Völlige Freude

Johannes 15,10-11; Johannes 16,24; 1. Johannes 1,3-7

Der Christ hat das Vorrecht, eine Freude zu besitzen, die die Welt nicht kennt und nicht versteht. Die Welt kennt sie nicht, weil ihr deren Ursprung und deren Urheber unbekannt ist. Sie begreift sie nicht, weil sie ihre Beweggründe nicht erfassen kann.

Wenn es in der Welt Freude gibt, so ist es eine Freude, wovon das Wort sagt: «Auch beim Lachen hat das Herz Kummer, und das Ende der Freude ist Traurigkeit» (Spr 14,13). Sie gibt eine Freude, die die Gedanken des Ungläubigen von einer Zukunft ablenkt, die für ihn sehr finster ist. Eine solche Freude, die ihren Ursprung in den Zerstreuungen der Welt hat, kann nicht «völlig» sein.

Die völlige Freude erfüllt das Herz, weil es eine Freude «im Herrn» ist und weil dann in dem Herzen des Gläubigen für nichts anderes Platz ist als für Ihn. Die Traurigkeit ist ausgeschlossen.

Aber der Ausdruck «völlige Freude» enthält noch mehr. Er erinnert uns daran, dass diese Freude einen Urheber hat, nämlich den, der gesagt hat: «Es ist vollbracht». Als Er das Erlösungswerk zu unserem Heil vollendete, hat Er für uns diese unaussprechliche und verherrlichte Freude voll gemacht, die jetzt unser Teil ist. Sie hat ihren tiefen Ursprung in den Leiden des Herrn am Kreuz, und darum kann sie sich nicht in der gleichen Weise wie die Freude der Welt in lauten Äusserungen oder gar in zügellosem Gelächter offenbaren. Es ist eine stille und glückliche Freude, die man nicht nur vom Gesicht des Gläubigen, sondern auch aus seinen Worten und Handlungen ablesen kann.

Doch sind wir weit davon entfernt, dass wir alle und jederzeit den Zuruf des Apostels an die Philipper verwirklichen: «Freut euch im Herrn allezeit!» (Phil 4,4), den er in einem Augenblick niedergeschrieben hat, als seine Umstände alles andere als erfreulich waren. Um eine völlige Freude besitzen zu können, werden uns im Wort verschiedene Bedingungen gestellt, von denen wir hier drei anführen wollen.

1. Gehorsam

«Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde» (Joh 15,10.11).

Ungehorsam ist ein Hindernis für die Freude. Die Kinder sind Beispiele dafür. Ein normales Kind, das unfolgsam war, ist nicht glücklich, bis es den Eltern sein Vergehen bekannt hat. Auch wir können es nicht sein, solange die Frage unserer Sünden und unserer Verfehlungen vor unserem Vater nicht geregelt ist. Haben wir es aber getan, so können wir bitten, wie David in Psalm 51,14: «Lass mir wiederkehren die Freude deines Heils», und Er wird uns erhören.

Diese völlige Freude als Ergebnis des Gehorsams, war sie nicht die Freude des Herrn selbst, der zu den Seinen sagt: … damit meine Freude in euch sei»?

Seine Freude. Die Freude des Menschen, der gehorsam war bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Die Freude des Anfängers und Vollenders des Glaubens, «der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete» (Heb 12,2). Sollte es eine Freude geben, die jene übertreffen könnte, die Er mit uns teilen will, die aber den Gehorsam zur Voraussetzung hat? Ist es auch unsere Lust, das zu tun, was zum Wohlgefallen seines Vaters ist, und ist sein Wort «im Innern unseres Herzens» (Ps 40,9)?

2. Abhängigkeit

Die zweite Bedingung zum Genuss einer völligen Freude ist die Abhängigkeit: «Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude völlig sei» (Joh 16,24).

Nachdem der Apostel den Philippern gesagt hat: «Freut euch im Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freut euch!» (Phil 4,4), zeigt er ihnen, dass das Mittel, um zu dieser Freude zu gelangen, in der Abhängigkeit besteht: «Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden.» Milde, Nähe des Herrn, stilles, ruhiges Warten auf die Antwort, die Gott auf unser Gebet und Flehen geben wird – das sind die Wesenszüge eines abhängigen Menschen und die Quelle einer völligen Freude. In welchem Mass praktizieren wir dies? Sind unsere Beunruhigungen nicht sehr oft ein Hindernis für unsere Freude?

Lasst uns auch darin den Herrn, den abhängigen Menschen betrachten, so wie der 16. Psalm Ihn in der Vollkommenheit seines Lebens der Unterwürfigkeit und Abhängigkeit uns vorstellt. Und ist dieser Psalm nicht gleichzeitig ein Gesang der Freude? «Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele … Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar» (Ps 16,9.11). Die tiefe Freude, die uns so erquicken soll, wie sie Ihn gesättigt hat, kam bei Ihm aus der Betrachtung dessen hervor, der Ihm den Weg des Lebens kundgetan und Ihn auf diesem Weg bewahrt hat.

3. Gemeinschaft

Besonders die Briefe des Johannes sind es, die von einer dritten Voraussetzung für eine völlige Freude reden: Sie ist das Ergebnis der Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus, wie auch mit unseren Brüdern und Schwestern. «Und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir euch, damit eure Freude völlig sei … Wir haben Gemeinschaft miteinander» (1. Joh 1,3-7).

Gemeinschaft der Gedanken, Gemeinschaft in der Liebe, ewige Gemeinschaft und ewige Freude, die schon in der vergangenen Ewigkeit zwischen dem Vater und dem Sohn bestand: «Ich war Tag für Tag seine Wonne, vor ihm mich ergötzend allezeit» (Spr 8,30). In diese Gemeinschaft und Freude sind wir durch Gnade eingeführt worden: «Meine Wonne war bei den Menschenkindern.

Worin ist eine Gemeinschaft mit dem Vater für uns möglich? Darin, dass wir in seine eigenen Gedanken eintreten können bezüglich alles dessen, was die Vollkommenheiten seines Sohnes anbelangt. Und worin ist eine Gemeinschaft mit dem Sohn für uns möglich? Darin, dass der Sohn uns den Vater offenbart hat und wir jetzt mit dem Sohn die Erkenntnis des Vaters teilen, als Teilhaber der gleichen Liebe, die die Liebe des Vaters für den Sohn zum Mass hat. Aber die Gemeinschaft mit dem Vater und mit dem Sohn, so erhaben sie ist – und wir reden da vom Höchsten, was es gibt – ist nicht erfassbar ohne die Gemeinschaft miteinander. Alle «gleich gesinnt, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes» – diese Gemeinschaft der Brüder und Schwestern untereinander konnte allein die Freude des Apostels erfüllen (Phil 2,2).

Der Herr gebe uns, dass wir diesen drei Bedingungen zu entsprechen suchen, die zum Genuss einer völligen Freude erforderlich sind, damit wir wie David sagen können: «Ich werde jubeln in dem Schatten deiner Flügel» (Ps 63,8).