Mit Christus sammeln oder – zerstreuen

Lukas 11,23

«Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut» (Lk 11,23).

Für den, der Christus dient, ist es immer eine wichtige Frage: Tue ich es gemäss dem Willen meines Meisters? Die erste Kundgebung göttlichen Lebens im Herzen des Saulus von Tarsus bestand darin, ihn durch den Glauben an Christus an den Platz des Gehorsams zu stellen und ihn, den einst unnachgiebig selbstgerechten Pharisäer dem Willen eines anderen zu unterwerfen. Bis dahin waren seine eigenen Gedanken über Gottesdienst für ihn ein genügender Führer gewesen, um die Jünger des Herrn Jesus zu verfolgen. Er meinte wirklich, Gott damit zu dienen; so wie einst Naaman von seinen eigenen Gedanken über die Heilung von seinem Aussatz beherrscht wurde (2. Kön 5,11). Nun aber begann Paulus zu fragen: «Was soll ich tun, Herr?» Und die Antwort: «Es wird dir gesagt werden», liess ihm im Dienst seines neuen Meisters keinen Raum zur Ausübung seines eigenen Willens.

Da in den Dingen Gottes Neutralität unmöglich ist, ist für den Diener Christi auch jede Unabhängigkeit unzulässig. Daher ist eine geistliche Erkenntnis des Willens des Herrn von grösster Wichtigkeit für ihn. Ein Verständnis zu haben für die göttlichen Ziele bringt dem, der sie kennt, vermehrte Verantwortung und ein schwereres Urteil, wenn er ungehorsam ist, wogegen eine treue Ausübung der empfangenen Gabe vermehrte Segnung bringt. «Wer hat, dem wird gegeben werden» (Mt 13,12; Mk 4,25; Lk 8,18).

Wenn wir nicht so sehr haften blieben an den natürlichen und überlieferten menschlichen Gedanken über Gott und Christenheit, oder was Menschen Religion nennen, fänden wir es viel leichter, die Belehrung des Herrn Jesus im Lukas-Evangelium zu verstehen. Was wird uns denn hier besonders vorgestellt?

Es ist Gott selbst, der sein Volk in Gnade besucht hat, und Christus ist der Diener der Gnade für uns, im Geist der Demut und der fortwährenden Abhängigkeit von Gott, die für einen wahren Mann Gottes so unerlässlich ist. Eine Menge der himmlischen Heerscharen wird uns vorgestellt, die in Gegenwart der Hirten ihrer tiefen Freude Ausdruck geben (Lk 2,8-14), während die Welt keinen Raum für den eingeborenen Sohn Gottes und Sohn des Menschen findet und das Kaisertum von der Geburt des Kindes nur amtlich Kenntnis nimmt, wie von jeder anderen Geburt. Die Unwissenheit der Welt und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Absichten Gottes traten völlig zutage. So wurde deutlich, dass der Mensch bei aller Religiosität schuldig, verloren und tot ist; und diese Religiosität hindert ihn zudem, von der Gnade Gebrauch zu machen, wie Lukas 4 uns zeigt. Der Herr Jesus, Gottes treuer Bote der Gnade, fand auf seinem Weg angehäufte Schwierigkeiten, und Er warf sich auf Gott im Gebet, wie wir am Anfang unseres Kapitels sehen (Lk 11,1). Denn die religiöse Stellungnahme des Menschen kann nicht anerkannt werden; sie ist falsch und untauglich, um aus Gott geboren zu werden.

Sogar die Jünger selbst bekennen ihre Unwissenheit bezüglich des richtigen und angemessenen Weges, Gott zu nahen, und der Herr unterweist sie in Güte; denn durch Gnade glaubten sie wenigstens und waren aufrichtig (Verse 1-14). Aber das ist nicht alles, wir dürfen nicht Halt machen bei der Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse; wir sind aufgerufen, für andere zu Gott zu gehen. Das Gebet «gib uns» ist beantwortet worden, die persönlichen Bedürfnisse wurden gestillt, aber die Umstände «meines Freundes auf der Reise», mitsamt meiner eigenen Armut und Unfähigkeit, ihm zu helfen, liegen schwer auf meinem Geist und erfordern ernsthaftes, «unverschämtes» und beharrliches Anhalten im Gebet. «Das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel.» Scheinbar mag es nicht erhört werden, wie das Flehen Elias um Regen auf dem Berg Karmel zunächst unbeantwortet blieb («Geh wieder hin, siebenmal» – 1. Kön 18,43); aber nur scheinbar. Menschliche Freundschaft mag zwar zusammenbrechen, wenn sie zu grossem Druck ausgesetzt wird, Gott aber wird geehrt, wenn wir unbedingt so mit Ihm rechnen, und Er steht in unendlicher Weisheit über dem, wovon das Herz eines Menschen auf der Erde besessen sein kann. Das zeigt sich an dem Beispiel des Stummen (Vers 14). Dieser hat keine Stimme für Gott, weder zum Gebet noch zum Lobpreis. Gott war in Christus in Kraft erschienen, zur Befreiung des Menschen von der Gebundenheit des «bewaffneten Starken» sowie auch in einer Fülle von Gnade, die überströmend segnen konnte. Aber wie dieser Abschnitt zeigt, verschlossen Stolz und Hass jeden Zugang zum Herzen des Menschen, damit er nicht die Liebe empfange, die Christus gebracht hat. Sie verschlossen seine Lippen vor jeder Äusserung seines Bedürfnisses oder des Dankes für empfangenes Gutes. Hier offenbarte sich, dass der religiöse Mensch völlig unter der Macht Satans stand, indem er offen den Heiligen Geist lästerte; denn damals wie heute war der Geist die einzige Kraft, die Gottes Gnade zum Segen des Menschen wirksam machen konnte.

Der Herr Jesus gebrauchte in seinem Dienst jedes Argument, das geeignet war, Sünder zu einem tiefen Bewusstsein der Wirklichkeit dieser Gnade zu bringen, von der Er die Fülle und der Kanal war, und um sie zu bewegen, durch Glauben davon Gebrauch zu machen, indem Er ihnen sagte, dass «sie allezeit beten und nicht ermatten sollten» (Lk 18,1). Da war unbegrenzte Ermutigung, dies zu tun, aber der Mensch war nicht bereit dazu und wollte lieber den Platz eines Anbeters einnehmen, wenn auch in falscher Weise, indem er Gott für seinen eigenen Zustand dankte, der in Wirklichkeit eine Verleugnung der Wahrheit war. («O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die Übrigen der Menschen!» – Lk 18,11.) Unter diesen Umständen war es das eigentliche Werk Christi, die Gläubigen zu sammeln und die Segnungen der Gnade nicht so auszuteilen, dass der Mensch fortfahren konnte, sie für seinen natürlichen Zustand zu beanspruchen.

Manche haben gedacht und gesagt, dass, wenn sie nur genügend Reichtum und Autorität besässen, sie aus der Welt ein Paradies machen könnten, worin jedes Geschöpf glücklich wäre. Sie wollten Umstände ändern, die das Ergebnis der Sünde sind. Aber dabei bliebe Gottes Natur, seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit und seine Liebe unbekannt, das Gewissen bliebe unberührt und ungereinigt, und solche Anstrengungen würden den Sünder nicht wirklich zu Gott ziehen. Der verlorene Sohn soll in die Fülle des Vaterhauses zurückkehren. Gewiss, der Mensch hat viel, ja alles verloren; aber Gott selbst hat sich auch mit seinem eigenen Verlust der Welt und besonders des Menschen darin beschäftigt. Christus kam in die Welt, um Sünder zu erretten, und Er will – unter der Ausführung des angekündigten, unvermeidlichen Gerichts des Bösen, das im schrecklichen Feuersee ausmündet – schliesslich Gottes Autorität wiederherstellen, «damit Gott alles in allem sei» (1. Kor 15,28).

Was Er in der Zwischenzeit tut, ist dies, Menschen aus der gegenwärtigen bösen Welt herauszurufen und herauszunehmen. Dies ist weit besser als eine äussere Reformation, die den Sünder an seinem alten Platz der Entfernung von Gott im «fernen Land» lässt. Der Herr Jesus war ein «Diener der Beschneidung», gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel, damit sie gesammelt würden, so wie dies im prophetischen Zeugnis der alttestamentlichen Haushaltung vorausgesagt war. Die Reaktion auf den Dienst Christi unter seinem Volk und seine schliessliche Verwerfung bewies, dass das ungläubige Israel nicht gesammelt werden würde. («Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen … und ihr habt nicht gewollt!» – Mt 23,37.) Gott sah das Fehlschlagen der Mission des Messias voraus; schon in Jesaja 49,4 und den folgenden Versen wird es als Tatsache dargestellt. Aber die dort niedergelegte Antwort des HERRN enthüllt jene Ratschlüsse und Absichten Gottes, die zur festgesetzten Zeit ihre volle Erfüllung in der Berufung aus Juden und Nationen zur Versammlung finden; nur war dazu die himmlische Herrlichkeit Christi nötig. «Und Israel ist nicht gesammelt worden; aber ich bin geehrt in den Augen des HERRN.» Diese bemerkenswerte Prophezeiung zeigt uns die genaue Reihenfolge der im Neuen Testament mitgeteilten Ereignisse: den zeitweisen Misserfolg der Mission Christi gegenüber Israel:

  • ein leidender und verworfener Messias,
  • aufgenommen in den Himmel und dort verherrlicht,
  • zum Heil Gottes gemacht bis an das Ende der Erde.

Da also ist der göttliche Mittelpunkt von allem. «Und ich, wenn ich von der Erde erhöht (verworfen) bin, werde alle zu mir ziehen» (Joh 12,32).

Dieses Sammeln zu Christus selbst hin sehen wir in den vier Evangelien an manchen Stellen, besonders im Johannes-Evangelium, wo die Darstellung Christi vor seinem irdischen Volk, die unumgänglich war, von Anfang an als Misslingen bezeichnet wird. «Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an.» Aber im Zeitpunkt, als Christus seinen Platz zur Rechten der Majestät in der Höhe einnahm, wurde der Heilige Geist gesandt, um dies auszuführen. Nach den Gedanken Gottes gibt es nichts anderes, was so zum Segen des Menschen ist, wie dieses Sammeln zu Christus hin. Wenn Er nicht Gott wäre, würde dies Gott herabsetzen; aber auch in der Herrlichkeit ist Er Mensch, wie hier, in wunderbarer Gnade und Wahrheit. Er allein ist Gottes Zentrum der Einheit, als Haupt über alles der Versammlung gegeben. Der von dem Vater und dem Sohn gesandte Heilige Geist ist nun auf der Erde wirksam, nicht nur für das Evangelium, sondern um das Ziel des Vaters zur Verherrlichung des Sohnes zu erreichen, «für die Verwaltung der Fülle der Zeiten alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus» (Eph 1,10). Bei seinem Kommen wird Er vor aller Schöpfung seine Herrlichkeit entfalten; jetzt noch ist Er erst droben erhöht und als «Haupt über alles der Versammlung gegeben», was hier nur dem Glauben bekannt ist.

An einem Tag religiöser Tätigkeit, wo so viele Bewegungen auftreten zur Förderung von Erweckungen und zur Entfaltung religiöser Begeisterung, wird diese göttliche Absicht leicht übersehen, und manche christlichen Arbeiter sind völlig befriedigt, wenn nur das Geschöpf gesegnet wird, sei es durch geistliche oder soziale Reformen. Anderseits mag bei denen, die die Wahrheit erkennen, sie bezeugen und von ihrer Wichtigkeit überzeugt sind, ein trauriger und unentschuldbarer Mangel an Liebe zu Christus und den Seinen vorhanden sein, wie auch ein Mangel an evangelistischem Eifer, so dass das dem Diener gegebene Vorrecht, mit Christus zu sammeln, leichthin aufgegeben wird. Wahre Erkenntnis offenbarter Wahrheit kann zu lehrhaftem Stolz und Selbstgefälligkeit entarten, die für Christus unerträglich sind (Off 3,16), während Eifer ohne Erkenntnis die Segnung des Sünders zum Endzweck unseres Dienstes macht, statt die Verherrlichung Christi. Keine Gruppe von Christen, so reich an Gaben und so einsichtig sie sein mag, könnte mit Recht sagen: «Wer nicht mit uns sammelt, zerstreut» – was der Gedanke des Johannes war (Lk 9,49.50). Aber dieses Wort des Herrn fordert heute jeden seiner Diener heraus:

«Wer nicht mit mir sammelt, zerstreut.»