Das letzte Mal beschäftigten wir uns mit der wichtigen Tatsache, dass der Heilige Geist, nachdem Er nun herabgekommen ist, in den Gläubigen wohnt und dass also unser Leib «der Tempel des Heiligen Geistes» ist. Wir kamen auch auf einige praktische Auswirkungen zu reden, die daraus hervorkommen.
Voll Heiligen Geistes
Nun wollen wir noch einige Augenblicke bei diesem Punkt stehen bleiben. Gewiss hat jeder von uns schon für sich selbst die Frage zu beantworten gesucht: Wenn mein Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, weshalb zeigt sich denn in meinem Leben so wenig die alles überwindende Kraft des Geistes Gottes und so wenig von dessen herrlicher Frucht, die in «Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit» besteht? (Gal 5,22.23).
Viele suchen die Ursachen dieses Mangels am falschen Ort. Sie vergessen, dass der Heilige Geist auf immer als selbständige, göttliche Person in uns wohnt und meinen, sie müssten noch eine besondere «Ausgiessung» dieser wunderbaren Kraft erflehen oder nach der «Taufe mit Heiligem Geist» und ähnlichen Dingen streben. Sie meinen, von Gottes Seite her fehle es ihnen an der «Fülle des Geistes» und scheinen völlig zu übersehen, dass allein der Gläubige dafür verantwortlich ist, wenn sich der Geist nicht so offenbaren kann, wie Er es tun will.
Das wird uns deutlich, wenn wir die unterschiedlichen Erfahrungen Israels in Jericho und in Ai betrachten:
Das Volk war von Gilgal her, wo es beschnitten worden war (Josua 6) – ein Bild vom «Ausziehen des Leibes des Fleisches in der Beschneidung des Christus» (Kol 2,11) – nach Jericho gezogen. Nichts hinderte den HERRN, seinen Gott, der in ihrer Mitte wohnte, zugunsten Israels seine ganze Macht einzusetzen. Die Kriegsleute hatten nur die Anweisungen Gottes zu befolgen und die Stadt sieben Tage lang – vor der Bundeslade hermarschierend – zu umziehen. Die Priester mussten am siebten Tage in die Posaunen stossen, das Volk ein grosses Geschrei erheben und schon stürzte die starke und hohe Mauer ein. Es blieb ihnen nur noch übrig, in die Stadt hineinzusteigen und sie einzunehmen. Gott selbst hatte in seiner Allmacht Jericho überwunden und für Israel einen völligen Sieg herbeigeführt.
Vor Ai lagen die Dinge wesentlich anders. Nicht Gott hatte ihnen den Auftrag gegeben, hinaufzuziehen. Sie kamen nicht von Gilgal her. Der durch Gott bewirkte Sieg über Jericho war ihnen in den Kopf gestiegen: Sie meinten mit einem kleinen Heer, sozusagen im Handumdrehen die Stadt erobern zu können. Vor allem aber war ein Bann in ihrer Mitte und dadurch wurde ganz Israel selber zum Bann. Das alles hatte zur Folge, dass sie vor ihren Feinden nicht mehr bestehen konnten; denn so war es Gott unmöglich, mit ihnen zu sein, wenn Er auch in ihrer Mitte wohnte als der, für den es kein Hindernis gibt, «durch viele zu retten oder durch wenige». Das Heer der Israeliten wurde vor den ausbrechenden Bewohnern von Ai schmählich in die Flucht geschlagen und das Herz des Volkes zerschmolz und wurde wie Wasser (Josua 7).
Erstaunlich aber war die Reaktion Josuas auf diese Niederlage. Dass er seine Kleider zerriss, vor der Lade niederfiel und in Gebet und Flehen das Angesicht des HERRN suchte, war gewiss das einzig Richtige. Aber sein Gebet glich mehr einer Anklage gegen Gott als einem Bekenntnis der eigenen Fehler: «Warum hast du denn dieses Volk über den Jordan ziehen lassen, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, uns zugrunde zu richten?» – Bestimmt konnte Josua nicht zur Last gelegt werden, dass er vom Vergehen Achans nichts wusste; dieser hatte ja seine «Schandtat in Israel» im Geheimen getan, und nur Gott, der im Verborgenen sieht, wusste davon. Aber Josua hätte nicht an der Bereitschaft Gottes, seinem Volk in der Besitznahme des Landes zu helfen, zweifeln dürfen. Er hätte bitten müssen: «Herr zeige uns, worin wir gefehlt und die Wirksamkeit deiner Allmacht gehindert haben.»
Wie gesagt, diese Erfahrungen Israels sind auch eine Antwort auf unsere Frage. Wenn Gott, der Heilige Geist, der in uns wohnt, in seiner mächtigen und gesegneten Tätigkeit im Gläubigen gehindert wird, wenn er also nicht «voll Heiligen Geistes» ist, so hat er alle Ursache, sich vor Gott niederzubeugen und Ihn zu bitten, Er möge ihm zeigen, wo in seinem eigenen Leben der Fehler liegt. Bei Israel war es, in dem angeführten Beispiel, Unabhängigkeit von Gott und die Wirksamkeit des Fleisches, das sich in Überhebung und in der «Begierde nach den übrigen Dingen» zeigte. Sind dies nicht auch die Ursachen, die in uns «den Heiligen Geist betrüben» (Eph 4,30), so dass Er nicht im vollen Mass wirken kann und wir daher nicht «voll Heiligen Geistes» sind?
Was wir nötig haben, ist also nicht eine Ankurbelung des geistlichen Lebens von aussen her, durch irgendeine organisierte Bewegung oder irgendwelchen menschlichen Einfluss. Wenn wir «im Geist wandeln» und die Barrikaden, die wir Ihm in den Weg gelegt haben, beiseite räumen, wird Er von selbst seine Kraft in uns entfalten, uns zu den für uns vorbereiteten Werken leiten und seine gesegnete Frucht in uns hervorbringen (Eph 2,10).
«Voll Heiligen Geistes sein» ist nicht ein Zustand, der sich jeglicher Kontrolle seitens unseres geistlichen Verständnisses entzieht. Es ist nicht so, dass der Geist Gottes den Gläubigen wie ein passives Werkzeug handhabt, ohne dass dessen Herz und Geist an seiner Wirksamkeit aktiv beteiligt ist. Im Gegenteil, der Apostel Paulus schreibt den Heiligen in Kolossä: «Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tag an, da wir es gehört haben, für euch zu beten und zu bitten, damit ihr erfüllt sein mögt mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk Frucht bringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes» (Kol 1,9.10). Und wie gelangen wir zu dieser Erkenntnis des Willens Gottes in aller Weisheit und geistlichem Verständnis? Durch das Wort Gottes, das durch den Heiligen Geist niedergeschrieben worden ist. «Dein Wort ist Leuchte meinem Fuss und Licht für meinen Pfad» (Ps 119,105). Das ist der Pfad, auf dem der Heilige Geist den Gläubigen führen und erfüllen will.
Jesus Christus hat uns als Mensch auf der Erde hierin das vollkommene Beispiel gegeben. Er war vom Heiligen Geist gezeugt (Mt 1,20); Er war auf Ihm und führte Ihn (Mt 3,16). Als aber der Teufel Ihn versuchte und Ihn von seinem Weg des Gehorsams und der Abhängigkeit von Gott abbringen wollte (Mt 4,1), antwortete Er dem Versucher nicht: «Der Geist sagt mir etwas anderes», oder: «Der Geist leitet mich nicht in dieser Weise». Vielmehr antwortete Er ihm: «Es steht geschrieben: ‹Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht›» (Mt 4,4).
In der Tat, wozu hätte uns Gott sein Wort mit seinen Offenbarungen, Belehrungen, Ermahnungen und Kundgebungen des Willens Gottes gegeben, wenn uns durch die Innewohnung des Heiligen Geistes dies alles direkt mitgeteilt würde? Anderseits aber würde das blosse Festhalten an biblischen Lehren zu einem leblosen Christentum führen, wenn wir dem Geist Gottes nicht die Möglichkeit gäben, sie auf Herz und Gewissen anzuwenden und sie so in Leben umzuwandeln.
«Berauscht euch nicht mit Wein, in dem Ausschweifung ist», wird uns gesagt. Wir sollen alles meiden, was das Fleisch enthemmen und in Tätigkeit bringen könnte. «Sondern werdet mit dem Geist erfüllt.» Wie offenbart sich dies? «Redend zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern, singend und spielend dem Herrn in eurem Herzen, danksagend allezeit für alles dem Gott und Vater im Namen unseres Herrn Jesus Christus, einander untergeordnet in der Furcht Christi» (Eph 5,18-21).
Dem Ausdruck «erfüllt mit Heiligem Geist» begegnen wir in der Schrift öfters. Er steht meist in Verbindung mit einem vorübergehenden oder auch andauernden Dienst für Gott, der in seiner Kraft getan wird. «Voll Heiligen Geistes» dagegen deutet mehr auf einen Zustand hin, der beim Herrn Jesus hier auf der Erde ununterbrochen vorhanden war (Lk 4,1), aber auch bei den Seinen anhalten kann. Und wenn einem Stephanus oder einem Barnabas dieses Zeugnis gegeben werden konnte, dürfen und sollen dann nicht auch wir von ganzem Herzen nach diesem glückseligen Zustand streben? Der Geist selbst ist es ja, der uns dazu führen will!