«Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes; steh auf, er ruft dich! Er aber warf sein Oberkleid ab, sprang auf und kam zu Jesus» (Mk 10,49.50).
Welch eine lebendige Beschreibung gibt uns Markus von dieser Szene! Da sitzt ein Blinder am Rand des staubigen Weges. Sein geschärftes Gehör vernimmt von fernher den Lärm der Menge, das Gemurmel der Unterredungen, das Trampeln der Sandalen. Er kann nicht sehen, aber er hört sagen, dass Jesus, der Nazaräer, vorübergehen werde, also der, von dem die Leute so manche Dinge berichten, die das Herz berühren.
Zweifellos hatte Bartimäus über diese Kraft der Heilung, über diese Worte der Gnade nachgedacht, von denen man ihm erzählte, die so gut mit den alten Weissagungen übereinstimmten und mit den Verheissungen, von denen er jeden Sabbat in der Synagoge hörte.
Dieser Jesus von Nazareth musste bestimmt der Messias, der seit langem erwartete Sohn Davids sein. War Er nicht in Bethlehem geboren worden, war Er in diesem Augenblick nicht im Begriff, nach Jerusalem hinaufzugehen, in die Stadt des grossen Königs?
Und jetzt vernimmt er, dass sich in der Menge, die an ihm vorübergeht, tatsächlich Jesus von Nazareth befindet. Im tiefen Bewusstsein seiner Armut und seines Elendes schreit er und ruft er um Erbarmen, um das Erbarmen des Sohnes Davids, hier an der Pforte von Jericho, der durch Josua verfluchten Stadt, um Erbarmen für den blinden Bartimäus, den Bettler, so wie auch Rahab, die Hure, es einst fand, um Erbarmen für seine Blindheit, wie auch andere Blinde es gefunden haben.
Er ist beharrlich, sein Schreien übertönt den Lärm der Menge und wird umso lauter, je mehr man ihn zum Schweigen bringen will. Sein Schreien ruft sogleich das Mitleid des Herrn, wie auch sein Wort des Trostes und der Heilung hervor.
Zuvor aber hört er, der gerufen hat, diese Worte: «Steh auf, er ruft dich!»
Wunder der Gnade! Er, von dem die Lade Gottes mit ihrem Sühndeckel aus Gold spricht, und der bei den Mauern Jerichos vorübergeht, steht still, und der Sohn des Timäus wird in die Gegenwart dessen gerufen, der, obwohl der demütige Sohn des Menschen, doch der Herr der ganzen Erde ist. Er wird eingeladen, seine Bitte vor den Füssen des Sohnes Davids selbst, der auch der Herr Davids ist, vorzubringen.
Indem er der Botschaft des Herrn gehorcht, verlässt Bartimäus seine Bettler-Stellung, und in der Eile des Gehorsams wirft er sein Oberkleid ab.
Darin gibt der Blinde uns heute eine Lehre.
Was dieses Oberkleid auch gewesen sein mag, spielt keine Rolle. Ob es aus Lumpen bestand oder ein kostbares Kleid war oder ob Bartimäus gedacht hat, dass, was gut genug gewesen war, um am Rand des Weges zu betteln, sich in der Gegenwart des Königs nicht schicke – das alles ist nicht wichtig.
Verzicht, Selbstverleugnung ist die Lektion, die hier zu lernen ist.
Der Bettler war sehr begierig, dem königlichen Befehl Folge zu leisten. Man sieht es der Art und Weise an, in der er sich erhebt: in Eile. Seine Promptheit, dem Ruf des Meisters zu gehorchen, lässt ihn sein langes Oberkleid abwerfen: Es würde seine Schritte hemmen, ihn am Vorwärtseilen hindern. Er hält sich nicht damit auf, es um seine Lenden zu gürten. Er wird mehr Bewegungsfreiheit haben, wenn er es ganz wegtut. «Er aber warf sein Oberkleid ab, sprang auf und kam zu Jesus.»
Manchmal kommt es vor, dass selbst die Kleider, die uns notwendig erscheinen, uns hindern, den Geboten des Herrn eilends zu gehorchen. Irgendein Umstand, der mit unserer Bequemlichkeit und unserem Wohlbehagen zusammenhängt, kann für uns das Oberkleid des Bettlers sein. Diese Dinge können ohne Zweifel sehr verschieden sein, aber wie sie auch sein mögen, sie halten uns auf. Der Herr verachtet nicht den von Motten durchlöcherten Mantel dessen, der am Wegrand sitzt und die Hand für ein kleines Almosen hinstreckt, während ihn der Wind kalt und scharf anbläst. Andere sind besser dran. Sie tragen gute Kleider und prächtige Pelze, wärmen sich am guten Feuer im schönen Haus, haben fruchtbare Felder, ein grosses Einkommen und reiche Freunde. Aber mit welcher Schwierigkeit werden sie in das Reich eingehen und zum König kommen!
Ob reich oder arm, wie oft verhindern die Dinge dieses Lebens, ob überflüssig oder nötig, eine prompte Antwort oder überhaupt eine Antwort auf die Worte des Herrn Jesus! Dem Jüngling, der mit all seinem Reichtum zu Ihm kam, sagte Er: «Komm, folge mir nach!» Aber der Reichtum war diesem im Weg, und das Opfer zu gross. Er ging weg. Er war nicht gewillt, sein Oberkleid ehrenwerter Religiosität abzuwerfen und Jesus auf dem Weg nachzufolgen.
Der Ruf des Meisters zeigt immer in ausschlaggebender Weise, ob im Herzen ein aktiver Glaube ist oder nicht. Die an den Herrn Jesus, an seine göttliche Hoheit, an seine unaussprechliche Liebe glauben, sind die, die seinem Ruf: «Komm, folge mir nach!» in Eile folgen. Dann werden Ruderboot und Fische, Vater und Häuser wie ein Bettlergewand aufgegeben, wenn sie Hindernisse sind, um mit ganzem Herzen hingebende Jünger zu werden.
Wenn wir uns nicht für den Lauf umgürten, wie können wir dann den Weg seiner Gebote laufen? Wenn wir dem Herrn Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, folgen wollen, so gibt es Bürden abzulegen, wie auch Sünden, die uns so leicht umstricken. Von diesen Fesseln befreit, werden wir laufen und nicht ermüden.
Uns zum Gottesdienst, zur Evangelisation, zur Gebetsversammlung oder Wortverkündigung zu begeben, erfordert einige Anstrengung, ein kleines Opfer unserer Bequemlichkeit. Um uns regelmässig dem Gebet und dem Studium des Wortes hinzugeben, müssen wir das Ruhekissen der Behaglichkeit abwerfen. «Steh auf, er ruft dich.»
Dieses und tausend andere Formen der christlichen Tätigkeit warten auf eine Verwirklichung unsererseits. Aber um irgendwelche dieser Aufgaben möglichst gut ausführen zu können, müssen wir auf unsere Stunden des Vergnügens, der Trägheit, des nachsichtigen Genusses gewisser Freuden der Welt verzichten. Wir müssen das Oberkleid abwerfen und ganz bereit sein, dem Wort des Meisters unverzüglich zu gehorchen.
Die Selbstverleugnung ist eine wichtige Voraussetzung für die Hingabe an Christus. «Mit Christus gekreuzigt sein» geht nicht ohne Schmerzen ab. Wie Paulus haben wir die Barmherzigkeit des Herrn nötig, um treu befunden zu werden. Die aber, die wie Bartimäus zu Ihm um Erbarmen rufen, werden dieselbe Botschaft vernehmen, wie sie am Rand des Weges nach Jericho gegeben wurde: «Sei guten Mutes, er ruft dich.»
Lasst uns also die Lumpen unserer Nutzlosigkeit und unseres Elendes abwerfen und zum Herrn gehen, um «ein Ruhmesgewand statt eines verzagten Geistes» zu empfangen (Jes 61,3)., wie auch seine fortwährenden Wegweisungen für unseren Dienst, um Ihm auf dem vor uns liegenden Weg nachzufolgen, auf dem wir noch nie gewandelt sind.