Das Evangelium der Freude

So hat man schon das Evangelium nach Lukas genannt, obwohl darin auch schmerzliche Umstände beschrieben sind. Es ist vorwiegend das menschliche Evangelium, das Evangelium des Sohnes des Menschen, der als ein Mensch wie wir, ausgenommen die Sünde, an allem teilnimmt, was die Menschen plagt, und allen ihren Bedürfnissen begegnet. Der, den «der Geist des Herrn gesalbt hat», verkündet «Armen gute Botschaft» und den Weinenden sagt Er: «Ihr werdet lachen.» Jesus war unter den Menschen im Tränental der Brunnquell der Freude. So schreibt der Apostel den Philippern: «Freut euch im Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freut euch!» (Phil 4,4).

Es ist gewiss nicht ohne Bedeutung, dass der inspirierte Schreiber dieses Lukas-Evangeliums Begleiter des Apostels Paulus war auf dessen Reisen und bei dessen Arbeit. Er weilte Tag für Tag bei ihm und war Zeuge der verschiedenerlei Drangsale, durch die der Herr seinen Knecht hindurchgehen liess, um ihn zu lehren, in allen Umständen, in denen er sich befand, in Ihm volle Genüge zu haben (Phil 4,11). Er verharrte bei ihm in der Gefangenschaft (Kol 4,14), und an ihrem Ende kann Paulus, von allen verlassen, ihm das Zeugnis geben: «Lukas ist allein bei mir» (2. Tim 4,11). Lukas wusste, weil er es gesehen hatte, besser als jeder andere, wie sich ein Christ jederzeit im Herrn freuen kann, sowohl inmitten eines Schiffbruchs als auch in der Tiefe des Kerkers. Und wenn der Heilige Geist sich seiner bedient hatte, um ein Evangelium zu schreiben, wie sollten wir dann erstaunt sein, darin auch etwas von dem zu finden, was Paulus gepredigt und persönlich erfahren hat?

Im Bericht des Lukas fehlen die traurigen Gegenstände nicht. Das körperliche und sittliche Elend, das mit unserem sündigen Zustand verbunden ist, wird darin besonders hervorgehoben. Scharen von Kranken und Gebrechlichen begegnen sich da wie in den anderen Evangelien, aber er weiss oft in seiner eigenen Weise davon zu reden, so dass die Schmerzen oder die Verzweiflung in menschlichen Leiden hervorgehoben werden. Die Frau, die seit zwölf Jahren mit einem Blutfluss behaftet war, hatte ihren ganzen Lebensunterhalt an die Ärzte verwandt, ohne durch irgend einen geheilt worden zu sein. Der junge Besessene war der eingeborene Sohn eines schwer geprüften Vaters. Auch die Tochter des Jairus war dessen einziges Kind, und der Tote, den man aus Nain heraustrug, der eingeborene Sohn einer Witwe. Der kranke Knecht des Hauptmanns war seinem Herrn «wert».

Lukas allein beschreibt auch die Menge der Frauen, die Ihm auf dem Weg zum Kreuz folgten, indem sie wehklagten und Ihn bejammerten, weil sie alle Hoffnung verloren hatten. Und Jesus selbst ist «der Arme» und wird als solcher in Lukas mehr hervorgehoben als in den anderen Evangelien (Lk 8,3; 9,58). Auch ist es Lukas allein, der Ihn zeigt, wie Er über Jerusalem weint. Und in welcher Weise, mit welchen Zügen, die sich anderswo nicht finden, werden die schrecklichen Auswirkungen des ringenden Kampfes auf seinen Leib beschrieben – sein Schweiss wurde wie grosse Blutstropfen – den Er in Gethsemane ausfocht!

Anderseits kann man feststellen, wie die Menschen in den Gleichnissen dieses Evangeliums versuchen, sich dadurch gegen den Kummer zu schützen, dass sie Güter zusammenraffen und das Leben geniessen, indem sie andere übervorteilen; aber das alles führt nur zu dem Ergebnis, dass ihr Ende dadurch noch schrecklicher wird.

Gibt es hier auf der Erde also nur Leiden und Tränen?

Nein, gewiss nicht. «Siehe ich verkündige euch grosse Freude.» Das ist das neue, vom Himmel gebrachte Thema. Diese wunderbare Botschaft der Engel erfüllt das ganze Evangelium von Lukas und gibt ihm sein ganz besonderes Gepräge. Die Welt will diese gute Botschaft nicht annehmen, die Menschen aber, die im Glauben zu Jesus kommen, haben Teil an der Freude, die die Engel jauchzen machte.

Tatsächlich kommt in diesem Buch der Ausdruck «Freude», «sich freuen» oder «frohlocken» etwa zwanzigmal vor, und mehr als einmal wird von «grosser Freude» gesprochen.

Die Geburt des Vorläufers Johannes wird, so sagt der Engel zu Zacharias, «dir zur Freude und zum Jubel sein, und viele werden sich über seine Geburt freuen» (Lk 1,14). Noch im Leib seiner Mutter hüpfte Johannes vor Freude, als diese die Mutter seines Herrn begrüsste (Vers 44), während der Geist Marias frohlockte (Vers 47). Die «grosse Freude», die bei der Geburt Jesu verkündigt wurde, bringt die Hirten in Bewegung und richtete Simeon und Hanna auf und alle, die in Jerusalem auf Erlösung warteten. Gewiss, zu Maria wird gesagt: «Deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen» (Lk 2,35); gewiss, Jesus kündete seinen Jüngern an, dass die Menschen sie hassen und absondern und ihren Namen als böse verwerfen würden, aber bei diesem allem sagte Er ihnen: «Freut euch an jenem Tag und hüpft vor Freude» (Lk 6,23). «Glückselig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen» (Lk 6,21). Es war ihnen eine tiefe und sichere Freude geschenkt, die des grossen Lohnes im Himmel, und schon jetzt lebten sie in der Freude der Gunst Gottes. Die vielen Trübsale, die den Eingang in das Reich Gottes begleiten (Apg 14,22), sind ganz verschieden von der oberflächlichen und flüchtigen Freude, die durch die Verkündigung des Wortes in leichtfertigen Herzen hervorgerufen werden kann (Lk 8,13). Selbst die Freude eines tätigen Dienstes kann enttäuschend sein (Lk 10,17), aber welche Freude hat der, der seinen Namen in den Himmeln angeschrieben weiss (Vers 20)! Jesus selbst frohlockte in derselben Stunde im Geist und pries den Vater, dass Er dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart habe (Vers 21). In den Gleichnissen von Lukas 15 wird in unvergleichlicher Weise gezeigt, dass es die Freude des Himmels selbst, die Freude Gottes und seines Hauses ist. Die Freude des geretteten Sünders ist ihr Echo auf der Erde. Sie ist auch die Freude des Zachäus, der Ihn und mit Ihm das Heil in das Haus aufnahm, denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist (Lk 19,10), wogegen der, der seine irdischen Güter Jesus vorgezogen hatte, «sehr betrübt» von dort weg ging (Lk 18,23). Etwas später wurde die Menge der Jünger von Freude erfüllt, als Jesus in Jerusalem eintraf (Lk 19,37).

Welche Freude war es schliesslich, als das Werk des Kreuzes vollbracht war und die Auferstehung alle Schatten verscheucht hatte! «Vor Freude» wagten die Jünger kaum zu glauben, dass sie den Herrn sahen (Lk 24,41). Er aber nahm ihnen jeden Zweifel weg und belehrte sie, so dass, als der Augenblick kam, in dem Er sie verliess, um in den Himmel erhoben zu werden, sie «mit grosser Freude» nach Jerusalem zurückkehrten, um «allezeit im Tempel» zu sein, «und lobten und priesen Gott» (Lk 24,52.53).

«Freut euch im Herrn allezeit.» Zweifellos werden wir uns in der Herrlichkeit einst mit Ihm freuen. Schon jetzt aber dürfen wir uns in Ihm freuen, weil Er hier auf der Erde gewesen und jetzt im Himmel ist, und weil Er wiederkommen wird. Es ist Freude im Himmel und nun auch Freude auf der Erde. Die Freude des Himmels ist in das Herz derer geschrieben, die noch auf der Erde sind, wo sogar die Trübsale, die nicht ausbleiben, zu einem Gegenstand der Freude werden (Jak 1,2). «Als Traurige, aber allezeit uns freuend», sagt der Apostel von sich selbst und seinen Nachahmern (2. Kor 6,10). Als solchen hat ihn Lukas, sein geliebter Gefährte, der Evangelist der Freude, sehen können.