2. «Anders gesinnt»
«Und wenn ihr etwas anders gesinnt seid, so wird euch Gott auch dies offenbaren» (Vers 15). Das hier für «anders» gebrauchte Wort bedeutet «von anderer, unterschiedlicher Art». Nicht alle liefen noch laufen so wie der Apostel Paulus. Wie beschämend für uns! Doch da wir es im Philipperbrief mit dem Weg christlicher Erfahrung zu tun haben, gibt es möglicherweise Unterschiede in der Erkenntnis und in der Nachfolge des Herrn. Der Apostel denkt hier offenbar nicht an Irrlehrer und an solche, «die verkehrte Dinge reden»; es wäre Untreue gegenüber dem Herrn, mit solchen zusammenzugehen. Aber der eine mag noch am Anfang des Weges stehen, der andere mag weiter fortgeschritten sein. Der eine ist vielleicht noch mehr mit der Frage seiner Sünden beschäftigt, der andere verwirklicht in der Kraft des Geistes Gottes, dass der alte Mensch im Tod Christi beiseitegesetzt worden ist und sieht Christus vor sich. Wenn wir auch in dieser Hinsicht nicht in allen Punkten übereinstimmen mögen, so sollen wir doch miteinander «in denselben Fussstapfen wandeln».
Nicht das Mass unserer Erkenntnis, zu der wir gelangt sind, ist die Grundlage der Gemeinschaft. Es ist nicht gut, vom anderen zu erwarten, dass er gerade in dem Zustand sein müsse, in dem ich selbst bin. Damit machte ich meine Erkenntnis zur Lebensregel für den anderen. Habe ich selbst etwa nichts mehr zu lernen? Ganz gewiss! Aber ich darf für meinen Bruder zum Beispiel den Wunsch haben, dass auch er sich selbst mehr vergessen und den Herrn Jesus geniessen lerne, darf es getrost Gott überlassen, ihm dieses oder jenes zu offenbaren. Er wird mir zeigen, was ich zu lernen habe, Er wird es meinem Bruder zeigen, was er zu lernen hat. Und wenn unterschiedliche Meinungen auftreten, welch ein Trost liegt dann in diesem Wort: «Gott wird euch auch dies offenbaren!»
Sollen wir uns also damit als Regel abfinden, dass wir uns eben voneinander unterscheiden? Dies ist die göttliche Antwort – der göttliche Massstab: «Doch wozu wir auch gelangt sind, lasst uns in denselben Fussstapfen wandeln» (Vers 16). Wie unterschiedlich weit wir auch auf dem Weg christlicher Erfahrung und Nachfolge vorangegangen sein mögen, wir sollen in denselben Fussstapfen, gleichsam in einer Linie mit denen wandeln,1 die, wie der Apostel, alles andere dahinten liessen, um Christus zu gewinnen. Keinen anderen Massstab stellt Er uns vor, und nichts eint die Herzen der Gläubigen so sehr, wie die Hingabe an Christus.
3. «Die auf das irdische sinnen»
Der Apostel kommt in den Versen 18 und 19 auf eine dritte Gesinnungsart und auf Menschen zu sprechen, die er mit Weinen «Feinde des Kreuzes Christi» nennt. Sie waren nicht in offener Feindschaft gegen Christus. Deswegen bezeichnet sie der Apostel auch nicht direkt als Feinde Christi.2
Aber das, was sie am wenigsten wünschten, war das Kreuz, war die Trennung von der Welt durch dasselbe – einer Welt, die sie mit jeder Faser ihres Herzens liebten. Sie mochten äusserlich ein schönes, christliches Bekenntnis, eine Form der Gottseligkeit haben, wie die fünf törichten Jungfrauen, mochten sogar von dem Kreuz viel Wesens machen, es gleichsam an ihre Fahnen oder Aufschläge heften, wie es heute vielfach geschieht (was wird heute nicht alles mit dem Kreuz in Verbindung gebracht!), aber ihre Wege offenbarten, dass sie Feinde des Kreuzes Christi waren. Sie konnten nicht sagen: «durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt» (Gal 6,14). Vielmehr brachten sie durch ihre Gesinnung und ihren Wandel Christus mit der Welt in Verbindung, mit dieser Welt, die nur ein Kreuz für Ihn hatte!
Der Apostel fährt fort, von ihnen zu sagen: «deren Ende Verderben» – ein solcher Weg ohne Christus kann nur ein Ende haben: endgültiges Verderben3 – «deren Gott der Bauch» – die fleischlichen Begierden ihrer nicht erneuerten Natur waren nie durch die Befriedigung in der Person Christi beiseite gesetzt worden – «deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische sinnen» – sie hatten ihren Sinn nur auf das Sichtbare, Zeitliche, Irdische gerichtet und sannen nicht «auf das, was droben ist, wo der Christus ist» (Kol 3,2).
Wie niedrig muss damals schon der Zustand der Kinder Gottes gewesen sein, wenn sich solche toten Bekenner in der Mitte der wahren Gläubigen halten konnten, ohne offenbar zu werden! Und wenn es damals schon «viele» waren, wie sieht es heute aus? Ist dies nicht auch unsere grosse Gefahr heute – «auf das Irdische sinnen»? Wenn die Darstellung des göttlichen Lebens in uns so schwach ist, dass wir uns von der Welt nicht mehr unterscheiden, wenn wir genau nach denselben irdischen Dingen streben wie sie, wenn wir uns jeden erdenklichen Luxus leisten wollen wie jene, wenn uns selbst fast nichts mehr gut genug ist, wie soll da noch ein lebloser Bekenner, der vielleicht regelmässig unsere Zusammenkünfte besucht, in unserer Mitte offenbar werden?
Und verleugnen wir nicht den Herrn Jesus durch solche Gesinnung und stellen uns als Feind Gottes dar (Jak 4,4), indem wir uns auf die Seite der Welt stellen, die Ihn verwarf?
Oh, der Herr möge uns wachrütteln, dass wir nicht auf das Irdische sinnen, sondern auf das, was droben ist, dass wir «so gesinnt» sein mögen, wie wir es am Apostel Paulus gesehen haben!
- 1Der griechische Ausdruck stoicheo, der hier mit «in denselben Fussstapfen wandeln» wiedergegeben ist, bedeutet ursprünglich «in einer Linie, im Gleichschritt gehen». Übertragen redet er von unserem Wandel in Beziehung zu anderen und an dieser Stelle vom gemeinsamen Wandel derer, die demselben Ziel, demselben Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus zustreben. Dieses Wandeln in Beziehung zu anderen finden wir auch an folgenden Stellen durch stoicheo ausgedrückt: Apostelgeschichte 21,24; Römer 4,12; Galater 5,25; 6,16.
- 2«Sie sind nicht genau Feinde Christi, obgleich es am Ende auf das gleiche hinausläuft» (J. N. Darby).
- 3Für «Verderben» gibt es verschiedene Ausdrücke im griechischen Neuen Testament. Die beiden wichtigsten sind apoleia und olethros. Hier steht apoleia. Es bedeutet «endgültiges, ewiges Verderben, Untergang». Es steht auch an folgenden Stellen: Phil 1,28; Mt 7,13; Joh 17,12; 2. Thes 2,3; Röm 9,22; 1. Tim 6,9; Heb 10,39; 2. Pet 2,1; 3,7.16; Off 17,8.11.Olethros bezeichnet mehr den «physischen Ruin» und steht zum Beispiel in 1. Kor 5,5; 1. Thes 5,3.In 1. Tim 6,9 stehen beide Worte nebeneinander.