Jesus sah

Matthäus 9,36; Matthäus 14,14; Markus 6,34.48; Lukas 5,18-32; Lukas 7,12-15; Lukas 17,11-19; Lukas 18,18-30; Lukas 19,1-10; Lukas 21,1-4; Lukas 22,61-62

Obwohl wir in der Schrift oft ermahnt werden, auf den Herrn Jesus zu sehen, wollen wir jetzt nicht davon reden, sondern uns nun mit einigen Schriftstellen beschäftigen, worin wir lesen, dass Jesus andere ansah, sei es viele zugleich oder einzelne im Besonderen.

Wer anhand einer Konkordanz oder einer Computer-Bibel diese Stellen aufsucht und überdenkt, wird dadurch gewiss einen reichen Segen empfangen. Aber er wird auch feststellen, dass es unmöglich ist, sie alle in einem Artikel zu besprechen. So musste eine Auswahl der Stellen getroffen werden, über die im nachfolgenden etwas gesagt werden soll.

Jesus sah die Volksmenge

Dieser Ausdruck, den wir in den Evangelien einige Male antreffen, steht in Verbindung mit den Worten: «Er wurde innerlich bewegt über sie». So lesen wir in Matthäus 9,36: «Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und hingestreckt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.»

Der Herr sah die Volksmenge nicht nur in ihrem äusserlichen Zustand, so wie er von jedem wahrgenommen werden konnte, sondern Er sah auch ihren innerlichen Zustand und ihre geistliche Not. Sie waren wie Schafe ohne Hirten. Diese Worte enthalten eine ernste Anklage gegen die Führer des Volkes, die es durch ihre Untreue mit ihnen so weit hatten kommen lassen. Und der Herr regte dann seine Jünger an, den Herrn der Ernte zu bitten, Arbeiter auszusenden.

Aber nicht nur zum Gebet wurden sie aufgerufen. Unmittelbar darauf lesen wir, dass der Herr ihnen einen Auftrag gab, unter den verlorenen Schafen zu wirken. Das ganze folgende Kapitel ist diesem Auftrag gewidmet. Der Herr verheimlichte ihnen die Schwierigkeiten nicht, mit denen sie dabei zu kämpfen haben würden. Wie sollten sie die Aufgabe je erfüllen können, wenn sie dabei nicht durch dieselben Gefühle der Liebe und des Erbarmens getrieben wurden, die der Meister zeigte?

Wenn wir in der Apostelgeschichte und in den Briefen von der Arbeit des Paulus lesen, sehen wir, welch eine erbarmende Liebe auch in dem Herzen dieses Mannes wohnte. Er sah die geistlichen Nöte in der Welt seiner Tage und, getrieben durch die Liebe des Christus, setzte er bei der Ausführung des Auftrages, den der Herr ihm gegeben hatte, seine ganze Person ein.

Möchte dies doch auch bei uns mehr der Fall sein! Lasst uns lernen, die Menschen um uns her mit den Augen des Herrn zu sehen, damit wir ihnen mit seiner Botschaft der rettenden Liebe in seiner Gesinnung entgegentreten.

In Matthäus 14,14 finden wir wiederum diese Worte, dass der Herr eine grosse Volksmenge sah, und dort wird hinzugefügt, dass Er ihre Schwachen heilte. Darin zeigte Er sein Erbarmen über diese Menschenscharen, und auch darin, dass Er seine Jünger in den Stand setzte, die hungrige Menge auf eine solche Weise zu speisen, dass von den fünf Broten und zwei Fischen zwölf Handkörbe voll übrigblieben. Zum dritten Mal finden wir diese Worte in Markus 6,34. Dort lesen wir, dass der Herr der Volksmenge dadurch sein Erbarmen zeigte, dass Er sie viele Dinge lehrte: Auch das ist jetzt nötig. Den geistlichen Nöten kann nicht durch soziale Besserstellung begegnet werden. Wo man nur in dieser Weise hilft, werden die Menschen wie Schafe ohne Hirten in der Sklaverei der Sünde umherirren. «Vieles lehren» bezieht sich zunächst auf das Evangelium. Wer dieses annimmt, kommt dann unter die Hut dessen, der der gute Hirte ist.

Unmittelbar nach dieser Begebenheit in Markus 6 folgt ein anderer Aspekt zu unserem Thema:

Jesus sah die Seinen

Der Herr zog sich auf den Berg, in die Einsamkeit zurück, um zu beten. Er nötigte die Seinen, auf die andere Seite des Sees hinüberzufahren. Dass sie genötigt werden mussten, zeigt, dass sie es nicht von Herzen taten. Hat ihre Fischererfahrung und ihre Wetterkenntnis sie davon abgeschreckt, die Überfahrt zu wagen? Wir können es nur vermuten.

Der See ist in der Mitte etwa zwölf Kilometer breit. Eine lange Reise war es also nicht, selbst dann nicht, wenn sie sie rudernd zurücklegen mussten.

Vergleichen wir aber alle hier vermerkten Einzelheiten mit denen aus Matthäus 14 und Johannes 6, so sehen wir, dass, nachdem sie sich neun Stunden lang mit Rudern abgemüht hatten, sie sich noch mitten auf dem See befanden und das Schiff Not litt von den Wellen. Johannes schreibt, dass sie bis dahin erst fünfundzwanzig oder dreissig Stadien zurückgelegt hauen. Das sind nur ungefähr fünf Kilometer.

Warum hatte sie der Meister in diese Schwierigkeiten gebracht?

Hatte Er sie jetzt wohl aus den Augen verloren und vergessen?

«Er sah sie beim Rudern Not leiden». Doch liess Er sie bis zur vierten Nachtwache, also neun Stunden lang sich abmühen. Warum denn? Auch das war Liebe. Was seine Jünger durch das Wunder der Brote nicht gelernt hatten, lernten sie nun im Sturm auf dem See. Er kam zu ihnen auf seine Weise und rettete sie zu seiner Zeit.

Und der Herr hat sich für die Seinen in keiner Weise verändert. Er ist jetzt hingegangen, um sich zur Rechten Gottes zu setzen, wo Er immerdar lebt, um sich für die Seinen zu verwenden und sie dadurch völlig zu erretten.

Aus der Herrlichkeit liess Er Johannes den sieben Versammlungen in Kleinasien schreiben. Sein siebenmal wiederholtes: «Ich kenne» oder «ich weiss» beweist, dass Er auf sie achtgab und mit ihnen lebte. Das hier gebrauchte Wort hat die ähnliche Bedeutung wie «sehen» und wird oft auch so übersetzt.

Was wir hier lesen führt uns zur Betrachtung einer anderen Tatsache:

Der Herr sieht alles

Als ein kleines Mädchen diese Worte in der Kinderstunde vernommen hatte, sagte es zu Hause: «Und ich finde das gar nicht nett!»

Dürfen wir eine solche Reaktion verurteilen? Lasst uns vorsichtig sein und uns fragen: Tragen wir dieser Tatsache allezeit Rechnung? Du kennst wohl den Wandspruch mit den Worten: «Jesus ist der ungesehene Gast, der alles sieht, der stille Zuhörer bei jedem Gespräch», usw. Das ist sehr wichtig. Aber ist es bei uns nicht oft so, dass uns Wahrheiten in einer bestimmten Formulierung so geläufig geworden sind, dass sie nicht mehr zu unseren Herzen und Gewissen sprechen? Wir sind damit so vertraut, dass wir nicht mehr darüber nachdenken.

Das allsehende Auge unseres Herrn ist ein grosser Trost für die Seinen, die sich in schwierigen Umständen befinden. Es ist aber auch eine ernste Tatsache und ein Anlass zu Buße und Bekehrung. Lasst uns nie vergessen, dass alles bloss und aufgedeckt ist vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.

Schliesslich wollen wir auf einige Begebenheiten im Evangelium nach Lukas hinweisen, worin von dem sehenden, dem alles sehenden Auge des Heilandes gesprochen wird.

Die vier Freunde (Lk 5,18-26). Er sah ihren Glauben

Die Liebe zu ihrem kranken Freund hatte die Vier veranlasst, diesen zu Jesus zu bringen. Der Glaube liess sie alle Schwierigkeiten überwinden, um ihr Ziel zu erreichen. Diesen Glauben sah Er, anerkannte Er und belohnte Er: der Mann fand Heilung und Vergebung der Sünden, weil auch er Ihm im Glauben nahte.

Sieht der Herr bei uns Glauben oder Zweifel und Mutlosigkeit?

Levi (Lk 5,27-32). Er sah ihn am Zollhaus sitzen

Levi sass da an einem sehr unglücklichen und völlig verkehrten Platz. Wohl hatte ihm diese Stellung materielle Wohlfahrt gebracht; aber Glück und Frieden fand er dabei nicht. Und Jesus mit seinem allsehenden und liebenden Auge sah dies. Darum war dieser Blick und das eine Wort genügend, um Levi dazu zu bewegen, alles zu verlassen und Jesus nachzufolgen.

Wie blicken wir auf unsere Mitmenschen, und was sehen wir? Haben wir gelernt, sie mit seinen Augen zu sehen und sie mit seiner Stimme anzusprechen?

Die Witwe (Lk 7,12-15). Er sah ihr Leid

Welch unsagbares Leid war es für diese Frau, die, nachdem sie ihren Mann verloren hatte, nun auch ihren eingeborenen Sohn zum Grab geleiten musste! Es mag gewiss eine Ermunterung für sie gewesen sein, dass bei ihrem schweren Gang eine grosse Schar von Leidtragenden aus der Stadt sie begleitete. Aber was bedeutet dies im Vergleich zu dem Erbarmen, das Jesus innerlich bewegte, als Er sie sah? Er tröstete sie. Wer kann Tränen trocknen wie Jesus! Hebe darum deine trauernden Augen zu Jesus empor! Er weckte den Sohn auf und gab ihn seiner Mutter zurück. Er vermag auch dir zu geben, was dich wieder aufrichtet.

Die zehn Aussätzigen (Lk 17,11-19). Er sah sie und reinigte sie

Diese zehn Männer waren sich ihres elenden Zustandes bewusst und blieben darum von fern stehen. Durch die Weise, wie sie Ihn ansprachen, gaben sie zu erkennen, dass sie Ihn als über andere erhaben betrachteten, und sie beriefen sich denn auch nicht umsonst auf sein Erbarmen. Sein Erbarmen war schon in dem Blick zu lesen, womit Er sie ansah.

Als sie auf seinen Befehl zu den Priestern gingen, merkten sie beim Gehen, dass sie geheilt wurden. Einer aber von ihnen, als er sah, dass er geheilt war, kehrte vorher zu Ihm zurück, um Ihm zu danken. Er brauchte nun nicht mehr von fern um Erbarmen zu flehen, sondern konnte in seine unmittelbare Nähe treten, auf sein Angesicht fallen und seiner Dankbarkeit Ausdruck geben. Wie hat der Herr dies gewürdigt!

Kennen wir alle diesen Platz der Dankbarkeit zu seinen Füssen?

Der reiche Jüngling (Lk 18,18-30). Jesus sah seine Betrübnis

Diese Begebenheit finden wir auch in Matthäus 19 und Markus 10. In Markus 10,21 lesen wir sogar, dass Jesus ihn anblickte und ihn liebte.

Er war ein sehr sympathischer junger Mann, der in allem nach dem Wort Gottes zu leben trachtete. Doch fühlte er, dass ihm etwas fehlte, und darum kam er mit seinen Fragen zu Jesus.

Der Herr machte ihm deutlich, dass seine vielen Güter für ihn das grosse Hindernis waren. Er bekam den Rat, diese den Armen zu verteilen. Damit bewies der Herr diesem Jüngling, dass Er ihn nicht nur sah, sondern auch durchschaute. Dieser besass nicht nur viele Güter, sondern vertraute auch auf seinen Reichtum. Das war der Halt seines Lebens, und davon konnte und wollte er sich nicht trennen. Aus den beiden anderen Evangelien geht dies noch deutlicher hervor. Die Worte des Herrn brachten ihn in eine geistliche Krise, aber er fasste den verkehrten Entschluss und ging betrübt weg. Der Herr sah seine Betrübnis, aber Er konnte ihm nicht helfen. Nicht jede Betrübnis ist eine Betrübnis, die zu Gott führt. Eine ernste Tatsache!

Zachäus (Lk 19,1-10). Jesus sah den Sucher

Wir können diesen Mann gewiss einen Sucher nennen, denn er begehrte, Jesus zu sehen. Dass es ihm dabei ernst war, geht aus dem hervor, was er getan hat, um mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Er liess sich durch die Hindernisse auf dem Weg nicht entmutigen und erreichte sein Ziel: er sah Jesus.

Und dann machte er die grösste Erfahrung seines Lebens: Jesus blickte nach oben, sah ihn und rief ihn zu sich: «Heute muss ich in deinem Haus bleiben.» Unvorstellbare Gnade für Zachäus! Kein Wunder, dass er eilends herabstieg und Ihn mit Freuden aufnahm.

Auch hier wieder der grosse Gegensatz: Die Menschen sahen in Zachäus nichts anderes als einen «sündigen Mann»; Jesus aber sah in ihm einen aufrichtigen Sucher, erwies ihm seine Gnade und sagte von ihm: «auch er ist ein Sohn Abrahams».

Die Geber beim Schatzkasten (Lk 21,1-4). Die arme Witwe

Der Herr sass dem Schatzkasten gegenüber und sah, wie die Leute Gaben hineinwarfen, die Reichen viel, die Armen weniger, und eine arme Witwe nur zwei Scherflein. Jeder konnte diese Tatsachen wahrnehmen. Aber der Herr sah mehr und machte seine Jünger darauf aufmerksam.

Er sah, dass viele Reiche von ihrem Überfluss gegeben hatten, dass aber diese Witwe von ihrem Mangel gab, alles, was sie noch zum Leben hatte. Darum sagte der Herr, sie habe mehr gegeben, als alle anderen. Der Herr wusste wohl, dass der Tempel bald gänzlich zerstört werden würde. Was die Menschen dafür gaben, war weggeworfenes Geld. Doch lobte der Herr diese Frau. Er sah ihr Herz an. Er weiss, in welcher Gesinnung gegeben wird und weiss, was sich in unserer Börse oder Brieftasche befindet.

Lasst uns im Licht dieser Worte auch lesen, was anderswo in der Bibel über das Geben geschrieben steht.

Simon Petrus (Lk 22,61.62). Jesus sah seinen Jünger an, als er Ihn verleugnete

Das ist das letzte Mal vor dem Sterben des Herrn, dass Petrus das Auge des geliebten Meisters auf sich gerichtet sah, und unter welchen Umständen!

Der Meister steht da vorn im Saal. Er wird verhöhnt und verspottet, falsch beschuldigt und misshandelt. Der Jünger sitzt hinten im Saal zwischen den Häschern; er wärmt sich am Kohlenfeuer und verleugnet den Meister dreimal. Wie oft hatte ihn der Herr doch anblicken und ermahnen müssen! Er hatte die Worte nicht zu Herzen genommen. Und nun dieses! Es hätte für Petrus das schreckliche Ende sein können.

Aber die Hand des Herrn lässt ihn nicht los, seine Treue wankt nicht, seine Liebe versiegt nicht, sein Gebet lässt nicht nach. Wir lesen zwei Dinge von Ihm: «Er wandte sich um» und «Er blickte Petrus an». Welch eine Liebe! Während Er selbst so unendlich viel zu leiden hatte, dachte Er an seinen Jünger, für den Er gebetet und den Er liebevoll gewarnt hatte. Er wandte sich um, seine Augen suchten ihn dort hinten im Saal bei der Türe. Petrus sah den Blick und hörte auch den Hahn krähen, wodurch er an die Worte des Herrn erinnert wurde. Er ging hinaus und weinte bitterlich. Das war der Anfang seiner Wiederherstellung. Haben auch wir gelernt, mit den Augen des Herrn auf unseren gefallenen oder abgeirrten Bruder oder auf unsere Schwester zu blicken? Haben wir in seiner Gesinnung getrachtet, den Bruder zur Buße zu bringen und ihn von dem bösen Wege zurückzuführen?