es angesichts solch allgemeinem Verderben und solcher Entfesselung der schändlichsten Leidenschaften nicht stärkend, sich der Entschiedenheit und Reinheit eines Joseph zu erinnern, die er inmitten grosser Versuchungen an den Tag gelegt hat?
Junge Leute, im Bewusstsein der Gefahr und der Schwierigkeit so mancher Situation, der ihr ausgesetzt sein könnt, möchte ich euch durch das Beispiel eines Gleichaltrigen ermuntern und euch zeigen, dass auch ihr die Unreinheit, diesen grossen Feind der Jugend, überwinden könnt.
Die Versuchung, der Joseph ausgesetzt war, war schrecklich. Sie hat zwar immer bestanden, aber die Umstände, die ihn umgaben, machten sie beinahe übermenschlich. Beachten wir, dass Joseph sehr jung war, vielleicht nur etwa 20 Jahre alt. Das ist ein Alter, das der Versuchung am meisten zugänglich ist, weil die Leidenschaften schon voll erwacht sind, aber noch nicht das Gegengewicht der Überlegung, der Erfahrung und des Verantwortungsgefühls haben.
Joseph war schön von Gestalt und schön von Angesicht. Die jungen Leute beiderlei Geschlechts sind leicht geneigt, mit solchen Vorteilen zu spielen und sich denen gegenüber nachgiebig zu zeigen, die sie bewundern. Joseph genoss vonseiten seines Herrn unbegrenztes Vertrauen. Er war also frei zu handeln, wie er es für gut hielt. Beachtet auch, dass es die Frau Potiphars war, die alle Annäherungsversuche machte. Und diese Versuchung wiederholte sich alle Tage. Einmal oder zweimal zu widerstehen, ist ziemlich leicht, aber wenn sie sich hinterlistig erneuert, zehnmal, zwanzigmal, jeden Tag sogar, wenn die Gewohnheit den Abscheu und den Unwillen des ersten Eindrucks abzustumpfen droht – ach, wie oft triumphiert dann die Sünde! Joseph war ganz allein, und das musste ihn bedrücken. Nicht nur war er fern von seiner Familie, in einem götzendienerischen Land, – bei dieser letzten Versuchung war er auch in diesem Teil des Hauses ganz allein. Kein menschlicher Blick konnte ihm folgen.
Ist es nicht so, dass, wenn wir meinen, sicher zu sein vor Strafe, und wir wissen, dass uns niemand sehen kann, wir geneigt sind, mancherlei tadelnswerte Dinge zu tun? Doch wenn uns auch Eltern und Freunde nicht sehen, so bleibt trotzdem diese beunruhigende Gewissheit: Gott sieht uns. Joseph war davon überzeugt, er, der dieser sittlich verdorbenen Frau täglich wiederholte: «Wie sollte ich diese grosse Bosheit tun und gegen Gott sündigen?» (1. Mo 39,9). Doch hätte die Erinnerung an seine Träume auf der Waage der Verführung Gewicht hinzufügen können. Er wusste, dass er eines Tages gross werden würde, und er hätte sich sagen können: Wer weiss, wenn ich dieser Verlockung nachgebe, dann beschleunige ich vielleicht die Stunde meiner Befreiung und meiner Erhöhung?
Armer Joseph, so jung und so schön, wie wird er sich allein aus den Maschen dieses Netzes befreien, das ihn mehr und mehr umgarnte? In dem Augenblick, als der Feind seiner Seele wähnt, jetzt werde er fallen, befreit sich Joseph durch die Flucht. Er flieht vor dieser schamlosen Frau wie vor einer Schlange. Eine solche Flucht ist nicht die eines Feiglings, sondern die Haltung eines Weisen. Das ist ein rühmlicher Rückzug.
Welche Lektion erteilt uns dieser junge Mann in seiner so schweren Prüfung! Und welches waren die Waffen, die ihm verhalfen, den Sieg zu erringen? Vor allem seine grosse Frömmigkeit, seine Gottesfurcht, sein Abscheu gegen das Böse, seine Entschiedenheit, die jugendlichen Begierden zu fliehen (2. Tim 2,22), die gegen die Seele streiten (1. Pet 2,11). Er befolgte Römer 12,9: «Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten».
Wie viele Menschen, selbst unter denen, die eine Form der Gottseligkeit haben, wollen in der Unreinheit nur Schwachheit sehen, wogegen doch einer der Hauptgründe des Unglaubens einer so grossen Zahl von Menschen unserer Tage gerade in der Unsittlichkeit gesucht werden muss. Wollen wir wissen, was Gott von dieser Sünde denkt, brauchen wir nur an die Gerichte über Sodom und Gomorra und die Kanaaniter zu denken. Lesen wir vor allem den letzten Abschnitt von Römer 1: Dreimal wird da gesagt, dass Gott diese unsittlichen Menschen der Unreinheit hingegeben hat, den schändlichsten Leidenschaften:
- ihre Leiber (Vers 24)
- ihre Seelen (Vers 26)
- ihren Geist (Vers 28)
Welch erschreckendes Bild der Verwüstung durch die Sünde, das uns bestätigt wird in allem, was wir um uns her sehen, besonders in den grossen modernen Städten! Solche Menschen empfangen an sich selbst den gebührenden Lohn ihrer Verirrung (Vers 27).
Ausser seiner tiefen Frömmigkeit und Gottesfurcht, die ihn kennzeichneten, schöpfte Joseph auch Kraft in seiner Liebe zur Arbeit, in der Erfüllung seiner täglichen Pflicht, so prosaisch sie gewesen sein mag. Es wird gesagt, «dass er an einem solchen Tag … ins Haus ging, um seine Arbeit zu tun» (1. Mo 39,11). Eine regelmässige Beschäftigung, bei der man sich bemüht, den Herrn zu verherrlichen, ist ein mächtiges Schutzmittel. Ein inaktiver, fauler oder träumerischer Mensch dagegen hat seine Seele schon der Versuchung geöffnet.
Junge Leute, auf diese oder jene Weise wird die Versuchung an euch herantreten. Ähnlich dem Wasser, das durch die kleinsten Zwischenräume dringt, sucht die «grosse Bosheit», von der Joseph redete, durch alle Ritzen in die Seele zu gleiten. Der Teufel wird eine «Frau Potiphar» zu finden wissen, die alle Lockungen der Sünde vor euch schillern lässt. Er wird seinen Angriff erneuern, jeden Tag, in den Stunden der Freizeit, in der Stille der Nacht. Wenn ihr nachgebt, ist es zum Ruin eures christlichen Lebens, und die zeitlichen Genüsse der Sünde (Heb 11,25) hinterlassen einen bleibenden bitteren Geschmack.
Möge der Herr uns die Gnade gewähren, in dem zu bleiben, was wir gelernt haben (2. Tim 3,14), ohne vom Geist dieses Zeitlaufs fortgezogen zu werden. Lasst uns in der Gegenwart Gottes leben, treu sein in kleinen Dingen, das Böse verabscheuen, die Unreinheit in allen ihren Formen fliehen: schliessen wir dieses Buch, brechen wir mit jener Gesellschaft ab, meiden wir jeden Ort, wo die «Lust des Fleisches und die Lust der Augen» uns hinziehen. Nur in der Gemeinschaft mit dem Herrn ist die Freude rein, heilig und gut.
Aber wenn du in der Versuchung gefallen bist, gibt es dann nicht eine Quelle der Gnade, beim Arzt deiner Seele? Gott allein weiss um die Heftigkeit der Versuchungen, denen du nachgegeben hast; Er kennt den langen und tragischen Widerstand, den du geleistet hast, den Schmerz, den du empfindest, weil du besiegt worden bist. Ist aufrichtiges Bekenntnis da und tiefes Selbstgericht über dein Tun und deinen Zustand, wird Gott zu deiner Befreiung eingreifen.