Freude ist für das Volk Gottes charakteristisch, wogegen sie in den menschlichen Systemen fehlt. Orientalische Träumereien, platonische Zwiegespräche, kurz alle Philosophien, ob antik oder modern, wissen nichts von diesem ersehnten Herzenszustand. Den Modernen ist sie noch weniger bekannt als den Alten. Wie könnte dies anders sein, da man sich heute ja vom einzigen wahren Licht wegwendet? Einst achtete man wenigstens noch auf die Warnung des Gewissens, wenn dieses auch oft verdunkelt war. In der antiken Literatur heilige, überströmende Freude zu suchen, ist also umsonst, wenn auch manches Liebliche und Ergreifende darin gefunden wird, eingekleidet in eine Vollkommenheit der Form, die wenige der Modernen erreicht haben. Auch in der Literatur unserer Tage wird viel Wohlklingendes gefunden, schöne zwielichtige Zeilen, die im Grenzland von Nacht und Tag dahinschweben. Aber was sind diese, wenn sie in das klare Licht der christlichen Wahrheit gestellt werden? Freude ist, wir wiederholen es, das unterscheidende Kennzeichen des Christentums, wie sie einst auch das wiederhergestellte Israel charakterisieren wird.
«Grosse Freude!» Wie passend sind diese Worte an den Anfang dieses herrlichen Evangeliums des Lukas gestellt, worin die Gedanken so mancher Herzen kundgemacht werden, die durch die heilige Freude belebt und erneuert sind. Anna und Simeon haben sie erfahren, die Frau, die «eine Sünderin» war, der verlorene Sohn (wenn auch die Freude des Vaters noch viel grösser war), der bekehrte Räuber am Kreuz, die zwei bevorzugten Jünger, die der Herr auf der wundersamen Wanderung nach Emmaus begleitete – die Erfahrung eines jeden von diesen war so verschieden von den traurigen Befürchtungen und Verlegenheiten und Bekenntnissen der heidnischen Weisen. Keiner von ihnen – ich habe ihre Werke gelesen – konnte je etwas sagen, was das Herz zu trösten und ihm eine solche Freude zu geben vermochte. Wie hätten sie es auch tun können? Suchen wir göttlichen Trost und wahre Freude, müssen wir zu Gottes Wort greifen; zum Alten Testament, besonders zu den Psalmen Davids, und zum ganzen Neuen Testament. Vor allem in diesem herrlichen Lukas-Evangelium, das ein brillanter aber ungläubiger Schriftsteller des 19. Jahrhunderts «das schönste Buch, das es gibt», genannt hat, wird uns die Freude vorgestellt.
Hält uns aber nicht manches von der Freude zurück? Da ist so vieles, was das Leben traurig machen will: unsere Fehler als Gläubige, der Zustand der Welt, die Verwirrung in der Kirche, die verhältnismässig geringe Anzahl von Gläubigen, die Myriaden von Ungläubigen – das alles soll uns ja zu Herzen gehen. Dann ist da auch der uns geziemende, notwendige Ernst, der uns erfüllt, wenn wir über die Leiden des Heilandes sinnen und uns – wenn auch unvollkommen – hineinversenken, was es für ein Wesen von unendlicher Heiligkeit gewesen sein musste, «zur Sünde gemacht» zu werden und den Zorn Gottes über unsere Sünden zu erdulden: Das immer wieder zu erwägen, steht uns nicht nur wohl an, sondern ist unerlässlich. Doch die Worte des Engels bleiben, und sie verkündigen «grosse Freude, die für das ganze Volk sein wird». Christen, die gesegneter sind als Israel, brauchen das jüdische Volk, dem die Freude des Messias zunächst verheissen wird, nicht zu beneiden. «Denn euch ist heute ein Erretter geboren» – gilt ja auch uns. Und findet die «grosse Freude» ihren Höhepunkt nicht darin, dass wir uns jetzt allezeit «im Herrn» freuen dürfen, mit dem wir Gläubigen der Jetztzeit so innig verbunden sind?
Was das Herz befriedigt, ist überströmende Freude, und sie wird in Christus und in allen seinen Segnungen gefunden. Alles andere ist wie Rauch, der sich auflöst, mögen die Dinge grob oder verfeinert sein. Der Christ kann ihr hier Glauben, Liebe und Hoffnung hinzufügen und im Frieden Gottes vorangehen. Und wenn seine Freude hier unten noch so oft unterbrochen wird, so wird sie in der Herrlichkeit droben unveränderlich vollkommen und ohne Ende sein.