Das Wort «phroneo» = «gesinnt sein», «den Sinn richten auf», ist eines der Schlüsselwörter des Philipper-Briefes und kommt zehnmal darin vor.1 Dass es ausschliesslich als Zeitwort benutzt wird, deutet darauf hin, dass unser Inneres, unsere Gesinnung, in gewissen Tätigkeiten zum Ausdruck kommt und kommen muss.
Wenn es irgendetwas gibt, das für unser Christenleben von Wichtigkeit ist, dann wohl dieses: unsere Gesinnung. Nicht allein was wir tun, sondern vor allem warum wir es tun, ist von ausschlaggebender Bedeutung. Die Frucht für Gott liegt in erster Linie in unseren Beweggründen. Wie schnell wird das Öl des Salbenmischers durch tote Fliegen stinkend (Pred 10,1) – wie schnell wird das, was der Heilige Geist zur Verherrlichung Gottes in uns bewirken wollte und was als Wohlgeruch zu Ihm emporsteigen sollte, durch unlautere, eigennützige Beweggründe verdorben!
Deshalb wollen wir auf das hören, was uns der Heilige Geist zu sagen hat, wenn Er uns wiederholt zuruft, dass wir «so gesinnt» sein sollen. Dieser Ausdruck (touto-phroneo) begegnet uns sowohl im 5. Vers des 2. Kapitels, wie auch im 15. Vers des 3. Kapitels. Im 2. Kapitel wird uns die einzigartige Gesinnung Christi Jesu vorgestellt, der in einer siebenfachen, vollkommenen Erniedrigung von den höchsten Höhen ewiger Gottheit ausgehend, zu den tiefsten Tiefen des Fluchholzes herabstieg. Nicht, dass Er je aufgehört hätte, Gott zu sein, aber selbst als Mensch tat Er in dieser Beziehung nie etwas anderes, als sich zu erniedrigen! Fortwährende Erniedrigung und völlige Selbsthingabe kennzeichneten seinen Weg hier auf der Erde. Und was war sein Beweggrund? Die Liebe zu seinem Vater und zu uns! (vgl. Joh 14,31). Wunderbarer Herr! Welch erhabenes, vollkommenes Vorbild gibt Er uns für die Gesinnung, die wir gegeneinander offenbaren sollen! Wären wir mehr damit zufrieden, den unteren Platz einzunehmen, hätten wir tausenderlei Anfechtungen nicht. Parteigeist wäre ein fremdes Wort, und wir wären in Wahrheit «einerlei gesinnt».
Im 3. Kapitel des Philipper-Briefes nun, wo es um das Ziel unseres christlichen Weges geht, wird uns nicht ein erniedrigter, sondern ein erhöhter, verherrlichter Christus vor die Blicke gestellt. Dreierlei Gesinnung sehen wir – in absteigender Linie – im Verlauf dieses Kapitels:
- Die Gesinnung des Paulus, von der er sagt, dass, so viele vollkommen sind, «so gesinnt» sein sollen (Vers 15),
- «anders gesinnt» (Vers 15),
- «irdisch gesinnt» (Vers 19).
Wenden wir uns der ersten zu!
1. «Was irgend mir Gewinn war»
Das Wort für «Gewinn» steht im Urtext in der Mehrzahl; und in der Tat war es nicht nur eine Sache, die der Apostel Paulus um Christi willen aufgab, sondern er nennt hier sieben Vorzüge seiner Person, die sich wohl schwerlich noch einmal in dieser Weise in einem Menschen vereinigt fanden.
- «Beschnitten am 8. Tage» – nicht wie ein Proselyt, der zu einer beliebigen Zeit beschnitten werden konnte, sondern am 8. Tage, wie es das Gesetz für einen wahren Juden verlangte.
- «Vom Geschlecht Israel» – nicht aus den Nationen kommend, die ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt waren (Eph 2,12), sondern aus dem einzigen Volk auf der Erde, von dem gesagt werden konnte: «dessen die Sohnschaft ist …» (Röm 9,4.5). Welch ein Vorrecht, in solch einem Volk geboren zu werden!
- «Vom Stamm Benjamin» – das war ein weiterer Vorzug; denn Benjamin war der einzige Sohn Jakobs, der im Land der Verheissung geboren wurde.
- «Hebräer von Hebräern» – er hatte nicht, wie Timotheus, einen heidnischen Vater, sondern er wurde von Jugend auf «unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes» (Apg 22,3) und sprach sicherlich von Jugend an die hebräische Sprache (vgl. Apg 21.40), die viele seiner Zeitgenossen zugunsten des Griechischen als Umgangssprache aufgegeben hatten.2
- «Was das Gesetz betrifft, ein Pharisäer» – er war nicht nur selbst ein Pharisäer, indem er «nach der strengsten Sekte unserer Religion, als Pharisäer lebte» (Apg 26,5), sondern auch ein «Sohn von Pharisäern» (Apg 23,6). Er hatte das Vorrecht genossen, zu den Füssen des berühmten Gamaliel nach der Strenge des väterlichen Gesetzes unterwiesen zu werden (Apg 22,3). Wahrlich, eine höhere Stellung konnte er in der jüdischen Religion kaum erklimmen!
- «Was den Eifer betrifft, ein Verfolger der Versammlung» – nicht ein flacher, verweltlichter Jude, wie es viele gab, sondern ein «Eiferer für Gott» (Apg 22,3), der meinte, «gegen den Namen Jesu, des Nazaräers, viel Feindseliges tun zu müssen» (Apg 26,9). Besser, so meinten er und viele der Juden, konnte er seine Hingabe an die Religion seiner Väter nicht beweisen, als dass «ich die Versammlung Gottes über die Massen verfolgte und sie zerstörte und in dem Judentum zunahm über viele Altersgenossen in meinem Geschlecht, indem ich übermässig ein Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen war» (Gal 1,13.14). Wozu ist doch das menschliche Herz fähig, das nicht durch Gott, sondern durch religiöse Gefühle und Eifer für menschliche Überlieferungen geleitet wird!
- «Was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, untadelig erfunden» – niemand hätte auf ihn mit dem Finger zeigen können als auf einen, der in den Augen der Menschen das Gesetz Moses nicht in allen Stücken gehalten hätte; aber beachten wir – in den Augen der Menschen, nicht in den Augen Gottes. «Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden» (Röm 3,20).
«Für Verlust geachtet»
Was tat Paulus mit all diesen Vorzügen, die er «Gewinn» nennt, auf die – wenn er sich mit den bösen Arbeitern verglich – zu vertrauen er Grund hatte? «Aber was irgend mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust geachtet.» Das alles war jetzt für ihn ein einziger Verlust.3 Sie war ihm nichts mehr wert, diese «seine» fleischliche Gerechtigkeit (Vers 9), die letztlich nur den Menschen, niemals Gott verherrlicht. Der Apostel Paulus hatte den Herrn Jesus in seiner Herrlichkeit gesehen. Seitdem war er fertig mit sich. Er wollte diese Gerechtigkeit nicht mehr, die aus dem Gesetz ist, selbst wenn er sie hätte haben und mit in den Himmel hätte nehmen können; sie war für ihn – wie für Gott – ein unflätiges Kleid (Jes 64,5). Er hatte durch den Glauben an Christus etwas Besseres – die Gerechtigkeit aus Gott.4 Nur diese Gerechtigkeit, die direkt von Gott kam und in Ihm ihre Quelle hatte, konnte ihn nun befriedigen.
«Wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.» – Ach, dass doch auch wir mehr auf den Herrn Jesus in seiner Herrlichkeit blickten, so wäre es auch für uns kein furchtbares Opfer, uns selbst aufzugeben und zu vergessen! Wir würden nicht nur selbst mühsam «den Kopf über Wasser halten», sondern würden anderen zur Hilfe, zum Segen sein! Und beachten wir, der Apostel sagt nicht nur «ich habe … für Verlust geachtet» (Perfekt), sondern «ja, wahrlich, ich achte (Gegenwart) auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.» Auch nach Jahrzehnten noch beseelte ihn dieselbe Gesinnung. Daran hatte sich nichts geändert.
Bei uns ist es leider oft anders. Vielleicht blicken wir mit gewisser Wehmut zurück zu den Tagen unserer Bekehrung: Damals war alles noch frisch, unsere Liebe zu Jesu, unserem Heiland, tief und ungeteilt, unser Herz überaus glücklich in seiner Liebe. Was bedeutete uns damals schon die Welt und das, was sie darbot? Hatten wir doch Christus!
Und heute? Ach, die Welt kam herein – nicht, dass wir Christus aufgegeben hätten – nein, aber tausenderlei Dinge und Beschäftigungen dieser Welt traten zwischen die Seele und Ihn, Dinge, die nichts mit Christus gemeinsam haben. So wird dann das Leben praktisch ohne Ihn gelebt. Das sollte nicht so sein, Geliebte! Wie traurig, wenn die Bekehrung gleichsam den Höhepunkt in unserem christlichen Leben darstellt, von dem aus es dann nur noch abwärts geht! Wie traurig, wenn wir nur sagen können: «Ich habe für Verlust geachtet» und nicht «ich achte auch alles für Verlust!»
«Alles eingebüßt»
Es ist auffallend, dass der Apostel in zweifacher Weise seine Ausdrucksweise ändert: Sagt er zuerst «ich habe … geachtet» und dann «ich achte», so ändert er den Ausdruck «was irgend» in «alles» – «um dessentwillen ich alles eingebüßt habe», (wörtlich «das alles»). Wie weit geht dieses Wort: alles eingebüßt haben! Erinnert uns dies nicht an einen Grösseren, von dem wir lesen: «Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet» (2. Kor 8,9)?
Selten ist ein Mensch dem Herrn so dicht nachgefolgt wie der Apostel Paulus. Eine glänzende Laufbahn hatte vor ihm gelegen, alle Türen zu Erfolg, Ehre, Ansehen und Würde hatten ihm, dem jungen Mann, offen gestanden. Mit Eifer und Energie hatte er sein Ziel verfolgt, bis eine Person, bis Jesus, der Nazaräer, in sein Leben trat, dessen Herrlichkeit er sah, mit dem nichts in der Welt zu vergleichen und um dessentwillen er bereit war, dies alles einzubüßen. Lesen wir die ergreifende Schilderung, die er in 2. Korinther 11,23-33 von sich selbst gibt!
Und mehr noch! Er fügt – wieder in der Gegenwartsform – die Worte hinzu: «und es für Dreck achte». Nicht nur seine Stellung in dieser Welt, sondern auch seine eigene Frömmigkeit und Gerechtigkeit, all die religiösen Formen und Satzungen, die nur das fromme Fleisch, dieses hohle, aufgeblasene Ich befriedigen, achtet er für Dreck und wirft es gleichsam den Hunden hin. Mögen jene sich daran befriedigen, er hat ein anderes Ziel vor sich:
«Damit ich Christus gewinne»
Doch was meint der Apostel hiermit? Besass er Ihn nicht schon? War er nicht in Christus und Christus in ihm? Ganz gewiss! War es also eine gewisse «Heiligungs-Erfahrung», wie manche lehren, war es ein besonderes, tiefes «Erlebnis völliger Hingabe», ein sogenanntes «tieferes Leben», wonach er verlangte? Nein, der Apostel war sich seiner Annahme bei Gott, seiner vollkommenen Stellung in Christus völlig bewusst. Zudem wusste er, dass in uns, das ist in unserem Fleisch, nichts Gutes wohnt (Röm 7,18). Nein, wir können Christus in seiner Vollkommenheit hier auf der Erde nicht erreichen. Als solcher ist Er wohl unser erhabenes Vorbild für unseren Wandel. Doch solange wir im Leib der Schwachheit sind, werden wir die sündige Natur in uns behalten und nicht ohne Sünde sein, wie Er es allezeit war.
«Damit ich Christus gewinne» – das ist nicht etwas Gegenwärtiges: es ist Christus auf der anderen Seite, Christus am Ende des Weges, Christus in der Herrlichkeit. Danach sehnte sich der Apostel. Er wollte den verherrlichten Herrn besitzen und Ihm gleich sein. Christus bei ihm auf der Reise, das war jetzt schon sein glückseliges Teil. Aber dann für immer bei Ihm, dem Verherrlichten sein, das war das Endziel seines Weges. Er hatte einen unvergleichlich kostbaren Gegenstand im Himmel, eine Person, der all seine Zuneigungen galten – Christus. Mochte der Weg steinig und mühsam sein, mochten Leiden, ja sogar der Tod auf ihm liegen, er tat dies eine: er lief auf dieses Ziel zu, «damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde.»
Geliebte, noch haben wir Christus nicht gewonnen. Aber was für ein Gewinn wird es sein, wenn wir bei Ihm, unserem verherrlichten Herrn, sein werden, wenn von uns, von unserem alten Ich, kein einziges Atom mehr gefunden wird, wenn alles Christus und nur Christus sein wird! «In Ihm gefunden werden» – welch ein Triumph der Gnade! So lasst auch uns Ihm entgegenlaufen, das Auge auf Ihn gerichtet! Mit jedem Schritt, den wir Ihm näher kommen, wird es heller um uns her, wir erkennen mehr von Ihm, von seiner wunderbaren Liebe und der Kraft seines Lebens, die in seiner Auferstehung so völlig zum Ausdruck kam.5
Aber auf dem Weg dorthin werden Leiden kommen! Schon recht, sagt der Apostel, dann werde ich Gemeinschaft mit seinen Leiden haben. Vielleicht wird dir der Tod begegnen! Darüber freue ich mich, werde ich doch dann Ihm noch ähnlicher und seinem Tod gleichgestaltet werden. – Wie erbärmlich nehmen wir uns oft neben dem Apostel Paulus aus! Wir gleichen manchmal mehr den Jüngern in Markus 10,32: «Und sie entsetzten sich, und während sie nachfolgten, fürchteten sie sich.» Aber der Apostel nahm keine Rücksicht auf sein Leben, «als teuer für mich selbst, damit ich meinen Lauf vollende» (Apg 20,24). Er wollte auf irgendeine Weise, selbst wenn es durch den Märtyrertod sein sollte, hingelangen zur
«Auferstehung aus den Toten»
Der Apostel erwartete nicht eine «allgemeine» Auferstehung, wie sie heute in der Christenheit gelehrt wird. Die Heiligen werden nicht mit den Bösen, die Gerechten nicht mit den Ungerechten zusammen auferstehen! Es hätte keinen Sinn, sich danach auszustrecken. «Ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge» – zur allgemeinen Auferstehung zusammen mit den Sündern? Nein, das ist nicht die Lehre der Schrift noch das Verlangen des Apostels!
Der Heilige Geist benutzt hier einen Ausdruck, der im Neuen Testament nur an dieser Stelle vorkommt: «Aus-Auferstehung (exanastasis) aus den Toten». Der Herr hatte davon gesprochen, dass Er, der Sohn des Menschen, aus den Toten auferstehen würde. Damals hatten die Jünger, die als fromme Juden sehr wohl die Auferstehung der Toten kannten (d.h. die Tatsache, dass Tote auferstehen werden), dieses Wort «aus den Toten» nicht verstanden. «Und sie hielten das Wort fest, indem sie sich miteinander besprachen: Was ist das, aus den Toten auferstehen?» (Mk 9,10). Was ihnen neu war, war dieses «aus» den Toten.
Der Herr Jesus war als der Erstling der Entschlafenen aus den Toten auferweckt worden (1. Kor 15,20); dies geschah, wie wir an anderer Stelle lesen, «durch die Herrlichkeit des Vaters» (Röm 6,4). Es war gleichsam eine Frage der Herrlichkeit und Gerechtigkeit des Vaters, Ihn, der den Willen des Vaters so völlig getan, aus den Toten aufzuerwecken, während alle übrigen Toten in den Gräbern blieben. Die Auferstehung aus den Toten ist also das Siegel Gottes auf das Werk Christi und redet von dem Wohlgefallen, das Gott an dem hat, den Er auferweckt. Das gilt sowohl in Bezug auf den Herrn selbst als auch auf uns, allerdings mit dem Unterschied, dass es bei dem Herrn seine eigene Vollkommenheit war, während wir in Ihm gesehen werden. Aber so wie Er, der Erstling, so werden auch wir, die des Christus sind, aus den Toten auferweckt werden als Ausdruck davon, dass Gott Wohlgefallen an uns hat. «Die übrigen der Toten wurden nicht lebendig. … Dies ist die erste Auferstehung. Glückselig und heilig, wer teilhat an der ersten Auferstehung!» (Off 20,5.6). Während die Gläubigen «in Herrlichkeit auferweckt werden (1. Kor 15,43), werden die «übrigen Toten», d.h. alle verlorenen Sünder, nur dazu auferweckt, um vor dem grossen weissen Thron gerichtet zu werden (Off 20,12).
Nach der ersten Auferstehung also sehnte sich der Apostel, da er wusste, dass er zu denen gehörte, «für würdig erachtet werden, jener Welt teilhaftig zu sein und der Auferstehung aus den Toten» (Lk 20,35).
«Vergessend, was dahinten»
Der Apostel Paulus hatte einen so tiefen Eindruck von der Herrlichkeit der Person Christi, dass er Ihm unbedingt ähnlicher werden wollte. Und was sich ihm auch hindernd in den Weg stellen mochte, er lief wie ein Wettläufer auf sein Ziel zu, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er hatte Christus in der Herrlichkeit noch nicht ergriffen, aber Christus hatte ihn ergriffen. «Eins aber tue ich …». Oh, dass wir das doch auch sagen könnten! Eins! – Wie viel hundert Sachen tun wir? Wie wird doch unser Leben für Christus verdorben, wenn wir mehr tun möchten als dieses Eine!
Doch, was meint der Apostel mit den Worten: «Vergessend, was dahinten»? Wollte er seine Sünden, seinen früheren Weg und Zustand vergessen? Offenbar nicht, denn er redet an anderer Stelle von sich als von einem, «der zuvor ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war» (1. Tim 1,13). Er bezeichnet sich als den ersten der Sünder und als Geringsten der Apostel, «ich nicht wert bin, ein Apostel genannt zu werden, weil ich die Versammlung Gottes verfolgt habe» (1. Kor 15,9). Nein, wir werden und sollen nie vergessen, wo wir hergekommen sind. «Ein umberirrender Aramäer war mein Vater.» Selbst bei der Anbetung fehlen die «bitteren Kräuter» nicht, der Gedanke daran, dass wir Ihm dies alles verursacht haben. Selbstgericht ist, wo die Gnade völlig gekannt wird, eine heilsame und nötige Übung für die Seele. Selbst in der Herrlichkeit vor dem Richterstuhl Christi werden wir – und zwar vollkommen – erkennen, wie verdorben wir waren, werden all das erblicken, was nicht Christus war in unserem Leben. Nicht einen Augenblick wird Zweifel an der vollkommenen Vergebung unserer Sünden oder an der Liebe Gottes aufkommen; werden wir doch, selbst verherrlicht, in der Herrlichkeit und Nähe dessen sein, der sie völlig gesühnt hat. Aber unser Offenbarwerden vor Ihm wird eine der Grundlagen für den tiefen und dauernden Frieden unserer Seele sein.
Aber etwas sollen wir «vergessen»: unsere Fortschritte auf dem Weg der Nachfolge, unsere Erfolge in seinem Dienst, all das, was uns grossmachen könnte, das sollen wir «dahinten» lassen. Lasst uns vor dem «Zusammenzählen» dessen auf der Hut sein, was wir vielleicht für Ihn getan haben! Der Apostel hatte Christus in der Herrlichkeit vor sich, alles andere war für ihn «dahinten».
«So viele nun vollkommen sind»
Das Wort für «vollkommen» bedeutet auch «erwachsen». In diesem Sinn kommt es z.B. in Hebräer 5,14 vor. Ein erwachsener, reifer Christ weiss nicht nur, dass seine Sünden vergeben sind – das verstehen auch schon die Kinder (1. Joh 2,12) – sondern er kennt und geniesst Christus in der Herrlichkeit, ist mit sich selbst zu Ende gekommen und setzt kein Vertrauen mehr in das Fleisch. Seine Zuneigungen gehören ganz dem Herrn Jesus, mit dem er sich gestorben und auferweckt weiss. Er tut nun nichts anderes mehr als Ihm nachjagen, da er die Berufung Gottes nach oben kennt, (nicht nur eine «hohe» Berufung, sondern eine Berufung «nach oben»). Der Kampfpreis, der ihm winkt, ist für ihn alles – Christus! – Das also ist ein Vollkommener. Nun bedeutet dies weder, dass er nichts mehr zu lernen, noch dass er schon einen vollkommenen Zustand erreicht hätte. Beides wäre bitterer Selbstbetrug. Einen vollkommenen, d.h. sündlosen Zustand erlangen wir erst, wenn wir bei Ihm in der Herrlichkeit sein werden. Davon hatte der Apostel in Vers 12 gesprochen: «nicht, dass ich … schon vollendet sei» (vollkommen gemacht).
Doch hier gibt er uns die Ermahnung: «So viele nun vollkommen sind, lasst uns so gesinnt sein.» «So»! – wie redet dieses Wort zu uns! Es fasst all das zusammen, was wir bisher gesehen haben. Lasst es uns noch einmal überdenken! So, d.h. auf diese Art und Weise, sollen nun auch wir gesinnt sein, sollen keinen anderen Gegenstand vor unseren Augen und Herzen haben, als diese eine herrliche Person, der nachzujagen allein der Mühe wert ist. Tun wir es? Wie steht es mit uns, Geliebte? Wir fühlen gewiss alle, wie weit wir da zurückbleiben.
- 1Phil 1,7; 2,2 (2x); 2,5; 3,15 (2x); 3,19; 4,2; 4,10 (2 x, hier mit der Bedeutung von «gedenken».)
- 2Es sei noch bemerkt, dass sich Paulus nicht nur «Hebräer von Hebräern» nennt – in Apg 21,39; 22,3 einen «jüdischen Mann» – sondern bezüglich seiner Stellung in der Welt zwei weitere Vorzüge angeben kann.
Erstens war er ein «Römer» (Apg 22,25-28), und zwar von Geburt an. Vor dem Gesetz und in der gesellschaftlichen Meinung jener Tage übertraf dieser Charakter alle anderen.
Zweitens nennt er sich in Apostelgeschichte 21,39 einen «Tarser», «Bürger einer nicht unberühmten Stadt». Er besass also die sehr weitgehenden Rechte eines römischen Bürgers in einer römischen Provinzstadt und gehörte somit zur Aristokratie seiner Tage.
Wie ergreifend, daran zu denken, dass der Herr Jesus, der da «reich war», um unsertwillen so arm wurde, dass Er, als Er vor Pilatus stand, nicht hätte sagen können: «Ich bin ein Römer.» - 3Im Gegensatz zu «Gewinn» sieht dieses Wort in der Einzahl. Es bedeutet auch «Schaden». Und in der Tat, hätte Saulus von Tarsus an diesen Vorzügen festgehalten, hätte er an seiner Seele für ewig Schaden genommen!
- 4Dies ist wohl die einzige Stelle im Neuen Testament, wo die Gerechtigkeit Gottes nicht allein in ihrem «göttlichen» Charakter, sondern in ihrem Ursprung als «aus Gott» gezeigt wird, im Gegensatz zu «aus Gesetz».
- 5Christus «gewinnen» ist also zukünftig, das Ziel des Glaubens; der Apostel hatte es noch nicht ergriffen (Vers 12). «In zu erkennen …» jedoch bezieht sich auf die Gegenwart: Christus ist der alleinige Gegenstand der Seele. Der menschliche Geist stört sich daran; er meint, es müsse entweder alles gegenwärtig oder alles zukünftig sein. Doch Gottes Wort ist nicht so.