Es mag auf den ersten Blick schwierig scheinen, dieses Wort mit der feierlichen Erklärung in Römer 3,10: «Da ist kein Gerechter, auch nicht einer», in Einklang zu bringen. Aber das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Gewiss, keiner der Nachkommen des ersten Menschen ist von Natur aus gerecht, denn wenn sich nur ein einziger Gerechter unter den Milliarden Menschen, die aus Adam gekommen und seit der Erschaffung des Menschen sich in dieser Welt gefolgt sind, so wäre das Kommen des Sohnes Gottes auf die Erde, der in den Sprüchen so oft der Gerechte genannt wird, des zweiten Menschen vom Himmel, unnötig gewesen, wie auch das Werk des Kreuzes.
Wer sind denn diese Gerechten, die berufen sind, aus Glauben zu leben, wenn es doch unter den Menschen keinen Gerechten gibt, auch nicht einen? Es sind alle die, die durch den Gehorsam des Einen zu Gerechten gemacht worden sind (Röm 5,19), die hier den Tod des alten Menschen verwirklichen und in Neuheit des Lebens wandeln. Durch Glauben haben sie den neuen Menschen, Christus, angezogen und sind berufen, «Christus zu leben» in der Welt.
Man wird sagen: Wie kann dies Menschen betreffen, die vor dem Kommen des Herrn gelebt und Ihn nicht zum Vorbild gehabt haben? Dies wird ja auf alle Menschen des Glaubens angewendet, die im 11. Kapitel dieses Briefes genannt sind, und diese alle haben unter dem alten Bund gelebt.
Wenn sie den Herrn auch nicht zum Vorbild gehabt haben, so hatten sie Ihn doch zur Quelle des Lebens, denn sein Werk ist ewig und ist weder auf die Zeit noch auf den Raum begrenzt; das Leben des Glaubens, das sie vor dem christlichen Zeitalter gelebt haben, war schon zum Voraus das Leben Christi und nicht das Leben eines Menschen im Fleisch, das gerichtet und verurteilt ist. Wir müssen umso mehr den Glauben dieser Männer und dieser Frauen würdigen, die die Gerechtigkeit vollbracht haben, ohne den Gerechten so zu kennen wie wir, und haben allen Grund, uns über unseren Mangel an Glauben zu demütigen.
In diesem elften Kapitel des Hebräerbriefes ist die menschliche Natur, das heisst das Fleisch, ganz auf die Seite gesetzt und wird nicht einmal erwähnt, denn es ist unfähig, irgendein Werk des Glaubens zu wirken, selbst wenn es das erhabenste Beispiel vor Augen hat. Daher finden wir in diesem ganzen Kapitel keinerlei Anspielung auf Sünden, auf Untreue und auf Verfehlungen der Männer und Frauen des Glaubens, die hier erwähnt werden. Wir sehen darin die Verwirklichung der Verheissung: «Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken» (Heb 8,12).
Die Werke des Glaubens dieser Gläubigen sind die Frucht des göttlichen Lebens, und die Früchte des Fleisches werden in keiner Weise erwähnt. Gott sieht nur das Leben Christi in ihnen und da, wo die Sünde überströmte, ist die Gnade noch überreichlicher geworden. Diese Gnade hat da Glauben festgestellt, wo wir oft nur Schwachheit und Mangel an Glauben sehen.
Da war Mangel an Glauben bei Sara, bei Simson, bei Gideon und selbst mehrere Male bei Abraham, wenn wir nach den Berichten urteilen, die uns im Alten Testament von ihrem Leben gegeben werden. Aber hier betrachtet Gott nur das Leben Christi in den Gläubigen und handelt nach dem Vers, der sich auf die Liebe bezieht: «Sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit» (1. Kor 13,5.6).
Wir können dies in Zusammenhang bringen mit dem, was der Herr in Johannes 17,6 über die Seinen zum Vater gesagt hat: «Sie haben dein Wort bewahrt». Da hören wir nicht ein Wort über den Mangel an Glauben, der die Jünger doch gekennzeichnet hat.
Satan begehrte, die Jünger zu sichten wie den Weizen, indem er meinte, nach dieser Sichtung werde von ihnen nichts mehr übrigbleiben. Gewiss, vom Menschen ist nichts mehr geblieben als nur das Eine, das einzig Wichtige, was in Gottes Augen einzig Wert hat: der Glaube, der sich aus dem Leben Christi in ihnen ergab, der Glaube, der nicht aus dem Menschen kommt, sondern eine Gabe Gottes ist.
Denn in diesem elften Kapitel des Hebräerbriefes finden wir immer wieder das Wort «empfangen» oder einen gleichartigen Ausdruck. Es ist sozusagen der Schlüssel dazu und muss unsere Aufmerksamkeit fesseln. Es wendet sich auf alle an und besonders auf die Frauen, die darin erwähnt sind, in Verbindung mit ihrer Schwachheit. «Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.» Wenn der Glaube eine Gabe ist, so haben wir auch das Zeugnis empfangen, das wir ablegen sollen, so dass nichts vom Menschen ist, sondern alles von Gott. «Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so erbitte er sie von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft, und sie wird ihm gegeben werden. Er bitte aber im Glauben, ohne irgend zu zweifeln» (Jak 1,5.6). Weder für unseren Mangel an Glauben noch für die Schwachheit unseres Zeugnisses haben wir eine Entschuldigung, denn Gott gibt dem, der Ihn bittet.
Nachdem über die Gläubigen in Hebräer 11 die Sichtung gegangen war, war das Fleisch gerichtet, und die Brüder, die uns darin gezeigt werden, sind die herrliche, schattenlose Offenbarung des Lebens Christi in ihnen. Deshalb, wenn uns auch eine so grosse Wolke von Zeugen vorgeführt wird, werden wir nicht eingeladen, unsere Augen auf sie zu richten, sondern auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens.