Die Gnade herrscht

Römer 5,21

Oft wird die Frage gestellt: «Was ist Christentum, und worin unterscheidet es sich von der Religion der Juden?» Ein besonderes Merkmal wird im Brief an die Römer erwähnt: «Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn» (Röm 5,21).

Durch den langen Zeitabschnitt hindurch, der beim Fall des ersten Menschen begann und bis zum Kommen des zweiten Menschen dauerte, wurde die Gnade Gottes gegenüber den Menschen zurückgehalten. Sein Herz der Liebe war immer so, wie Johannes 3,16 es für alle Ewigkeit beschreibt, aber während Er wartete, um Gnade üben zu können, erforderte die Sünde des Menschen oft Gericht, also das für Gott «befremdende (oder fremdartige) Werk» (Jes 28,1); denn Er ist sowohl Licht als Liebe.

Endlich aber wurden in dieser Welt Gnade und Wahrheit offenbart, in der Person des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Doch wurden, als Er unter uns wohnte, die Gnade verachtet und das Licht gehasst; nur wenige taten es nicht, die in seiner Person, in seinen Worten und Werken seine Herrlichkeit erkannten (Joh 1,14; 2,11).

Doch für den Gläubigen konnte die Gnade solange nicht durch Gerechtigkeit herrschen, bis Jesus, der Sündlose, durch Gehorsam bis zum Tod die Ansprüche der Heiligkeit Gottes im schonungslosen Gericht über die Sünde völlig befriedigt hatte. Der Beweis davon wurde allen gegenüber dadurch sichtbar gemacht, dass Gott den «aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist» (Röm 4,24.25).

Weil der zweite Mensch auferweckt worden ist und sich auf den Thron des Vaters setzte, nachdem Er die Reinigung von den Sünden bewirkt hat, ist nun der Thron Gottes ein Thron reiner, unbegrenzter Gnade. Selbst der grösste der Sünder wird jetzt mit überströmender Gnade willkommen geheissen (Röm 5,15). «In dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade» (Eph 1,7).

In der Tat, nichts kann die Flut seiner unendlichen Gnade mehr zurückhalten, als nur die Weigerung des Menschen, sie zu empfangen. Keine Fragen im Blick auf die Sünden und deren Gericht werden mehr erhoben gegenüber dem, der jetzt durch Christus zu Gott kommt, angezogen durch die Gnade und die Güte Gottes und getrieben durch sein eigenes Bedürfnis und Elend.

Nicht dass jetzt Gott, wenn Er dem Sünder vergibt, über die Sünde leicht hinwegginge oder die Sünde immer noch bis zu einem gewissen Zeitpunkt hingehen liesse, wie Er es «vorher» getan hat (Röm 3,25). Gewiss nicht, aber am Kreuz ist Er schon mit ihnen ins Gericht gegangen, als sein eigener Sohn, in Liebe in diese Welt gesandt, um Sünden zu sühnen, für sie gelitten hat. Nun herrscht die Gnade durch Gerechtigkeit, und der zu Gott zurückkehrende Verlorene empfängt nicht nur den Kuss der Versöhnung und die Gewissheit völliger Vergebung seiner Sünden, sondern auch das beste Kleid und einen Ehrenplatz an des Vaters Tisch, die freie Gabe der Gerechtigkeit, und ewiges Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn. Nur dem Ungläubigen, der den Reichtum seiner Gnade verachtet, ist Gericht aufbewahrt, so unvermischt und schonungslos wie die Gnade rein und frei ist.

Diese Wege Gottes in der gegenwärtigen Gnade und dem kommenden Gericht finden manche schöne Illustrationen in der Geschichte des Alten Testaments. Ein kurzer Blick auf ein vertrautes Ereignis (2. Samuel 9) mag uns zu einer tieferen Wertschätzung der Fülle und Freiheit der Gnade führen, durch die wir errettet sind und in der wir stehen.

Der lange Krieg zwischen dem Haus Saul und dem Haus David war vorüber. Saul und sein Sohn Jonathan waren vor den Philistern gefallen und David war durch Juda und ganz Israel zum König gesalbt worden. In Davids eigenem Herzen entstand der Wunsch, jedem, der im Haus Sauls übriggeblieben war, Güte zu erweisen, entsprechend seinem Bund, den er viele Jahre vorher mit Jonathan gemacht hatte. Es war nicht die Not Mephiboseths, des Sohnes Jonathans, die sein Erbarmen erregte, obwohl dessen Zustand erbarmungswürdig war: Er war lahm an beiden Füssen, verborgen unter fremden Leuten in Lodebar, einem Ort ohne Weide, wie der Name besagt, und vermutlich auch in Furcht vor den Folgen der Sünden der Väter, die an den Kindern heimgesucht werden (hatte Saul nicht den Tod Davids gesucht?). Die Ausführung des Entschlusses Davids brachte Mephiboseth aus seinem Versteck hervor, und – niederfallend zu dessen Füssen – vernahm er, was der König selbst zu seinen Gunsten tat: Er gab ihm die Felder seines Vaters zurück und gewährte ihm einen Platz am Tisch des Königs, wie einem seiner Söhne. Seines eigenen Unwertes bewusst, wie nie zuvor – denn was war im Osten unpassender für die Gegenwart eines Königs, als ein «toter Hund»? – beugte er sich nieder, um die ihm erwiesene Gunst anzunehmen, mit einem Herzen, das zu voll war, um viele Worte zu machen. Diese Güte lernte er noch besser kennen, als er beständig am Tisch des Königs sass, aber die spätere Verwerfung des Königs gab ihm Gelegenheit zu zeigen, wie voll die Antwort seines Herzens war, während des Königs Rückkehr nach Jerusalem eine Anhänglichkeit seines Herzens offenbarte, die über die Gabe hinausreichte und erkennen liess, dass ihn die Person des königlichen Gebers über alles ging (2. Sam 19,24.30).

Wer sieht in diesem Bild nicht Gottes eigenen Wunsch, Güte zu erweisen und zu seiner Zeit in unermesslicher Liebe seine ewigen Ratschlüsse der Gnade gegenüber jenen zu erfüllen, die seine Feinde geworden waren: die armen und lahmen und verlorenen Söhne von Adams Geschlecht, die sich vor Gott in einem Land dauernder Hungersnot verborgen halten (Eph 1,3-14; 2,4-7)? Um solche zu sich zu ziehen, sandte Gott seinen Sohn als «Heiland der Welt», um «zu suchen und zu erretten, was verloren ist». Und nun empfangen alle, die nicht nur die frohe Kunde glauben, sondern auch zu Ihm kommen und sich mit Herz und Willen seinen Füssen unterwerfen, von Ihm selbst «Gnade um Gnade»: ewiges Leben, Vergebung, Versöhnung, Rechtfertigung, Heil und die Sohnschaft in Christus – in der Tat «jede geistliche Segnung in den himmlischen Örtern». Kein Gericht für begangene Sünden, kein Vorwurf, kein vorgeschriebenes Mass an Buße und Glauben! Vom Sünder wird nichts verlangt und von Gottes Seite ist nichts, was den Ausfluss seiner Gnade hindert, gegenüber allen, die zu den Füssen des Herrn Jesus niederfallen und sich bewusst sind, dass sie keine Verdienste haben. Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überreichlicher geworden; und der bis dahin Verlorene sitzt nun im besten Kleid am Tisch des Vaters.

«Durch Gnade seid ihr errettet.» Das Heil, da es Gottes Gabe ist, wird durch Glauben empfangen (Eph 2,5.8), «aus Glauben, damit es nach Gnade sei» (Röm 4,16). Jeder andere Grundsatz würde entweder der Gnade Abbruch tun oder die Gerechtigkeit herabsetzen. Mittels des Glaubens haben wir «Zugang zu dieser Gnade, in der wir stehen» (Röm 5,2).

In der Vergangenheit war der Thron Gottes für Sünder nicht auf diese Weise erreichbar und auch in der Zukunft wird es für sie nicht immer so bleiben. Nur weil Gott den zu seiner Rechten auf dem Thron hat, der Ihn auf der Erde hinsichtlich der Sünde so vollkommen verherrlichte, kann Er Sündern solch grenzenlose Gnade erweisen, und zwar in Gerechtigkeit. Seine Augen, zu rein, um Böses zu sehen, haben sich von den Sündern abgewendet, um mit Wonne auf Christus zu ruhen, und Er nimmt daher den Glaubenden auf in dem ganzen Wert der Person und des Werkes seines eigenen geliebten Sohnes. Es kann also keine höhere Segnung geben, die der Geist des Menschen fassen kann, als die, die jetzt im Christentum, im Evangelium der Gnade offenbart ist, dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes (1. Tim 1,11) und der Herrlichkeit des Christus (2. Kor 4,4), dem Evangelium unseres Heils (Eph 1,13).

Die Welt verwirft diesen Heiland und verachtet die grosse, durch Ihn bewirkte Errettung; und auch wir, die da glauben, haben Ihn noch so wenig erkannt. Wir lernen jetzt, für Ihn zu leiden, in dem Mass wie unser Herz Ihm hingegeben ist; doch freuen wir uns zu wissen, dass, wenn Er wiederkehrt, um die Welt in Gerechtigkeit zu richten und zu regieren, wir mit Ihm in Herrlichkeit offenbar und Ihm für immerdar gleich sein werden.