Die Heilung des Blindgeborenen

Johannes 9

Der Dienst des Herrn Jesus in dieser Welt vollzog sich in seinen Worten und in seinen Werken. Die göttliche Herrlichkeit offenbarte sich in diesem doppelten Charakter, wurde aber von seinem Volk vollständig verworfen. In Johannes 8 wird immer wieder hervorgehoben, dass Jesus gesprochen hat; seine Worte waren Worte von Gott, die die Menschen verwarfen, weil sie die Finsternis mehr geliebt haben als das Licht. In Kapitel 9 nun werden seine Werke offenbart und verworfen, was den Bruch der Beziehungen des Herrn mit seinem Volk herbeiführt.

Die Offenbarung seiner göttlichen Herrlichkeit (Joh 8,58) rief den Hass der religiösen Juden hervor und zwang den Herrn, sich ganz aus ihrer Mitte zurückzuziehen. «Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel hinaus» (Joh 9,1). Aber Er setzt gleichwohl seinen Dienst der Liebe fort und erweckt im Blindgeborenen, den Er heilt, einen mächtigen Zeugen der Gnade unter denen, die Er soeben verlassen hat.

So ist es auch heute. Der Herr hat als Folge seiner am Kreuz vollendeten Verwerfung diese Welt endgültig verlassen. Er ist zum Vater gegangen und in seine Herrlichkeit zurückgekehrt, die Er verlassen hatte, um hier auf der Erde sein Werk der Gnade zu erfüllen. Er ist jetzt in Gott verborgen (Kol 3,3), aber Er wirkt nichtsdestoweniger durch sein Wort und durch seinen Geist in den Herzen einer grossen Zahl von Menschen, um sie aus der Finsternis zum Licht zu führen und aus ihnen Zeugen seiner Gnade und seiner Macht zu machen, während Er fern ist von diesem Schauplatz.

In Johannes 9 finden wir gegen den geheilten Blindgeborenen denselben Ausbruch des Hasses seitens der ungläubigen Juden, wie der, der sich im Kapitel 8 gegen den Herrn selbst entfesselte. Das treue Zeugnis dieses Menschen kam von Gott und hatte denselben Charakter wie das seines Meisters. Daher begegnet er demselben gottfeindlichen Widerstand der Welt. So ist es auch während der ganzen Zeit der Abwesenheit des Herrn; bis zu seiner Offenbarung in Herrlichkeit und Macht werden seine Zeugen dem Hass der Menschen begegnen: «Alle aber auch, die gottselig leben wollen in Christus Jesus, werden verfolgt werden» (2. Tim 3,12).

«Als er vorüberging» (Joh 9,1), richtete Jesus seinen Blick auf diesen elenden, blinden und bettelnden Menschen, in der Absicht, ihn zu segnen. Er will aus ihm einen Zeugen seiner Gnade und seiner Macht machen. Es ist das Vorrecht und die Herrlichkeit Gottes, geringe Wesen zu nehmen, um aus ihnen Gefässe der Barmherzigkeit zu machen, die Er für die Herrlichkeit zubereitet. «Er hebt aus dem Staub empor den Geringen, aus dem Kot erhöht er den Armen, um sie sitzen zu lassen bei den Edlen; und den Thron der Ehre gibt er ihnen als Erbteil» (1. Sam 2,8). So wurden die Samariterin (Johannes 4), die Sünderin, die zu den Füssen des Herrn weinte (Lukas 7) und so viele andere zu Siegeszeichen seiner Erlöserliebe, um auf immerdar seine Herrlichkeit zu preisen. Diese Gedanken und diese Wege der Gnade sind für die Selbstgerechtigkeit und den Hochmut des Menschen unverständlich: er liebt, was gross ist und weigert sich, an der Festtafel Platz zu nehmen, die für die Armen und Verachteten, «die Lahmen und die Blinden» (Lk 14,13) bereitet ist.

Wie überaus traurig ist der Zustand dieses blinden und bettelnden Menschen! Die Frage der Jünger (Vers 2) bezieht sich auf die Regierungswege Gottes in Israel, aber der Herr korrigiert ihre Gedanken. Der Blindgeborene wird jetzt ein Gegenstand der Gnade und der Macht Gottes werden. Der Herr wird an ihm «die Werke Gottes» offenbaren (Vers 3), an denen Er seine Wonne findet, Werke der Gnade und der Macht, in denen der Name des Vaters offenbart wird: «Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke» (Joh 5,17). Der Name des Vaters macht die ganze Liebe Gottes für den Menschen kund, eine Liebe, wovon die Sendung des Sohnes der vollkommene Ausdruck ist.

Der Herr gibt uns in der Art und Weise, wie Er dieses Wunder vollbringt, eine tiefe Belehrung bezüglich des sittlichen Zustands der Menschen, in deren Mitte Er gekommen war, um seinen Dienst auszuüben. Der Brei, den Er auf die Augen des Blinden streicht (Vers 6), redet davon, wie Ihn sein eigenes Volk, entsprechend der Erniedrigung, in die Er herabgestiegen ist, so gering einschätzt. Um zur Erfüllung der Ratschlüsse Gottes der Diener des Menschen zu werden, ist Er Mensch, ja sogar Knecht geworden. Der Speichel ist das Bild der Kraft, die in Ihm war, um in Verbindung mit der Menschheit, die Er angenommen hat, zu segnen (Mk 7,33; 8,23). Dieser Brei, auf die Augen des Blinden gestrichen, erhöhte dessen Blindheit: deutliches Bild des sittlichen Zustandes der Juden, deren Unglaube hinsichtlich der Person ihres Messias sie doppelt blind machte. Seine Menschheit, in der Er sich ihnen in tiefer Niedrigkeit offenbarte, liess ihren Hochmut und ihren Hass gegen Gott hervortreten und erhöhte ihre Finsternis. Er war für sie ein Anlass zum Fall, der verworfene Stein, über den sie strauchelten; sie stiessen sich an dem Wort und verwarfen es (1. Pet 2,8).

Der Herr sendet den Blinden zum Teich Siloam, «was übersetzt wird: Gesandt» (Vers 7). Das Wasser des Teiches, in dem er sich waschen soll, ist das Bild des Wortes in seiner Anwendung auf die Seele, in der Kraft des Heiligen Geistes. Es befreit uns von den ungläubigen Gedanken der Menschen bezüglich der Person Christi und lässt uns in Ihm den Gesandten des Vaters erkennen, den geliebten Sohn, der in Gnade gekommen ist, um jedem, der an Ihn glaubt, ewiges Leben zu geben (Joh 6,40). Auf diese Weise öffnen sich die Augen und empfängt die Seele in dieser herrlichen Person die Antwort auf alle ihre Bedürfnisse. Beim Blinden findet sich sowohl Glauben als auch Glaubensgehorsam: «Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder» (Vers 7). Auch heute bildet derselbe Grundsatz die Grundlage der Segnung für jeden Sünder. An den Sohn Gottes glauben heisst, Ihn in seiner göttlichen Herrlichkeit und seiner Erniedrigung erkennen; es gilt zu glauben, dass Er im Fleisch gekommen ist, um Sünder zu erretten; Er ist vom Vater gekommen, um hier auf der Erde sein Werk der Gnade zu vollbringen.

Der Blindgeborene wird nun ein Zeuge für den Herrn, den er zwar noch nicht in der ganzen Herrlichkeit seiner Person erkennt. Sein Zeugnis gegenüber denen, die der Herr soeben verlassen hat und die Jesus verwerfen, ruft sofort den Widerspruch des Menschenherzens hervor, das das Licht hasst, weil seine Werke böse sind (Joh 3,19).

Der Herr will während seiner Abwesenheit Zeugen haben: Zählen wir zu ihnen? Bei diesem Menschen kann man sofort einen so deutlichen und wunderbaren Wechsel feststellen, dass die, die ihn früher kannten, nicht glauben konnten, dass es derselbe Mensch sei. Man muss beim Gläubigen nach seiner Bekehrung eine ebenso gründliche sittliche Umwandlung feststellen können, wie es der Wechsel war, der bei dem Blinden durch die Heilung seiner Blindheit herbeigeführt wurde. Kann man dies heute bei uns wahrnehmen? Bei den Gläubigen in Thessalonich gab selbst die Welt von den Früchten des Werkes Gottes Zeugnis (1. Thes 1).

Bei dem Geheilten ist ein auffallender Fortschritt zu sehen. Das Licht nimmt in seiner Seele in dem Mass zu, wie er sein einfaches und treues Zeugnis ablegt. Zuerst sagt er: «Ein Mensch, genannt Jesus» (Vers 11). Gewiss eine wunderbare Tatsache: Der Herr der Herrlichkeit ist Mensch geworden, um den verlorenen Menschen zu retten und zu segnen. Dann nennt er Ihn: «Einen Propheten» (Vers 17); er ist der Träger des göttlichen Wortes. Schliesslich sagt er: Er ist «von Gott» (Vers 33). Das Licht strahlt immer heller in ihm, daher wird sein Zeugnis für die, die in der Finsternis wandeln, unerträglich: «Sie warfen ihn hinaus» (Vers 34). Verworfen, am Platz der Schmach, begegnet er dem, der selbst der Verachtete und Verworfene der Menschen war, aber der sich ihm in der ganzen Herrlichkeit seiner Person offenbaren kann: «Glaubst du an den Sohn Gottes?» (Vers 35), fragt Er ihn. Sobald Ihn der Geheilte in diesem Charakter erkennt, wirft er sich anbetend vor Ihm nieder. Als Sohn Gottes hat der Herr Anspruch auf Huldigung, auf Lob, auf Gehorsam und auf völlige Hingabe des Herzens der Seinen. Indem sich der Geheilte zu seinen Füssen niederwirft, macht er kund, wer diese herrliche Person ist. Er hat für sein Herz einen Anziehungspunkt gefunden, der ihn mit unaussprechlicher Freude erfüllt, einen Vorgeschmack ewiger Glückseligkeit, die das Teil der Heiligen sein wird, wenn sie sein Angesicht sehen. «Sie werden reichlich trinken von der Fettigkeit deines Hauses, und mit dem Strom deiner Wonnen wirst du sie tränken» (Ps 36,9).

Möchten wir doch in Erwartung dieses Tages der Herrlichkeit diesen Platz der Verwerfung einnehmen, zu dem Er uns beruft: «Lasst uns zu ihm hinausgehen, ausserhalb des Lagers, seine Schmach tragend» (Heb 13,13). Wenn wir diesen Wandel der Absonderung gegenüber einer Welt verwirklichen, die unseren Herrn und Heiland gekreuzigt hat, wird Er sich uns in der Herrlichkeit seiner Person offenbaren und wir werden in Ihm eine Fülle von Segen geniessen. Auch haben wir das Vorrecht, Ihm in der Hoffnung, Ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, Anbetung darzubringen. Lasst uns von Herzen in seine Fussstapfen treten und Ihm treu nachfolgen, bis Er kommt!