«Lasst uns den HERRN erkennen, ja, lasst uns nach seiner Erkenntnis trachten!» (Hos 6,3).
«Ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn» (Phil 3,8).
Geistliches Wachstum wird am Fortschritt gemessen, der in der Erkenntnis von Jesus Christus gemacht wird: Wir «wachsen in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus» (2. Pet 3,18). Es ist ein besonderes und wesentliches Merkmal des ewigen Lebens, sowohl den Vater als auch den Sohn zu erkennen (Joh 17,3). Der Sohn Gottes hat uns ein Verständnis gegeben, damit wir den Wahrhaftigen kennen (1. Joh 5,20).
Diese himmlische Erkenntnis unterscheidet die Familie Gottes – selbst das kleine Kind – von der Welt, die Ihn nicht erkennt. Der Herr sagte: «Gerechter Vater! – Und die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast» (Joh 17,25).
Von geistlicher Kindheit bis zu geistlicher Reife wird das Wachstum in der Erkenntnis Christi nie zu einem Ende kommen; aber sie vertieft und weitet sich zu einer zunehmenden Fülle von Gemeinschaft und Freundschaft aus. Der Apostel Johannes stellt bei der Beschreibung der verschiedenen Stadien geistlichen Wachstums in Bezug auf die letzte Reifestufe – die Väter – nichts anderes fest, als dass sie «den erkannt haben, der von Anfang an ist» (1. Joh 2,13.14).
Christus ist also deutlich, wenn nicht gar bewusst, vor der Seele jedes Gläubigen, vom ersten bis zum letzten Augenblick seines geistlichen Lebens in dieser Welt. Am Anfang seines Glaubens mag diese Erkenntnis einer Morgendämmerung nach dem Dunkel gleichen. Aber von dieser Stunde der ersten fliehenden Schatten an führt der Pfad des Gerechten vorwärts, wie «das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe» (Spr 4,18).
Im Leben des Gläubigen muss es notwendig verschiedene gottgewollte Beschäftigungen geben. Da muss Raum sein für praktische Wohltätigkeit und Selbstverleugnung, Raum für Bibellesen und Wortstudium, Raum für aktiven Dienst in der Verbreitung des Wortes Gottes und für manche andere guten Worte und Werke. Aber damit diese Tätigkeit Gott wohlgefällig ist, muss sie einer sich vertiefenden Erkenntnis der anbetungswürdigen Person Jesu Christi, des Sohnes Gottes und Sohnes des Menschen, entspringen und von ihr begleitet sein.
Der Lauf des christlichen Lebens ist schon mit einem langen und geraden Tunnel verglichen worden, der in den strahlenden Sonnenschein des jenseitigen Tages hinausführt. Zuerst erscheint der helle Ausblick nur wie ein winziger Lichtkreis. Aber beim Vorwärtsschreiten weitet er sich nach und nach, bis wir schliesslich in den blendenden Glanz des unumwölkten Tageslichts hinaustreten.
In ähnlicher Weise ist auch Christus vor uns. Wir schauen aus der Finsternis dieser Welt hinauf zur Herrlichkeit Gottes, die aus seinem himmlischen Angesicht leuchtet. Jeder Schritt bringt uns näher zu Ihm, und wie wächst der Glanz seiner Schönheit vor uns! Überall sonst, wenn wir um uns herblicken, ist Finsternis, aber ein Ort über uns strahlt in unaussprechlichem Licht – im Licht der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi (2. Kor 4,6).
Bald wird die Reise zu Ende sein, und wir werden in einem Nu in den Himmel seiner Gegenwart versetzt.
Was wird das sein! Jener Tag allein kann uns die Wunder dieses Anblicks offenbaren und den Umfang des Lobes, das dann anhebt. Wir werden Ihn sehen und Ihn im Haus des Vaters erkennen, wie wir Ihn hier unten nicht erfassen konnten.
Dann wird Fülle von Erkenntnis sein; aber was bedeutet uns die Erkenntnis Christi jetzt, in unserem täglichen Wandel? Vielleicht sind wir uns des Wertes dieser Erkenntnis nicht bewusst. Aber wenn seine Gegenwart plötzlich vor uns enthüllt würde, empfänden wir sogleich, was wir bis dahin zu sehen versäumt haben und wären von unaussprechlicher Betrübnis erfüllt.
Denke einmal darüber nach, was aus Petrus im Gefängnis des Herodes geworden wäre oder aus Johannes, verbannt auf Patmos, wenn ihre Herzen nicht die Nähe der lebendigen Person des Herrn Jesus verwirklicht hätten. Oder nimm den Fall des Paulus, als Gefangener in Rom: Kannst du dir vorstellen, dass er sich in seiner Trübsal gefreut hätte, wenn er dessen beraubt worden wäre, was er «die Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn» nennt?
Wie wahr ist es doch, dass «Christus erkennen» der wahre Kern und das Mark christlicher Erfahrung ist! Ohne Ihn ist der Glaube inhaltlos, die Liebe kalt, die Hoffnung nur ein Traum. Christus ist alles und muss in allem sein. Ist es denn dein Verlangen, dass dein Herz in ständigem Kontakt mit Ihm ist?
Der Herr hat verheissen, dass seine lebendige Gegenwart immer bei den Seinen sei bis zur Vollendung des Zeitalters. Die Schriften heben die Bedeutung Christi für das neue Leben deutlich hervor. In der Tat, die Erkenntnis Christi aus den Belehrungen, den Anweisungen und den Beispielen der Schriften zu streichen, würde nicht etwa heissen, da und dort einen Vers auszumerzen, oder ein Kapitel in dem und jenem Buch zu streichen, oder einen oder zwei der Briefe herauszunehmen, sondern würde das ganze Neue Testament nutzlos oder wirkungslos machen. Denn es schärft uns überall ein, wie die im Herzen wirksame Erkenntnis eines immer gegenwärtigen Christus für das jetzige Leben so notwendig sei.
Selbst wenn du einen alttestamentlichen Gläubigen, sagen wir einen Abraham, fragtest, was die Ursache seiner Freude inmitten der Wechselfälle seines Pilgerlaufes gewesen sei, so würde auch er dir sagen, dass er sich freuen konnte, weil Christus vor den Augen seines Glaubens gewesen sei, selbst in seinen weit zurückliegenden Tagen (Joh 8,56).
Geliebte, lasst uns lernen, dass es das wahre Wesen unseres Lebens als Gläubige ist, täglich den unsichtbaren Christus als eine lebendige Person, die wir kennen, vor unseren Augen zu haben. Dieser Wandel und diese Gemeinschaft mit dem Unsichtbaren kann sich nicht erfüllen ohne das Trachten des Glaubens und die Hingabe der Liebe. Der reife Geist des Paulus, dieses treuen Dieners des Herrn, begehrte auch im Alter nichts sehnlicher, als «Ihn zu erkennen» (Phil 3,10). Lasst es auch unser Streben sein, ihm zu folgen, um den Herrn zu erkennen!
Unser gegenwärtiges Zeitalter ist eines der intensiven Tätigkeit, nicht der ruhigen Betrachtung. Die Tätigkeiten des Geistes und des Leibes werden durch «die Dinge dieses Lebens» beherrscht. Die täglichen vierundzwanzig Stunden genügen kaum, um den vielfachen Anforderungen des modernen unechten Lebens zu entsprechen. Da ist es eine fortwährende Übung, Christus vor unserem Herzen zu haben, im Expresszug, in der bevölkerten Strasse, am hektischen Arbeitsplatz. Aber unsere Anstrengung besteht nur darin, dass wir aus dem Getöse und dem Staub und dem Gejage des irdischen Lebens emporschauen, um einen Eindruck von der makellosen, sonnigen Herrlichkeit des Himmels über uns zu erhaschen. Diese wiederholte «Anstrengung» wird uns bald zur Gewohnheit werden, und obwohl wir durch das wirre Labyrinth der Erde schreiten, werden sich unsere Herzen droben aufhalten, wo Christus ist. Durch diesen täglich nach oben gerichteten Blick werden wir lernen, Ihn immer besser zu erkennen.